Analyse zur Jahresstatistik der Deutschen Bischofskonferenz

Kirchliche Statistik 2019: Der große Schock – und keine Hoffnung mehr?

Veröffentlicht am 26.06.2020 um 16:19 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Noch nie haben so viele Menschen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt wie in 2019. Konnten in den Jahren zuvor immer neue Kirchenaustritts-Rekorde oft noch kaschiert werden, so setzt nun auch bei den kirchlichen Verantwortlichen Ernüchterung ein. Gibt es noch Hoffnung für die Kirche? Eine Analyse.

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Acht Ständige Diakone gab es 2019 mehr als im Vorjahr. Das ist die einzige Zahl der aktuellen kirchlichen Statistik, die sich positiv entwickelt hat. Konnte man in den Vorjahren noch immer wieder kleine Lichtblicke in den Zahlen finden – hier ein paar Taufen oder Trauungen mehr, dort ein Rückgang der Austritte (wenn auch nach Rekordzahlen) –, ist die kirchliche Statistik nun durchweg in den roten Zahlen. Selbst der Rückgang der Bestattungen dürfte nicht nur auf eine gestiegene Lebenserwartung der Gläubigen oder demographische Verschiebungen zurückzuführen sein, sondern auch auf eine selbst in den letzten Dingen abnehmende Relevanz der Kirche für ihre Mitglieder. 400.000 Katholiken gibt es in Deutschland weniger, davon über 270.000 durch Austritt. Der Rekord aus dem Tebartz-Jahr 2014 wurde getoppt, nachdem schon 2018 die zweithöchste jemals verzeichnete Zahl an Austritten vorlag. Zum zweiten Mal in Folge liegt die Zahl der Taufen unter der Zahl der Austritte – lange suggerierte man sich mit diesem Vergleich immerhin eine positive Nettobilanz.

Anders als in den Vorjahren meldet sich in der Pressemeldung der Bischofskonferenz nicht der Sekretär, sondern der Vorsitzende selbst zu Wort. Die ersten Zahlen in der Amtszeit des Limburger Bischofs Georg Bätzing an der Spitze der DBK sind nichts, was sich schönreden ließe, das sagt er selbst. Sein Rezept: den Reformweg weiter beschreiten, sich im Synodalen Weg der Realität stellen.

Der Skandal als Grundrauschen

Für viele der kleineren Ausschläge und großen Statistik-Schocks der vergangenen Jahre gibt es naheliegende Erklärungen: das Offenbarwerden des Ausmaßes des Missbrauchs 2010. Der Skandal um den Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst 2013 und 2014. Das geänderte Einzugsverfahren der Kirchensteuer auf die Kapitalertragssteuer 2015. Die 2018 mit Verspätung erschienene MHG-Studie zum Missbrauch in der Kirche.

Die Badewanne im Bischofshaus in Limburg
Bild: ©Bistum Limburg (Archivbild)

Symbol der Krise: Viele Mythen ranken sich um das Bischofshaus in Limburg. Ein Blick ins Bad zeigt: Die Badewanne ist zwar hochwertig, aber nicht aus Gold.

Das Trommelfeuer an negativen Nachrichten reicht aber nicht aus, um den Rückgang zu erklären. Der Skandal scheint sich zu einem Grundrauschen verstetigt zu haben. Zeitgleich mit der DBK veröffentlichte auch die evangelische Kirche ihre Zahlen. Auch ihr haben 270.000 Menschen den Rücken gekehrt, ohne einen Tebartz, ohne so offensichtliche Missbrauchsskandale.

Zu allgemein ist der Trend, zu stark hat sich die immer weiter abnehmende Zahl der Kirchenmitglieder in den letzten Jahren verfestigt, als dass man noch auf einzelne Effekte verweisen könnte. Liest man die zusammen mit den Zahlen jedes Jahr veröffentlichten Statements, zeigt sich neben der statistisch deutlich werdenden Erosion volkskirchlicher Strukturen und Selbstverständlichkeiten immerhin auch eine Ernüchterung in den Statements der Verantwortlichen.

Offizielle Einschätzungen immer nüchterner

Im Jahr der bis zur aktuellen Statistik höchsten Austrittszahlen 2014 begann Kardinal Reinhard Marx seinen Kommentar noch mit den Worten: "Die heute veröffentlichte Statistik zeigt, dass Kirche vielgestaltig ist und eine missionarische Kraft hat, auch wenn uns die hohe Zahl von Kirchenaustritten schmerzlich bewusst macht, dass wir Menschen mit unserer Botschaft nicht erreichen." Auch 2015 zeigte für ihn die Statistik, "dass die Kirche in Deutschland nach wie vor eine starke Kraft ist, deren Botschaft gehört und angenommen wird", die Zahl der Trauungen und Taufen war leicht gestiegen, die Austritte gesunken. 2016, das zweite Jahr in Folge mit einem Plus bei den Taufen, sagte Sekretär Hans Langendörfer: "Es gibt nicht nur Interesse an der Kirche, es gibt den lebendigen Wunsch, in dieser Kirche verankert zu sein." Sein Statement leitete er mit den Worten ein, dass fast ein Drittel der Deutschen katholisch sei. Ein Jahr später, 2017: "Wir sind dankbar, dass rund 28 Prozent der Bevölkerung in unserem Land zur katholischen Kirche gehören." 2018 schlägt der Schock zu. "Die aktuelle Statistik ist besorgniserregend. An den Zahlen ist nichts zu beschönigen, sie bestätigen einen Trend, der schon in den vergangenen Jahren prägend für die Kirche war", wird Langendörfer zitiert. Auch Bätzing möchte in der aktuellen Statistik nichts mehr schönreden.

Bild: ©Björn Odendahl/katholisch.de (Archivbild)

Für Kardinal Marx (M.) und DBK-Sekretär Langendörfer (l.) galt in ihren Kommentierungen der Kirchenstatistik lange das Prinzip Hoffnung.

Ebenfalls ins Jahr 2019 fällt eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg. Schwarz auf weiß (mehr schwarz) hatten die Kirchen ihre Zukunft aufgemalt bekommen: Bis 2060 werde die Zahl der Kirchenmitglieder auf die Hälfte sinken: 22,7 statt 44,8 Millionen Christen in Deutschland. Die Momentaufnahme der Statistik blendet dagegen die Demographie aus. Würde sie nach Alter aufschlüsseln, wären die offiziellen Kommentare wohl schon länger viel düsterer ausgefallen.

Nicht einmal die Kirchensteuern können noch Hoffnung verheißen

Was in der aktuellen Statistik einigermaßen konstant geblieben ist, ist die Zahl des pastoralen Personals, nur die Priester sterben weg. Die bis zur Corona-Pandemie dank guter Konjunktur auf längere Sicht stabilen finanziellen Möglichkeiten, den Personalbestand bei einer Mitgliederzahl im freien Fall weitgehend zu halten, mögen zu den teilweise erstaunlich rosigen Bewertungen der vergangenen Jahre beigetragen haben. Das geht jetzt nicht mehr – ein doppelter Schock hat eingeschlagen. Erst die Freiburger Studie, die auch ein Ende der im Vergleich zur Mitgliederzahl überproportionalen Einnahmen errechnet hat. Dann die Pandemie, die die finanziellen Probleme aus der mittelfristigen Zukunft ins Heute verlegt hat durch den nun viel früher eintretenden Kirchensteuerausfall.

Statistik zu Kirchenmitgliederzahl
Bild: ©FZG/Albert-Ludwig-Universität Freiburg (Archivbild)

Eine Studie des Forschungszentrums Generationenverträge an der Albert-Ludwig-Universität Freiburg projizierte bereits 2018 einen deutlichen Niedergang der Kirchenmitgliedschaft.

Ein Blick auf die regionale Verteilung der Austritte lässt Arbeitshypothesen zu – ist aber bei weitem nicht so eindeutig, dass daraus schon Wege zur Trendumkehr zu ermitteln wären. Rückgang gibt es überall. Die Summe der Austritte 2019 entsprechen 1,2 Prozent der Gesamtzahl der Katholiken des Vorjahres. Die nach Bistümern aufgeschlüsselten Zahlen schwanken um diesen Mittelwert; etwa die Hälfte hat einen höheren prozentualen Verlust, etwa die Hälfte einen niedrigeren. An den Ausreißern lassen sich Tendenzen ableiten – ohne dass eine Erklärung absolut zwingend erscheint: Prozentual die wenigsten Austritte gibt es in Görlitz (0,76 Prozent), Paderborn (0,88 Prozent), Erfurt (0,88 Prozent), Münster und Aachen (je 0,90 Prozent). An der Spitze stehen Berlin (2,46 Prozent), Hamburg (2,10 Prozent), München und Freising (1,62 Prozent) Limburg (1,55 Prozent) sowie Dresden und Meißen (1,54 Prozent).

Kein Patentrezept in den Zahlen

Auffällig ist, dass die Bistümer mit den höchsten Austrittszahlen weitgehend die mit den größten Städten sind. Macht Stadtluft säkular? Oder gibt es dort besonders viele katholische Zuzügler aus dem Ausland, die der in ihrem Herkunftsland nicht fälligen Kirchensteuer entgehen wollen? Ausreißer für den Erklärungsansatz Großstadt ist Rottenburg-Stuttgart, das im Mittelfeld liegt (die Katholiken konzentrieren sich dort aber auf Oberschwaben, während Stuttgart in einer evangelischen Region liegt), sowie Essen, das mit 0,96 Prozent unterdurchschnittlich viele Austritte hat.

Die Kathedrale St. Jakobus ist der Mittelpunkt des Bistums Görlitz.
Bild: ©dpa/Sebastian Kahnert (Archivbild)

Die Kathedrale St. Jakobus ist der Mittelpunkt des Bistums Görlitz. 29.621 Katholiken gehören zu der Diözese, nirgends treten auch prozentual so wenige aus. Kann das kleinste Bistum Deutschlands ein Vorbild sein?

Wenige Austritte scheint es da zu geben, wo es noch volkskirchliche Milieus oder eine eng verbundene Diaspora gibt – mit Magdeburg liegt aber auch ein Diaspora-Bistum genau in der Mitte, direkt nach Eichstätt, und Dresden-Meißen (mit den Großstädten Dresden und Leipzig) gehört zur Spitzengruppe. Die Vermutung, dass besonders exponierte Oberhirten auch besondere Effekte zeitigen, findet Argumente – München mit hohen Austrittszahlen, Köln im oberen Drittel – ebenso wie Gegenargumente: In der Spitzengruppe folgen Regensburg, Passau, Osnabrück und Essen direkt aufeinander mit zwischen 0,92 und 0,96 Prozent. Mit den Bischöfen Voderholzer, Oster, Bode und Overbeck werden sie von in den Richtungs- und Reformdebatten besonders prägnant auftretenden Bischöfen geleitet.

Eine klare Absage muss man der Hoffnung auf eine "Gesundschrumpfung", auf eine kleine und glaubensstarke Herde machen – wenn es diesen Effekt wirklich irgendwann geben sollte, dann müsste die Kirche wohl noch viel massiver schrumpfen und ihre Sozialgestalt völlig ändern, weg von einer Verwaltung volkskirchlichen Erbes hin zu einer, positiv formuliert, aktivistischen Kernkirche, negativ formuliert: sektenartigen kleinen Gemeinschaft. In den Zahlen zeigt sich nämlich nicht, dass mit einer kleineren Zahl an Kirchenmitgliedern die Kirchlichkeit der verbliebenen steigen würde. Das ist keine Überraschung mit Blick auf die älteren, kirchennäheren Jahrgänge, die versterben. Bei den Austritten im Vergleich zu den in der Kirche verbleibenden könnte man aber doch die Hoffnung äußern, dass damit prozentual das Engagement steigt: weniger Christen, dafür "glaubensstärkere".

Kein Gesundschrumpfen, keine glaubensstarke kleine Herde

Die Wahrheit sieht anders aus: Der Gottesdienstbesucheranteil sinkt kontinuierlich auf mittlerweile 9,1 Prozent. Setzt man die gespendeten Sakramente in Beziehung zur Grundgesamtheit der Katholiken, so empfangen mit sinkender Tendenz pro Jahr um die 0,6 Prozent die Firmung (aktuell 0,55 Prozent), 0,75 Prozent gehen zur Erstkommunion (aktuell 0,74), der Quotient Trauungen pro Katholik ist einigermaßen konstant um 0,18 Prozent (derzeit 0,17 Prozent). Wenn es Bewegungen gibt, dann nach unten – und die waren in diesem Jahr besonders deutlich.

Bischof Georg Bätzing
Bild: ©KNA/Harald Oppitz (Archivbild)

Bischof Georg Bätzing zur Kirchenstatistik 2019: "An den heute vorgelegten statistischen Zahlen 2019 gibt es nichts schönzureden. Erneut und wie in den vergangenen Jahren müssen wir einen Rückgang beim Empfang der Sakramente feststellen. Der Prozess der Erosion persönlicher Kirchenbindung zeigt sich dort besonders deutlich. Natürlich sind die Rückgänge auch demographisch bedingt, sie zeigen aber zunächst einmal auch die Tatsache, dass wir trotz unseres konkreten pastoralen und sozialen Handelns eine Vielzahl von Menschen nicht mehr für das kirchliche Leben motivieren."

Bischof Bätzing hat Recht: Die Zahlen sind nicht schönzureden. Die Erosion persönlicher Kirchenbindung scheint unaufhaltsam: Entfremdung und fehlende Bindung waren die Hauptgründe, die die Essener Studie zum Kirchenaustritt bereits 2018 unter Ausgetretenen für ihren Abschied ausgemacht hat. Erklärungsansätze, die Skandale oder die Kirchensteuer ins Zentrum stellen, sind demnach unterkomplex – und das ist für die Kirche besonders gefährlich. Skandale transparent aufarbeiten, ist schwierig genug, die Kirchensteuer und den anscheinenden Reichtum der Kirche daraus zu vermitteln, eine hochgradig komplexe Aufgabe – aber immerhin eine mit klarem Ziel.

Kein Weg aus der Egalheit offensichtlich

Schwieriger ist es, mit diesen Ausgangsbedingungen die weitgehende fehlende Relevanz der Kirche für viele Menschen zu ändern. Es fällt nicht einmal auf, dass etwas fehlt. Auffällig war während der Hochphase der Corona-Pandemie der Unterschied zwischen kirchlichem Handeln und dessen Wahrnehmung: Sehr populär war die Kritik, von der Kirche sei nichts zu hören und nichts zu sehen. (Immerhin: In der Krise schien die Kirche zumindest im Modus der Kritik nicht egal.) Wer aber selbst zu denen gehört, die noch in der Kirche aktiv sind, hatte oft ein ganz anderes Bild: Nachbarschaftshilfe und Onlinegottesdienste, telefonische Kontakte zu Alten und Kranken, Osterbriefe und Nothilfe für die Weltkirche.

Mitbekommen haben das vor allem die Hochengagierten und Hochverbundenen – doch auch unter ihnen wächst der Frust, zum großen Teil wegen mangelnder Reformen und fehlender Unterscheidungsfähigkeit für die Zeichen der Zeit, zu einem kleineren Teil aufgrund zu großer Zeitgeistigkeit und fehlender Unterscheidbarkeit zur Welt. Spricht man mit pastoralen Mitarbeitern, berichten sie mittlerweile immer öfter von einer Erosion nicht nur an den Rändern, sondern auch im Kern. Warum sollte man auch einer als so egal empfundenen Institution die Treue halten? Selbst für Reformen kämpft nur, wem die Institution etwas bedeutet. Vielleicht ist der Synodale Weg der Ausweg, als den Bätzing ihn beschreibt – vielleicht ist er aber auch nur die nächste Auflage (nach Konzil, Würzburger Synode, "Gesprächsforum" und unzähligen diözesanen Synoden- und Dialogprozessen) der Selbstvergewisserung des kleinen Rests, dem die Kirche noch nicht egal ist.

Von Felix Neumann