"Klassische" Seelsorge in Soutane: Die Gemeinschaft Sankt Martin
Es ist eine Zahl, die in Zeiten von Priestermangel und zunehmender Säkularisierung mehr als beeindruckt: Das Durchschnittalter der 115 Priester der französischen Gemeinschaft Sankt Martin liegt bei 34 Jahren. In kurzer Zeit wird die Priestergemeinschaft mehr als doppelt so viele Geistliche haben, denn 120 Seminaristen studieren aktuell am Sitz der Gemeinschaft in Évron bei Le Mans im Nordwesten Frankreichs. Es ist eines der größten Priesterseminare des Landes. Den Nachwuchs kann die Gemeinschaft gut gebrauchen, denn sie expandiert stetig. Jedes Jahr eröffnet sie nach eigenen Angaben zwischen drei und fünf neue Niederlassungen, vor allem in Diözesen mit wenigen Klerikern. Derzeit sind die Priester der Gemeinschaft in der vatikanischen Kurie und in 26 Diözesen tätig, besonders in Frankreich, zudem in Italien, auf Kuba – und nun auch in Deutschland.
Die Geschichte der Gemeinschaft Sankt Martin beginnt mit Abbé Jean-François Guérin (1929-2005), der ab 1965 für zehn Jahre an der bekannten Sacré-Cœur-Basilika in Paris wirkte. Guérin begleitete junge Gläubige, die sich mit dem Gedanken an eine Berufung trugen. Dabei brachte er sie mit einer Liturgie in Kontakt, die sich auf die lateinisch-gregorianische Tradition berief, dabei aber gleichzeitig auf der Liturgischen Bewegung und der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils (1962-65) fußte. 1976 lud der Genueser Kardinal Guiseppe Siri Guérin und die ersten Priesterseminaristen der Gemeinschaft in sein Erzbistum ein. Der in jener Zeit als Wortführer des konservativen Kirchenflügels bekannte Erzbischof wollte mit diesem Schritt die Ausbildung von Priestern für das laizistische Frankreich stärken.
Weihbischof Schwaderlapp lud Gemeinschaft ins Erzbistum Köln ein
Der Name der Gemeinschaft wurzelt in der Herkunft Guérins: Der Priester der Diözese Tours wählte bei der Gründung den heiligen Martin als Patron, der dort Bischofs gewesen war. Das Ziel, die französische Kirche zu stärken, verfolgte er konsequent weiter: 1983 wurde die erste Niederlassung in Frankreich gegründet, zehn Jahre später verließen die Priester Italien in Richtung Heimat und seit 2014 ist ein ehemaliges Benediktinerstift in Évron das Zentrum der Gemeinschaft. Zur Jahrtausendwende erfolgte schließlich die Anerkennung als Institut päpstlichen Rechts.
Seit Anfang September sind drei "Abbés", wie sie auch in Deutschland genannt werden möchten, nun für den überregional bekannten Marienwallfahrtsort Neviges im Erzbistum Köln zuständig. Nach mehr als 340 Jahren Betreuung von Pfarrei und Wallfahrt durch die Franziskaner, musste der mittelalterliche Bettelorden seine seelsorgliche Tätigkeit in Neviges aufgrund von sinkenden Mitgliederzahlen und Überalterung einstellen. Der für die geistlichen Gemeinschaften im Erzbistum zuständige Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp nahm deshalb vor etwas mehr als einem Jahr Kontakt zur Gemeinschaft Sankt Martin auf und lud sie ein, eine Niederlassung in Neviges zu gründen.
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Zu diesem Zeitpunkt wirkten bereits zwei Abbés seit einigen Monaten in einer Kirchengemeinde im Erzbistum Paderborn, um eine mögliche Gründung in Nordrhein-Westfalen vorzubereiten. Die angestrebte Niederlassung in der verwaisten Abtei Marienmünster, die das Erzbistum seit zwei Jahren forciert hatte, scheiterte jedoch am Widerstand der örtlichen Kirchengemeinde. Offiziell wurden Differenzen "beispielsweise hinsichtlich der gemeinschaftlichen Nutzung der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten" als Grund angeführt. In der Lokalpresse äußerten sich Vertreter der Pfarrei jedoch anders: Die "erzkonservativen Ansichten" der Priestergemeinschaft seien dafür verantwortlich, dass von einer Gründung in Marienmünster Abstand genommen wurde.
Auch in Frankreich gilt die Gemeinschaft Sankt Martin manchen als "konservativ" oder "neo-klassisch". Ein Grund hierfür mag das Erkennungszeichen der Priestergemeinschaft sein: die schwarze Soutane. Das klassische Priesterkleid ist ein Zeichen für die Orientierung der Gemeinschaft an der Gregorianik und einer Liturgie im ordentlichen Ritus, die auch die lateinische Sprache nicht scheut. Vom Traditionalismus grenzen sich die Abbés bewusst ab, bringen aber doch Bischöfe wie Marc Aillet hervor, den Oberhirten der französischen Diözese Bayonne, der mit konservativen Positionen in seinem Bistum und darüber hinaus polarisiert. Die geistlichen Wurzeln der Gemeinschaft liegen zudem in der benediktinischen Tradition der "lectio divina" und dem Gemeinschaftsleben. Wohl auch deshalb interessierte sich die Gemeinschaft für eine Gründung in der ehemaligen Benediktinerabtei Marienmünster.
"In Neviges ist die Situation viel klarer"
Zum vorläufigen Scheitern der Niederlassungsbestrebungen auf dem Gebiet Paderborns möchte sich das Erzbistum auf Anfrage jedoch nicht äußern. Doch Abbé Thomas Diradourian, der damals mit der Erzdiözese in Kontakt stand und nun leitender Pfarrer in Neviges ist, glaubt, dass die Voraussetzungen in Marienmünster ungünstig waren. "Unsere Gemeinschaft sollte das neue Konzept eines 'geistlichen Zentrums' ins Leben rufen und das in Gebäuden, die seit Jahren leer standen", beschreibt er gegenüber katholisch.de die damalige Idee hinter der Ansiedlung der Gemeinschaft Sankt Martin in Marienmünster. "Dieses noch nicht klar umrissene Konzept hätte sich weitgehend unabhängig vom Gemeindeleben entwickelt, was in der Kirchengemeinde bei einigen Mitgliedern für Unruhe sorgte."
Nun hat die Gemeinschaft in Köln Fuß gefasst. Die Vorbereitung der Ansiedlung in Neviges zeigt, dass sowohl die französischen Priester als auch die rheinische Erzdiözese aus den gescheiterten Niederlassungsbestrebungen in der Abtei Marienmünster gelernt haben. "In Neviges ist die Situation viel klarer: die Gemeinschaft übernimmt das Kloster und die Tätigkeit der Franziskaner, die Pfarr- und Wallfahrtsseelsorge", sagt Diradourian. "Angst gibt es doch immer nur vor dem, was man nicht kennt. Das wichtigste wird sein: einander kennenlernen, Zeit miteinander verbringen, gemeinsam Projekte gestalten", beschreibt der 1976 geborene Priester die Herangehensweise an die neue Aufgabe in Neviges. Nur so könnten "gegenseitiges Vertrauen und vor allem Nächstenliebe" entstehen.
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Das Erzbistum Köln bestätigt auf Anfrage, dass im Vorfeld der Niederlassung am Marienwallfahrtsort "auch der Komplex Marienmünster ausführlich und mit großer Offenheit besprochen" wurde. Die Schwierigkeiten, die rund um die ehemalige Abtei bestanden hätten, seien in Neviges nicht vorhanden. Anstatt eines "Nebeneinanders", wie es in Marienmünster befürchtet wurde, werde es im Erzbistum Köln ein "Miteinander" geben. "Anders ausgedrückt: In Neviges ist die Gemeinschaft zentraler Bestandteil der Pfarrgemeinde", heißt es aus Köln. Vertreter der Kirchengemeinde seien von Anfang an in die Gespräche mit der Gemeinschaft Sankt Martin eingebunden gewesen. In einem Gottesdienst an Pfingsten habe die Mitteilung, dass die französischen Priester künftig für die Pfarrei zuständig seien würden, sogar "spontanen Beifall" ausgelöst.
Die drei Abbés, zu denen auch ein junger deutscher Priester aus Aachen gehört, bemühen sich sichtlich um einen guten Kontakt zu den Gläubigen und ein freundliches Image. In Zeitungsinterviews verrieten sie etwa, welchen Sport sie bevorzugen und luden die Pfarreimitglieder zu einem Besuch im ehemaligen Franziskanerkloster von Neviges ein, das nun sie bewohnen. Auch für eine ökumenische Zusammenarbeit zeigten sie sich offen. Diradourian betont, man werde sich bemühen, in die "Fußstapfen unserer Vorgänger zu treten". Gleichzeitig wollen die Priester "um den Mariendom herum geistliche und kulturelle Angebote entwickeln" und ganz im Sinne ihrer Gemeinschaft einen "Beitrag zur Evangelisierung und Mission für so viele suchende Menschen" leisten.
In der Kirche nicht gegenseitig "in eine Schublade" stecken
Diradourian wünscht sich von der Kirche in Deutschland daher, dass sie ihre finanzielle Ausstattung und gesellschaftliche Stellung stärker "als einmalige Chance" zur Verkündigung des Evangeliums wahrnimmt. Gleichzeitigt sieht er die deutsche Volkskirche "tief gespalten". Die französische Kirche dagegen "wagt als mittellose Minderheitskirche einen bemerkenswerten spirituellen Neuaufbruch in die säkularisierte Welt", glaubt Diradourian. Daraus würden "seit mehreren Jahrzehnten zahlreiche Gemeinschaften und Berufungen" entstehen. "Und trotzdem ist die Anzahl der Praktizierenden erschreckend gesunken." Von außen sei die Kirche in Frankreich unbedeutend geworden. Von innen scheine sie jedoch "einen neuen Aufschwung gefunden zu haben".
Kann die eher traditionell orientierte Gemeinschaft Sankt Martin aus Frankreich den deutschen Katholiken neuen Schwung geben und als Nachfolgerin der als liberal geltenden deutschen Franziskaner in Neviges fungieren? Für Diradourian scheint das durchaus möglich, zudem weist er die Bezeichnung "konservativ" als politische Kategorie von sich und ruft dazu auf, sich in der Kirche nicht gegenseitig "in eine Schublade" zu stecken. Dennoch bezeichnet er seine Mitbrüder als der "klassischen" Seelsorge verschriebene Gemeinschaft. "Klassisch" sein bedeutet für ihn, "eine solide Basis zu haben und auch in den unterschiedlichsten Situationen man selbst zu bleiben". Die Niederlassung der Gemeinschaft Sankt Martin in Neviges wird zeigen, ob sich die "klassische" Seelsorge in Soutane im modernen Betongebirge des Mariendoms bewährt.