Predigt in der Krise: Schwer erträgliche Erwartbarkeit des Gesagten
Katholiken haben es einfacher als Protestanten: Natürlich kann eine Predigt schlecht sein. Aber die Mitte und Höhepunkt der Messe soll sie auch gar nicht sein. Klagen über schlechte Predigten gibt es dennoch viele. Aber auch der evangelische Theologieprofessor Christian Möller stellt der Predigt in seiner Kirche kein gutes Zeugnis aus. In einem Artikel im "Deutschen Pfarrerblatt" stellte er im Sommer eine gewisse Müdigkeit an der für protestantische Gottesdienste eigentlich so zentralen Verkündigungsform fest. Zwei Predigten hätten ihn besonders positiv berührt, berichtet er dort. Bei einem Besuch eines Gottesdienstes in einer Antwerpener Synagoge stand die Predigt nicht im Zentrum: Der Gesang des Kantors, die Thoraprozession und die gemeinsame Lesung aus der Heiligen Schrift prägten den Gottesdienst – und die Predigt des Rabbiners am Ende war wohl eine Ausnahme, die es nicht an jedem Sabbat gibt. Umso freudiger und gespannt hörte die Gemeinde zu.
Auch Möllers zweites Beispiel handelt von einer Ausnahme, dieses Mal bei einem russisch-orthodoxen Gottesdienst, den der Professor für praktische Theologie mit seinen Studierenden besucht hatte. Dass der Erzpriester nach der Lesung eine Predigt hielt, schien alle zu überraschen: "An den Gesichtern der orthodoxen Gläubigen konnten wir erkennen, dass hier etwas ganz Besonderes stattfand, nämlich eine Predigt als Auslegung des Evangeliums. Was für uns ganz normal war, erregte die orthodoxe Gemeinde umso mehr, weil es für sie das Ungewohnte, Überraschende war, das sie selten zu hören bekam."
In seiner eigenen kirchlichen Heimat nimmt Möller eine andere Haltung gegenüber der Predigt wahr, auch bei sich selbst. "Beide Erlebnisse brachten mich zu der Frage, ob es für uns Protestanten vielleicht deshalb so wenig Freude an der Predigt gibt, weil sie das ganz normale Pflichtpensum geworden ist, das wir auf jeden Fall erwarten und oft wie ein notwendiges Übel erleiden", konstatiert er nüchtern: "Die Predigt hat für uns Protestanten jeden Überraschungswert verloren."
Predigt soll lebendige Stimme des Evangeliums vermitteln
Eigentlich war es ein grundreformatorisches Anliegen, eine damals revolutionäre Reform, so stark auf das Wort zu setzen statt auf den Ritus. "Die Menschen waren am Ende des Mittelalters der toten Riten überdrüssig und sehnten sich nach der Viva vox evangelii in Gestalt von Predigten", führt Möller Martin Luther an: "Viva vox evangelii", die lebendige Stimme des Evangeliums, sollte den Gottesdienst prägen. Möller fragt sich, ob sich dieser "Befreiungsvorgang" zu einem "Zwangsritual" verkehrt habe, und plädiert für eine Relativierung, für eine stärkere Gewichtung der liturgischen Aspekte eines Gottesdienstes. "Die anderen Teile des Gottesdienstes würden dann mehr Wirkung ausüben, wenn der Gottesdienst insgesamt sorgfältiger vorbereitet würde und wenn vom Kantor über den Chor und den Lektor den Mitfeiernden mehr Raum gegeben würde, vom gemeinsamen Einzug in den Gottesdienst bis hin zu der im angelsächsischen Raum üblichen Weise, dass alle ein liturgisches Gewand bekommen, die den Gottesdienst mitgestalten", schlägt der Theologe vor.
Vieles davon scheint in der katholischen Liturgie schon verwirklicht. Dort hat die Predigt lange nicht die zentrale Bedeutung wie im evangelischen Gottesdienst – das zeigen schon nackte Zahlen. 2019 hatte das Meinungsforschungsinstitut Pew über 50.000 Predigten in den USA ausgewertet. Bei evangelischen schwarzen Gemeinden wurde im Schnitt 54 Minuten gepredigt, evangelikale predigten immerhin noch 39 Minuten – römisch-katholische Priester dagegen brauchten im Schnitt kaum eine Viertelstunde für ihre Predigt.
„Im Leiden an den Predigten sind die Besucher und Besucherinnen von Gottesdiensten über die Konfessionsgrenzen hinweg meist miteinander verbunden.“
Doch auch für katholische Theologen ist die Predigt ein Sorgenkind. Wolfgang Beck lehrt als Juniorprofessor unter anderem Homiletik, Predigtwissenschaft, an der Frankfurter Jesuitenhochschule Sankt Georgen. Der Hildesheimer Diözesanpriester spricht zudem regelmäßig das "Wort zum Sonntag" und dürfte damit einer der reichweitenstärksten Predigenden im deutschsprachigen Raum sein. Die Predigten in Deutschland schätzt Beck zwar kürzer ein als die in den USA und peilt für eine katholische Predigt acht Minuten, für eine evangelische 20 als typische Dauer an. Besser macht es das aber nicht: "Im Leiden an den Predigten sind die Besucher und Besucherinnen von Gottesdiensten über die Konfessionsgrenzen hinweg aber meist miteinander verbunden", stellt er fest.
Ein ökumenisches Sorgenkind
Das sieht auch sein Fuldaer Kollege Richard Hartmann so. Der Professor für Pastoraltheologie und Homiletik beobachtet einen Zwiespalt bei seinen Studierenden: Als Hörer von Predigten stöhnten sie selbst angesichts zu vieler Phrasen und mangelnder Klarheit, sie wünschten sich präzise und kurze, anrührende Predigten. "Aber die Wirklichkeit ist nicht selten anders", stellt Hartmann fest, bei dem angehende Priester, Pastoralreferenten und Lehrer studieren: "Der Predigt in der katholischen Liturgie geht es auch nicht gut."
Geradezu inflationär waren während der Phase der ausgesetzten Gottesdienste in der Corona-Krise die online gestreamten Predigten und predigtähnlichen Formate. Hartmann stellt ihnen oft kein gutes Zeugnis aus: zu viele Themen, nicht zielorientert, zu allgemein, zu viele Gemeinplätze, belanglos und vorhersehbar: "Ich weiß längst, dass Gott gnädig ist und mich liebt. Ich weiß, dass ich umkehren soll (wie oft noch, wie genau und wohin?). Ich weiß, dass ich missionarisch sein soll, aber wie, ohne andere zu nerven?", bringt er es auf den Punkt. Das sieht auch Beck so. Er konstatiert eine "schwer erträgliche Erwartbarkeit des Gesagten". Überraschende Einsichten seien beim Hören von Predigten seltene Glücksmomente.
„Ich weiß längst, dass Gott gnädig ist und mich liebt. Ich weiß, dass ich umkehren soll (wie oft noch, wie genau und wohin?). Ich weiß, dass ich missionarisch sein soll, aber wie, ohne andere zu nerven?“
Wo Möller auf evangelischer Seite eine Predigtausbildung beklagt, deren Umfang die allgemeine liturgische Ausbildung in den Schatten stellt, ist es auf katholischer Seite für Beck genau umgekehrt: Mancher Missstand ließe sich durch den geringen Stellenwert der Predigt im Studium erklären. "Hier verkommt die Predigt allzu häufig zum 'Was ich schon immer mal sagen wollte'", kritisiert er. Dagegen führe die evangelische Priorität für die Predigt dazu, dass sie zum "konfessionellen Identitätsmarker und Kulturgut" avanciert sei: "Sie kann daher anscheinend nur in Überforderungen münden und wirkt häufig seltsam abgehoben", kann Beck Möllers Problemanzeige nachvollziehen. Er hofft darauf, dass das immer deutlicher zu vernehmende Klagen über Predigten zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme führen. Denn nicht nur Theologen beklagen die Predigtsprache: Autorinnen wie Sibylle Lewitscharoff und Journalisten wie Philipp Gessler leiden öffentlich an einer "blutleeren Sprache der Kirche", wie der Untertitel von Gesslers Kritik an der Kirchensprache lautet.
Predigten sollen viel leisten – zu viel?
Ein Problem dürfte die Fallhöhe sein. Hartmann zählt einen Katalog an Zielen auf, die die Auslegung der Schrift im Gottesdienst zu leisten hat: "Die Herausforderung der Predigt ist, dass sie die Chance nutzt, Menschen existentiell und emotional zu berühren, sie anzuregen, weiter nachzudenken, zu reflektieren und zu meditieren." In seiner eigenen Predigtausbildung gibt der Theologe seinen Studenten daher zwei Leitsätze mit: "Ihr sollte nicht über etwas predigen, sondern zu jemanden", und: "wenn ihr nichts zu sagen habt, müsst ihr still sein, sonst raubt ihr den Hörerinnen und Hörern die Zeit."
Ohne Menschenkenntnis und Wissen darum, was Menschen bewegt, geht es nicht. Wichtig dabei auch: Dass es nicht um irgendwelche Menschen geht. Eine Predigt als Dialog, als Glaubenskommunikation richtet sich immer an die jeweils anwesende Gemeinde. "Solche Gespräche kann ich auch nicht aus dem Internet und aus Predigtvorlagen kopieren. Das fällt schnell auf", empfiehlt Hartmann. Das sieht auch Beck so. Zwei Empfehlungen gibt er Predigern mit: "Dass sie lernen, das Predigen nicht als Schreiben eines Textes, sondern als Gespräch mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu verstehen – und häufiger über sich selbst zu schmunzeln."