Als die Verzierung verschwand: Warum viele alte Kirchen so "leer" sind
Viele Kirchen in Deutschland machen auf den Besucher einen eher leeren Eindruck: Altar, Ambo, Bänke, zwar ist alles da. Von katholischer Dekorationslust ist aber oft nichts zu spüren. Das gilt nicht nur für neuere Kirchen, sondern auch für viele ältere. Schuld daran ist zum Teil etwa der Zweite Weltkrieg, der zahlreiche Bauten zumindest beschädigte, wenn nicht sogar zerstörte. Manche Kirchen wurden in den Jahrzehnten nach dem Krieg aber auch gezielt leergeräumt.
Zusammengefasst wird das oft unter dem Begriff "Purifizierung", denn genau das schwebte vielen Verantwortlichen vor: Den Kirchenraum auf das zurückzuführen, weswegen er eigentlich gebaut wurde – um den Gläubigen eine Brücke zu Gott zu bauen. Dazu schienen die mit historischer Kunst zum Teil vieler Jahrhunderte vollgestopften Kirchen nicht geeignet. "Man wollte nicht in einem Museum Gottesdienst feiern", sagt Thomas Erne. Der Professor für Praktische Theologie ist Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg. "Man wollte modern sein, mit der Zeit gehen. Kirchen sollten funktional sein, alles andere war überflüssig." Ihm scheint es, als wäre die Kirche von der Größe ihrer eigenen jahrhundertealten Kulturleistung eingeschüchtert gewesen.
Die Folgen waren sehr handfest: Reich geschnitzte Altäre wurden abgebrochen, Kanzeln abgerissen, Sandsteinornamente abgeschlagen, Wandmalereien weiß übertüncht, Bilder und Figuren verschwanden und ein Großteil des oft reich verzierten historistischen Mobiliars gleich mit – Verbleib ungeklärt. So manches Altargitter mag als Gartentor in einem Ferienhaus geendet sein, zum Teil werden noch heute Altäre auf Dachböden gefunden, wo sie jahrzehntelang vor sich hin gemodert haben. Ein Beispiel dafür ist die Augsburger Moritzkirche. Als sie nach Kriegszerstörungen wieder aufgebaut werden sollte, ließ Architekt Dominikus Böhm die weitgehend erhaltenen barocken Stuckornamente entfernen und schuf einen glatten, weißen Raum. In der Kirche St. Servatius im Kölner Stadtteil Immendorf wurde in den 1970er Jahren die gesamte Altarausstattung ausgetauscht.
Schlichtheit hält Einzug
In die nun leer gefegten Kirchen hielt die Schlichtheit Einzug: Die neu angeschafften Bänke, Altar, Ambo und Tabernakel waren oft nüchtern gehalten, mit glatten Oberflächen und ohne als unnötig angesehenen Zierrat. Nichts sollte mehr an das alte "Gerümpel" erinnern, in dem sich der Blick der Gläubigen verlieren konnte.
Grund dafür war ein geändertes Kunstbewusstsein und ein neues Bild vom Kirchenraum im 20. Jahrhundert. Die Moderne wollte künstlerisch nur aus sich heraus existieren; alte Ansätze und Traditionen sollten keine Rolle mehr spielen. Die Vergangenheit betrachtete man in erster Linie als vergangen und vorbei, großes Interesse an ihr hatte man nicht. Architekten der Moderne gingen selbstbewusst ans Bauen ohne Rücksicht auf historische Gegebenheiten. So wurden etwa im Krieg zerstörte Dorfkirchen zum Teil durch gewagte Betonkonstruktionen ersetzt, die im krassen Gegensatz zu ihrer dörflich-pittoresken Umgebung standen. Was zählte, war das Neue. Das galt nicht nur für die Kirchen. Ein bekanntes Beispiel für die Geisteshaltung der Moderne war der "Plan Voisin" des Architekten und Stadtplaners Le Corbusier: Er wollte große Teile der Pariser Innenstadt mit ihren Belle-Époque-Häusern abreißen und durch regelmäßige, 16-stöckige Hochhäuser ersetzen. Der Plan ist bis heute heiß umstritten. Auch die beiden religiösen Neubauten des Architekten, Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp und das Kloster Kloster Sainte-Marie de La Tourette in Éveux sorgten für ein gespaltenes Echo.
Neben den Neubauten sollten auch Altbauten an die Anforderungen der Moderne angepasst werden. Vorlage waren Kirchen, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg für Aufsehen gesorgt hatten. Ein Beispiel ist die Fronleichnamskirche in Aachen, gebaut von Rudolf Schwarz und eingeweiht 1930. Die Wände sind ostentative weiß und leer, nicht einmal ein Kruzifix hängt an der Stirnwand. Der bild- und schmucklose Raum zelebriert die Leere ganz bewusst. Für Schwarz mussten Kirchen Schwellenräume sein, die den Besuchern den Übergang zum Heiligen ermöglichten – und es bei diesem Schwellencharakter beließen. Nirgends sollte der Eindruck entstehen, der Raum wäre selbst etwas Heiliges, anstatt nur darauf hinzuweisen. Selbst der Reformliturgiker Romano Guardini hatte Probleme mit dieser Kirche und meinte, sie ähnele eher einer Fabrik.
Viel Kulturgut vernichtet
Eine solche Leere wollte man auch in historischen Kirchen erreichen. Da passte es, dass man etwa vom Historismus des 19. Jahrhundert nichts hielt, der vergangene Stilepochen imitierte und zum Teil frei miteinander verband. Die vielen Verzierungen dieser Kirchen wurden als unauthentisches Blendwerk abgetan und folgerichtig entfernt. Der Denkmalschutz griff nicht ein. "Es kam hier im großen Stil zu einer Vernichtung von Kulturgut", so Erne.
Ob die nun vorherrschende Leere den Kirchenräumen immer weitergeholfen hat, ist strittig. Jede Form von Atmosphäre oder einer besonderen Aura wurde erfolgreich unterbunden. Kritiker erinnern diese Kirchen vor allem an das, was sie an Ausstattung und Individualität verloren haben. Befürworter schätzen dagegen die Chancen für zeitgemäßen Glauben, den diese Kirchen durch einen sichtbaren Neustart ermöglicht haben.
In den Jahrzehnten nach den Purifizierungen wurde so manches Mal versucht, den historischen Räumen etwas vom alten Glanz zurückzugeben. Übermalte Kreuzwegstationen wurden aufwendig gereinigt und ihnen so die originale Farbigkeit zurückgegeben; Pfeiler wieder farbig gefasst und Ornamente zumindest wieder aufgemalt. Gestaltung und Kunst hat im Kirchenbau heute wieder einen größeren Stellenwert erhalten.
Auch heute noch Reduktion
In Neubauten zeigt sich der Wille zur Reduktion dagegen immer noch, wenn er auch eher an die Bauten der Vorkriegszeit erinnert als an die nachbearbeiteten Altbauten der Nachkriegszeit. Zeitgenössische Projekte wie etwa die Trinitatiskirche in Leipzig oder die St.-Jakobus-Kirche im Münchner Stadtteil Neuperlach sind betont karg gehalten, der figürliche Schmuck ist auf ein Minimum beschränkt. Hier ist die Leere Programm und durchgeplant: Hochwertige Materialien fangen die formale Schlichtheit auf, Haptik und Licht sind planvoll eingesetzt und entwickeln so eine andächtige Stimmung. Hier wurden sichtbar keine Säle ihres Innenlebens beraubt, sondern von vorneherein als Reinräume konzipiert.
Leere ist also nicht gleich Leere und die Vorstellung von Form und Funktion eines Kirchenraums hat sich gewandelt. Wie die barock überlaufenden oder die klassizistisch streng gegliederten Räume sind auch die leer gefegten Kirchen der Nachkriegszeit Monumente eines Glaubens- und Kirchenbildes, das in stetem Wandel begriffen ist.