Musik als Dialog mit Gott: Meister-Komponist Arvo Pärt wird 85
Tintinnabuli – nach dem lateinischen Wort für Glöckchen (tintinnabulum) benannte der estnische Komponist Arvo Pärt seine musikalische Sprache: Glöckchen-Stil. Keine Schule der Welt lehre ihn, schreibt das "Arvo-Pärt-Zentrum". Pärt, für den Musik jener Ort ist, an dem "ein Dialog mit Gott entstehen" kann, dürfte dies gefallen.
"Eine musikalische Sprache oder eine bestimmte Kompositionstechnik zu wählen, ist eigentlich eine persönliche Entscheidung, die von einer inneren Überzeugung genährt wird", sagt er. Tintinnabuli sei eben seine Waffe gegen "das Problem der Polyphonie". Am 11. September wird Arvo Pärt 85 Jahre alt.
Ein weltferner Mystiker?
Schlicht, spirituell, kontemplativ, geheimnisvoll: Zahlreiche Attribute werden der Musik des vielleicht meistgespielten und meistgeehrten Komponisten der Gegenwart zugeschrieben, ihr Schöpfer in Berichten als weltferner, bärtiger Mönch und Mystiker dargestellt.
Scheu, die Augen mehr nach unten als auf sein Publikum gerichtet, die Hände auf dem Bauch gefaltet, spricht der Bärtige im Sommer 2014 zu den Graduierten der Universität Tartu (Estland). Unter ihnen sind Pärts erste Studierende. Er habe "nie jemanden oder etwas gelehrt", sagt Pärt. Nett seien sie und schön, "was kann ich Euch sonst noch sagen?". Lässt stattdessen den Flügel erklingen, "ein kleiner Abschiedsgruß". Jeder musikalische Klang sei auch ein Wort, sagt der Komponist, "ein Wort in seinem tiefsten Sinn".
Geboren 1935 im estnischen Paide, studierte Pärt Komposition an der staatlichen Musikhochschule Tallinn und begann in den 1960er Jahren als freischaffender Komponist. Er probierte sich an Collagetechnik und an Zwölftonmusik, doch die Suche nach einer eigenen Sprache trieb ihn in eine künstlerische Krise.
Acht Jahre verstummte er ganz. Studierte Gregorianik und die Musik des Mittelalters. Schrieb kaum und trat in dieser Zeit in die russisch-orthodoxe Kirche ein. "Für Aline" hieß das kleine Klavierstück, mit dem er 1976 wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrte – mit einer musikalischen Sprache, die von da an die seine ist: Tintinnabuli.
Die Entwicklung seines Musikstils betrachtet Pärt als organisch. Jeden Schritt habe er ernstgenommen, jeder Schritt habe ihn weitergeführt an neue Horizonte, sagte er in einem Interview anlässlich seines 70. Geburtstags. Mehr noch: Man müsse "wie ein Bettler sein, wenn es darum geht, Musik zu schreiben. Was immer und wann immer Gott gibt", sagt er in seinen musikalischen Tagebüchern. Nicht über spärliches oder ärmliches Komponieren solle der Mensch trauern, "sondern weil wir wenig und ärmlich beten". Das Kriterium müsse sein: "Überall und nur Demut!"
Flucht in die freiwillige Ton-Armut
Tintinnabuli wurde Pärts ganz persönlicher Ausdruck der Suche nach Gott, der Wahrheit, Schönheit und Reinheit. Eine Melodiestimme wird begleitet von gebrochenen Dreiklängen, der Tintinnabuli-Stimme. Für Pärt bilden beide eine Einheit, "eins und eins ergibt eins – nicht zwei", erklärt er sein Geheimnis. Reduziert auf ein Minimum, beinahe asketisch, eine Flucht in die freiwillige Ton-Armut, denn er habe gemerkt, "dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird". "Wenn die Dinge einfach und klar sind", sagt Pärt, "dann sind sie auch sauber. Sie sind leer; es ist Raum da für alles."
In seiner estnischen Heimat hat Pärt mit seiner nicht systemkonformen Musik und zunehmend religiösen Inhalten – viele seine Werke basieren auf liturgischen Texten oder Gebeten – bald keinen Raum mehr. Auf Druck der sowjetischen Behörden verließ die Familie 1980 Estland zunächst nach Wien, dann weiter nach Berlin, wo Pärt mehr als 30 Jahre lebte.
Wort und Musik gehen für den Esten als Paar einher. "Worte schreiben die Musik", sagte er einmal. Vollkommener jedoch sei die Stille. Wählt er doch das gesprochene Wort, sind es gern Anekdoten, die er teilt. Die des etwa zehnjährigen Mädchens, das den über eine Schaffenskrise unmutigen Komponisten 1976 fragte, ob er Gott schon für dieses Versagen gedankt habe. Oder jene über den Straßenfeger, der ihm sagte, um Musik zu schreiben, müsse er jeden einzelnen Ton lieben.
Aus Pärt wurde einer, der jeden einzelnen Ton liebt – je weniger davon auf einmal, desto besser. Musik wurde sein "Freund, ein Taschentuch, um Tränen zu trocknen, eine Quelle für Freudentränen, Befreiung und Flucht, aber auch ein schmerzhafter Dorn in Fleisch und Seele". Durch Musik sei Gott in sein Leben gekommen.
Wenn Arvo Pärt spricht, ist es fast so, als perfektioniere er seine Musik. Der Anteil des Schweigens überwiegt seine Worte. Doch oft spricht Arvo Pärt nicht mehr. Interviews lehnt er seit ein paar Jahren ab. Kehrte zurück zu seinen estnischen Wurzeln, arbeitet zurückgezogen an neuen Werken und schuf zusammen mit seiner Frau das Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa, auf einer Ostseehalbinsel 35 Kilometer westlich von Tallinn.
Er sei beschämt, im Rampenlicht zu stehen, sagte er 2012 in seiner Dankesrede für den Kompositionspreis des Estnischen Musikrates. "Anonymous", wie die vielen unbekannten Autoren, die "wie ein Himmelsfirmament über uns glänzen", wäre "viel ehrlicher". Ein bisschen bedient es das Klischee: ein weltferner, bärtiger Mönch und Mystiker.