Die Kirchenbindung schwindet: Ist Italien noch katholisch?
Kaum ein Land ist traditionell so mit dem Katholizismus verbunden wie Italien. Es beherbergt die schönsten Kirchenbauten der Welt und eine Glaubenskultur, die bis in die ersten Jahrhunderte nach Christus zurückreicht. Doch auch die Mittelmeernation mit dem Vatikan im Herzen ist vor fortschreitender gesellschaftlicher Säkularisierung nicht gefeit.
Der Turiner Religionssoziologe Franco Garelli hat diese Entwicklung in seinem kürzlich erschienenen Buch "Gente di poca fede" ("Volk mit wenig Glauben") dokumentiert. Die Ergebnisse der darin enthaltenen Studie sprechen eine deutliche Sprache: So hat sich die Zahl der Atheisten in Italien in den vergangenen 25 Jahren verdreifacht – auf mittlerweile 30 Prozent. Nur noch ein Fünftel der Bürger besucht regelmäßig die Messe.
Nur "naive Menschen", die glauben?
Während in den neunziger Jahren rund die Hälfte der Einwohner des Belpaese täglich betete, tut dies heute knapp ein Viertel. Ebenfalls knapp jeder Vierte ist indes der Meinung, der Glaube an Gott sei lediglich etwas für "naive Menschen". Vor einem Vierteljahrhundert vertraten nur fünf Prozent der Italiener eine derart religionskritische Auffassung. Der Anteil jener, die Religion weiterhin für ein wesentliches Element auf der Suche nach dem Lebenssinn halten, fiel von 80 auf 65 Prozent.
Einen zuverlässigen Beleg für die schwindende Bindung an die katholische Kirche liefert ein Blick auf den Geldfluss. Anders als die Kirchensteuer in Deutschland wird ein solcher Beitrag in Italien nicht automatisch von den Mitgliedern einbehalten. Jeder Steuerpflichtige kann selbst entscheiden, wem er die obligatorische Kulturabgabe "Otto per mille" zukommen lassen will. Er kann die acht Promille mit der Steuererklärung wahlweise einer Glaubensgemeinschaft, dem Staat oder sozialen Zwecken zuweisen. Die Quote für die katholische Kirche lag zuletzt nur knapp über 30 Prozent. Deutlich weniger als noch vor einigen Jahren.
Bei der Veröffentlichung des Steueraufkommens für 2019 vor einigen Wochen resümierte der Journalist Antonio Socci hämisch: "Papst Franziskus hat stets den Wunsch gepredigt, die Kirche arm zu machen. Offenbar ist ihm das gelungen." Wissenschaftler Franco Garelli, der auch mit der Italienischen Bischofskonferenz kooperiert, betreibt freilich eine differenziertere Analyse. Der 74-Jährige spricht von einer gewissen "religiösen Müdigkeit" im Lande, die sich im Laufe der Jahre zusehends manifestiert habe. Das Verhältnis zum Glauben sei in der modernen Zeit "unsicherer und zerbrechlicher" geworden.
Von Schwarzmalerei hält Garelli dennoch wenig. Stattdessen weist er auf ein Phänomen hin, dass er "katholische Subkultur" nennt. Dieses Fünftel der Bevölkerung sei eine Art "Keimzelle", die eifrig religiöse Rituale pflege, den Glauben als essenziell betrachte und an die Kinder weitergebe. Solche "überzeugten und aktiven" Katholiken bildeten die Stützpfeiler vieler Pfarreien. Themen wie Familie, Bioethik, Solidarität und Erziehung seien für das Milieu besonders wichtig. "Diese engagierte katholische Welt spielt eine wertvolle Rolle im Land", betont Garelli. Darauf lasse sich aufbauen. Vor allem, wenn es um die Bewältigung sozialer Notlagen gehe.
Gesteigertes spirituelles Verlangen duch die Pandemie
Eine Chance für eine Wiederbelebung des Katholizismus sieht der Experte daher ausgerechnet in der Corona-Krise. Und die Zahlen stützen seine These: Einer aktuellen Auswertung zufolge hat die Pandemie die religiösen Bedürfnisse der Italiener spürbar verstärkt. 16 Prozent geben an, in dieser Zeit mehr zu beten als sonst. Ein Viertel verspürt ein gestiegenes spirituelles Verlangen.
Als bemerkenswertes Indiz wertet Garelli nicht zuletzt den Abend des 27. März. Als Franziskus damals auf dem nahezu leeren Petersplatz den Segen "Urbi et orbi" spendete, verfolgten dies rund 17 Millionen Italiener (28 Prozent) live an den Fernsehschirmen. "Gerade in schwierigen Momenten sind viele Menschen auf der Suche nach sinnstiftenden Quellen", lautet die Schlussfolgerung des Soziologen. Die katholische Kirche müsse nun zeigen, was sie zu bieten habe.