Von der Ketzerin zur Heiligen – Die Geschichte der Johanna von Orléans
Der gesamte Norden von Engländern besetzt, im Westen der mit König Henry V. verbündete mächtige Herzog von Burgund, das eigene Königreich um die Hälfte eingedampft: Für den französischen Thronfolger, den Dauphin Karl, sah es Anfang des 15. Jahrhunderts wirklich nicht gut aus. Das Land steckte mitten im Hundertjährigen Krieg, die Staatskassen waren leer, der Adel zerstritten und zu allem Überfluss hatten Karls Feinde im Herbst des Jahres 1428 einen Belagerungsring um Orléans gezogen. Wie ein Brückenkopf saß die alte Stadt am nördlichen Ufer der Loire. Gelang den Feinden der Sieg, marschierten Engländer und Burgunder nicht nur über die neunbogige Brücke, sondern quasi direkt in Karls provisorischen Thronsaal in Chinon. Fiele Orléans, fiele Frankreich.
Das Land brauchte dringend einen Retter – oder vielmehr eine Retterin. In der Tat kursierten im Volk verschiedene Prophezeiungen, die eine jungfräuliche Retterin im Moment größter Not ankündigten. Und im März des Jahres 1429 stand tatsächlich eine Bauerstochter aus dem lothringischen Domrémy vor den Türen von Karls Burg, in Männerkleidung und mit kurzen Haaren. Sie nannte sich "Jeanne la Pucelle", Johanna die Jungfrau, und behauptete, die Stimmen der heiligen Katharina, Margareta und des Erzengels Michael hätten ihr einen göttlichen Auftrag eingegeben.
Gottes Eingreifen in seine Welt – oder des Teufels Einflüsterungen
Heute versucht man das Hören von Stimmen meist mit psychischen Störungen zu erklären. Für die Menschen im Mittelalter war die Vorstellung jedoch ganz normal, dass Gott direkt oder durch Engel und Heilige in seine Schöpfung eingriff. Dafür sprachen ja unzählige Beispiele aus der Bibel. Das heißt aber nicht, dass Karl jeden mit offenen Armen empfangen hätte, der ihm schnelle Rettung versprach, im Gegenteil. Denn die Stimmen konnten schließlich auch Einflüsterungen des Teufels sein – oder schlicht Wahnsinn. Deshalb überlegte sich der Thronfolger eine List: Das Mädchen hatte ihn noch nie gesehen, weshalb er sich als einfacher Höfling verkleidete und einen anderen Adligen auf den Thron setzte. Doch das Mädchen fiel nicht vor dem falschen König nieder, sondern steuerte auf Karl zu. Vor ihm verbeugte sie sich mit den Worten: "Erlauchter Seigneur Dauphin, ich bin gekommen, von Gott geschickt, um Hilfe zu bringen – Euch und dem Königreich Frankreich." Sie wolle die Belagerung von Orléans aufheben und den Thronfolger zu seiner Krönung nach Reims bringen.
Zögernd willigte Karl ein. Er schickte Jeanne erst einmal nur mit einem kleinen Proviantzug nach Orléans. An ihrer Seite: erfahrene Offiziere, die das eigentliche Kommando innehatten. Doch das Mädchen hielt nichts davon, nur Galionsfigur zu sein. An den Ufern der Loire nahm sie den vorsichtigen Kämpen das Heft aus der Hand und führte ihre Entsatzmannschaft mutig über den Fluss und in die Stadt. Erzählungen von Jeanne und durch sie gewirkte Wunder waren längst in die Stadt eingesickert. So empfingen die kampfesmüden Verteidiger das Mädchen mit Begeisterung. Mit ihr an der Spitze schlugen sie die Gegner am 8. Mai 1429 in die Flucht. Für die Zeitgenossen war klar: Jeanne war für den Sieg verantwortlich. Ihr Sieg über die Feinde galt als Beweis für ihre Gottesgesandtschaft. Die Jungfrau von Orléans wurde vor den Mauern der Stadt zum Mythos. Dass die Engländer nach einem Streit mit den Burgundern und dem postwendenden Abzug der burgundischen Truppen im Frühjahr den Verteidigern zahlenmäßig unterlegen waren, dürfte aber auch eine Rolle gespielt haben.
Der Befreiung von Orléans folgten in rascher Folge sechs weitere militärische Erfolge. Ohne jegliche Kampferfahrung führte Jeanne, ihren Stimmen folgend, die Soldaten von Sieg zu Sieg. Am 17. Juli 1429 wurde Karl VII. in der alten Krönungskathedrale von Reims der französischen Herrscher zum König gesalbt – an seiner Seite ein Mädchen in Rüstung, die ihre Haare kurz trug wie ein Junge.
Doch die Stimmen drängten Jeanne auf die völlige Vertreibung der Engländer aus Frankreich. Mit ihrer Sturheit fiel sie daraufhin an Karls Hof in Ungnade. Nur widerwillig stellte der König ihr ein Truppenkontingent zur Eroberung von Paris zur Verfügung. Die Schar war mitnichten für eine Belagerung gerüstet und schon in einer der ersten Kampfhandlungen bei Compiègne geriet Jeanne in burgundische Gefangenschaft.
Die Jungfrau von Orléans wurde an die Engländer ausgeliefert, die sie so effektiv wie möglich loswerden wollten. Eine Verurteilung vor einem Militärgericht hätte das Mädchen zur Kämpferin aufgewertet, stattdessen drängten sie auf einen Inquisitionsprozess. Von einer Hexe auf den Thron befördert worden zu sein, hätte auch Karl VII. delegitimiert. Den Vorsitz übernahm Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais. Der Franzose war pro-englisch eingestellt, weil er auf die Unterstützung der Besatzer hoffte, um Erzbischof von Lyon zu werden. Nach außen hin wurde Jeanne also ein kirchlicher Prozess gemacht, in Wirklichkeit handelte es sich aber um ein politisches Verfahren.
Das Tragen von Männerkleidern – eine schwere Sünde
Der Prozess im von den Engländern kontrollierten Rouen dauert mehr als 20 Wochen und Jeanne musste an 28 Tagen aussagen. Das Mädchen, das weder Lesen und Schreiben konnte, noch ihr eigenes Geburtsdatum kannte, wurde von rhetorisch und theologisch weit überlegenen Klerikern teilweise über Stunden befragt. Die Prozessakten sind natürlich gefärbte Quellen, doch geht aus ihnen hervor, dass Jeanne mit Schlagfertigkeit, einigem rhetorischem Geschick, ja sogar mit Witz antwortete. Die Anklage der Hexerei musste fallengelassen werden. Stattdessen konzentrierten sich die Inquisitoren auf ihre Weigerung ihre Stimmen zu leugnen oder als teuflisch anzuerkennen sowie ihre häretische Aussage direkt und nicht durch die vermittelnde Kirche mit dem Höchsten in Kontakt gestanden zu haben. Außerdem galt den Richtern ihr Tragen von Männerkleidern als schwer sündhaft.
Jeanne war nicht bereit zu leugnen, und verteidigte sich mit dem Hinweis auf ihr Gewissen vor Gott. Das besiegelte ihr Schicksal. Noch während Bischof Cauchon das Urteil verlas, unterbrach ihn Jeanne mit dem Wunsch abzuschwören. Aus Todesangst unterschrieb sie eine kurze Formel in französischer Sprache und wurde zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt. Doch nur drei Tage später stand sie wieder vor Cauchon. Die Stimmen hätten ihr gesagt, ihr Widerruf sei falsch gewesen. Am 30. Mai 1431 wurde sie endgültig verurteilt und direkt im Anschluss auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihre Asche streute man in die Seine, damit ihre Gebeine nicht verehrt werden konnten.
Doch knapp 20 Jahre später versucht jemand, die Geschichte umzuformulieren: König Karl VII. 1435 war – gegen weitreichende Zugeständnisse – die Einigung mit dem Herzog von Burgund gelungen. Ohne ihren mächtigen Verbündeten, waren die Engländer dem erstarkten Monarchen nicht mehr gewachsen. 1449 wurden sie aus Rouen, wo die Prozessakten lagerten, vertrieben. Um den Makel der Hexerei von seinem Krönungsmantel abzuwaschen, ließ er den Prozess neu aufrollen.
Ein Urteil der Inquisition konnte man nicht einfach aufheben. Deshalb musste man technische Fehler im Verfahren suchen. Und die Rechtsgelehrten im Auftrag des Königs finden über 100. Dass Jeanne zum Zeitpunkt des Schuldspruchs noch minderjährig war, gab den entscheidenden Anstoß dafür, "dass besagter Prozess und seine Urteile befleckt von Arglist, falscher Beschuldigung, Unrecht, Lüge, ein öffentlich kundgetaner Rechtsirrtum, ebenso wie der besagte Widerruf und alle Vollziehungen und Folgen rechtlos und ungültig, null und nichtig waren, sind und sein werden. Was aber Johanna, deren Verteidiger und Verwandte betrifft, so haben sie bei Gelegenheit des Vorgenannten keinerlei Schimpf noch Makel auf sich geladen und sollen frei und ledig davon sein." Damit war Jeanne rehabilitiert.
Mögen die beiden Prozesse erste Versuche einer politischen Vereinnahmung Jeanne d'Arcs gewesen sein, die letzten waren sie sicherlich nicht. Zwar erfuhr sie lokale Verehrung, etwa in Orléans, und wurde von Shakespeare und Schiller besungen, doch ein Kult um die Jungfrau von Orléans entstand erst im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Jeanne bot die perfekte Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Gruppen, um ihre jeweiligen politischen Vorstellungen zu transportieren. Während sie katholischen Royalisten als Königstreue galt, zeichneten die Sozialisten sie als einfaches Mädchen aus dem Volk. Die nationalistischen Kräfte insbesondere innerhalb des Militärs glorifizierten sie dagegen als tapfere Verteidigerin Frankreichs. Die Jungfrau wurde zum nationalen Mythos, im ganzen Land wurde ihr zu Ehren Statuen aufgestellt.
Eine Heiligsprechung als Politikum
Genauso war schließlich auch Jeannes Heiligsprechung ein Politikum. Die Laizitätsgesetze von 1904 hatten nicht nur einen tiefen Graben zwischen Kirche und Staat in Frankreich gerissen, sondern auch zwischen Katholiken und der restlichen Gesellschaft. Jeanne d'Arc sollte diesen nun mit einer Verbindung aus nationaler Verehrung als Heldin und kirchlicher Verehrung als Heilige überbrücken. 1909 wurde sie seliggesprochen, doch ihre Kanonisation stellte die vatikanischen Juristen vor Herausforderungen: Denn 500 Jahre zuvor war Jeanne von einem kirchlichen Gericht verurteilt worden – das konnte Rehabilitierung zum Trotz nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Außerdem hatte sie im Rahmen des Prozesses ihren Überzeugungen und den Stimmen abgeschworen. Und nach den Kanonisierungsvorschriften muss ein heiliger standfest in seinem Glauben sein – auch in Ausnahmesituationen. Man rettete sich damit, dass die Abschwörungsformel nicht kanonischem Recht entsprochen hätte.
Nach jahrelangen Untersuchungen und Unterbrechungen aufgrund des Ersten Weltkriegs wurden die beiden nötigen Wunder im März 1919 offiziell anerkannt und Benedikt XV. legte als Termin ihrer Heiligsprechung auf den 16. Mai 1920 fest. Der Tag wurde in Rom mit großem Pomp gefeiert: 100.000 Pilger aus Frankreich waren angereist, französischer Klerus und Gesandte der Regierung waren anwesend. Diese Heiligsprechung sollte nicht nur die Heilige und die Ortskirche, sondern ein ganzes Land ehren.
Bis heute ist die Verehrung von Jeanne d'Arc in Frankreich eine vielschichtige und vielgestalte Angelegenheit. Am 1. Mai – als Kontrastprogramm zu den Paraden der Linken – legt der rechtsextreme Front National einen Kranz an der Jeanne-d'Arc-Statue auf dem Place des Pyramides in Paris ab. Der Rest des politischen Paris sowie das Militär begehen den zweiten Sonntag im Mai als Nationalfeiertag zu Ehren Jeannes. Ihren Gedenktag am 30. Mai feiert die Kirche in ganz Frankreich. In Orléans findet alljährlich eine Prozession zu ehren der Heiligen statt, an deren Spitze ein Mädchen in Rüstung reitet. Dieses Fest geht noch auf mittelalterliche Wurzeln zurück. Hier, wo der Mythos seinen Anfang nahm, wird Jeanne d'Arc von Kindern und Jugendlichen als etwas gefeiert, was sie bei allen Legenden auf jeden Fall war: ein außergewöhnlich mutiges Mädchen.