Migdal: Die Heimat von Maria Magdalena
Der Ort Migdal, der auch unter dem Namen Tarichaea bekannt ist, war wohl eine sehr einflussreiche Stadt am See Genezareth, die bereits im ersten vorchristlichen Jahrhundert bestanden hat. Mitunter kann man ihre Gründung schon in die letzten zehn Jahre des zweiten Jahrhunderts v. Chr. datieren, als der Einfluss der hasmonäischen Dynastie sich auch in Galiläa auszubreiten begann. Flavius Josephus berichtet, dass sich an diesem Ort während des Römisch-Parthischen Kriegs (58-63 n.Chr.) ein römisches Castrum befand. Die Bedeutung der Stadt zeigt sich auch daran, dass Tarichaea 54 n.Chr. eine der Bezirkshauptstädte Untergaliläas wurde, was ebenfalls ein Zeichen dafür ist, dass der Ort trotz der Gründung des nahegelegenen Tiberias, weiterhin Einfluss in der Region besaß. Möglicherweise gehörten zur Stadt auch einige kleinere Dörfer in der Nachbarschaft; diese waren aufgrund ihrer Lage in der fruchtbaren Ebene von Ginnosar besonders für die Landwirtschaft geeignet.
Eine wichtige Rolle spielte Tarichaea im Ersten Jüdischen Krieg: Die römischen Truppen unter Vespasian und Titus besetzten die Stadt im Jahr 67 n.Chr. Der Schriftsteller Sueton berichtet in einem seiner Werke gar davon, dass Tarichaea eine der wichtigsten und politisch einflussreichsten Städte in ganz Judäa war.
Fischerei weit verbreitet
Der Name Tarichaea, der etwas seltsam anmutet, stammt aus dem Griechischen. Er bezieht sich auf die Werkstätten, in denen Fisch eingesalzen wurde, oder, genauer gesagt, auf die Bottiche, die zum Einsalzen nötig waren. Diese etymologische Herleitung des Ortsnamens und ein kurzer Hinweis des antiken Geschichtsschreibers Strabo machen deutlich, dass die Stadt wirtschaftlich mit dem Fischfang und der Verarbeitung von Fisch in Verbindung stand. Dass am See Genezareth die Fischerei weit verbreitet war, zeigt sich an mehreren Beispielen: Auch in Kapharnaum, das nur wenige Kilometer östlich von Tarichaea liegt, ist archäologisch ein Hafen bezeugt. Und schließlich legt auch ein Blick in das Neue Testament solches nahe, schließlich werden die ersten Jünger von ihren Booten wegberufen und das Johannesevangelium schildert in seinem Nachtragskapitel die Erscheinung des Auferstandenen am Ufer des Sees, als die Jünger gerade beim Fischen waren. Wenngleich es nur wenige Informationen über ein Netzwerk gibt, mit dessen Hilfe der verarbeitete Fisch vertrieben wurde, existieren doch vereinzelte Nachweise, dass ein solches wohl bestanden hat. Ob der gesalzene Fisch aus Tarichaea möglicherweise sogar bis nach Ägypten vertrieben wurde, bleibt offen; Hinweise in zwei Papyri könnten jedoch ein Indiz dafür sein. Auch die Annahme, dass die dort ansässigen Fischbetriebe bis nach Rom exportiert hätten, ist äußerst vage und aufgrund fehlender archäologischer Nachweise nicht zu klären. Letztlich bleibt aber eines festzuhalten: Tarichaea besaß eine strategisch günstige Lage an der Kreuzung der damaligen zentralen Handelsrouten, wie der Via Maris, die Ägypten und Mesopotamien miteinander verband. Damit ist es zumindest nicht ganz auszuschließen, dass der in Tarichaea hergestellte Salzfisch in die Städte der Dekapolis und bis nach Syrien und Phönizien vertrieben wurde.
Im Neuen Testament taucht Tarichaea unter einem anderen Namen auf: Hier wird die Stadt "Migdal" oder "Magdala" genannt. Das Wort "Migdal" kommt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie "Turm", "Wachturm" oder "befestigte Zitadelle". Der aramäische Ortsname Magdala besitzt die gleiche Bedeutung; vielleicht hieß der Ort einst auch "Migdal Nunayya", was sich als "Fisch-Turm" übersetzen ließe. Zumindest weisen der griechisch-lateinische und der aramäische Ortsname auf ein und dieselbe Sache hin: Die Stadt besaß einen besonderen Bezug zum Fisch – nämlich nicht nur in Bezug auf den Fischfang, sondern auch auf die Weiterverarbeitung desselben.
Wie die anderen größeren Städte Galiläas, Tiberias oder Sepphoris, so war auch Migdal für Jesus nicht von großer Bedeutung. In den Evangelien wird Migdal sogar ausschließlich als Heimat der Jesusjüngerin Maria genannt. Vermutlich könnte sich auch eine Notiz aus Mt 15,39 auf Magdala bezogen haben, dort heißt es, dass Jesus mit seinen Jüngern "in die Gegend von Magadan" fuhr. Ansonsten ist Migdal/Magdala/Tarichaea neutestamentlich nicht belegt.
Die Blüte war vorbei
Mit ca. 40.000 Einwohnern war Migdal eine der größten Städte am See Genezareth. Man darf vermuten, dass sich nicht nur die Fischindustrie, sondern auch andere Handelszweige hier angesiedelt hatten. Im Ersten Jüdischen Krieg wurde Migdal jedoch zerstört, die Stadt konnte nie mehr zu ihrer einstigen Blüte zurückkehren. Erste christliche Pilger berichten davon, in Migdal hätten sie eine Kirche angetroffen, die über dem Haus Marias, der Magdalenerin, erbaut worden war. Zwar wurden die Überreste einer solchen byzantinischen Kirche bisher noch nicht archäologisch entdeckt, aber die übereinstimmenden Pilgerberichte bis in die Kreuzfahrerzeit deuten auf ihre Existenz hin. Auch die Kreuzfahrer selbst versuchten wohl, am Ort eine Kirche zu etablieren. Spolien aus dieser Zeit, die in anderen Häusern verbaut wurden, weisen zumindest darauf hin, wenngleich die Kreuzfahrerkirche selbst wahrscheinlich nie lange bestanden hat. Wie viele andere Städte, die zu neutestamentlicher Zeit eine große Blüte aufweisen konnten, verfiel auch Migdal zusehends. Ein arabisches Fischerdorf befand sich bis ins 20. Jahrhundert an der antiken Ortslage, doch die einstige Pracht Migdals war schon längst dem Vergessen anheimgefallen.
Erst in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam die antike Stadt wieder nach und nach zum Vorschein. Unter der Ägide des Franziskanerordens wurden Ausgrabungen durchgeführt, die nicht nur Straßenpflaster und öffentliche Plätze zutage förderten, auch ein Kloster aus byzantinischer Zeit und der Komplex einer Hafenanlage wurden entdeckt. Das Zentrum der Ausgrabungen jedoch war die Synagoge aus dem ersten Jahrhundert n.Chr. Dieser Fund war deshalb so bedeutend, da es sich um eine der wenigen Synagogen handelt, die noch zur Zeit des Zweiten Tempels errichtet wurde. Die meisten anderen Synagogen, die man in Galiläa ausgegraben hat, sind wesentlich jünger.
In den vergangenen Jahren wurde das antike Migdal wieder mehr und mehr für Besuchergruppen erschlossen. Einerseits lassen die archäologischen Ausgrabungen etwas von der einstigen Pracht der Hafenstadt erahnen. Andererseits wurden aber auch neue Orte geschaffen, welche die Besucher einladen, in dieser Gegend zu verweilen. Einer dieser Orte ist die Kirche "Duc in altum", die 2014 konsekriert wurde. Als Grundriss wählten die Erbauer ein Oktogon, also die klassische Form der byzantinischen Kirchenbauten. Das Innere der Kirche lenkt den Blick auf das Schiff, das als Altar dient, und den See Genezareth, der sich durch die weite Glasfront eröffnet. Die zahlreichen Mosaiken erinnern an die biblischen Szenen, die hier am See verortet werden. In der Krypta der Kirche wandelt man im wahrsten Sinne des Worte auf antikem Pflaster: Für den Bodenbelag wurden Steine verwendet, die man in Migdal ausgegraben hatte.
Dass Migdal in den letzten Jahren wieder vermehrt von Pilgergruppen aufgesucht wird, ist eine durchaus positive Entwicklung. Gerade im Christentum wird die Stadt häufig nur als Herkunftsbezeichnung der Maria verwendet; manchmal erweckt es gar den Eindruck, der Beiname "Magdalena" werde eher als selbstständiger Nachname Marias wahrgenommen. Doch Magdala bzw. Midgal selbst hat eine bedeutende Geschichte, die es zu würdigen gilt. Dass die Erstzeugin der Auferstehung Jesu aus diesem Ort stammte, macht ihn freilich auch für Pilgerreisende interessant. Doch letztlich bleibt Migdal vor allem eines: Eine Metropole, die im Lauf der Jahrhunderte fast vergessen war und deren Erinnerung langsam wieder zum Leben erwacht.