"Wenn wir Reformen ausschließen, sind wir nicht mehr Kirche"
"Von Pharisäern mit Vorsicht zu genießen", steht auf dem Cover: An diesem Montag erscheint das neue Buch von Pater Martin Werlen, dem früheren Abt des Schweizer Klosters Einsiedeln. In "Raus aus dem Schneckenhaus!" wendet er sich gegen eine Kirche, die sich selbstgerecht abschottet, um nicht von den "Viren der Zeit" angesteckt zu werden. Stattdessen brauche es nämlich einen Glauben, der mutig bei den Menschen ist und zusammen mit ihnen den Weg in die Zukunft sucht – gerade in Krisenzeiten wie der aktuellen.
Frage: Pater Martin, ausgerechnet mitten in der Corona-Pandemie fordern Sie die Kirche dazu auf, aus ihrem "Schneckenhaus" rauszugehen. Wie nehmen Sie die Kirche in dieser Krise wahr?
Pater Martin: In der Corona-Krise haben sich die unterschiedlichen Kirchenbilder ganz pointiert gezeigt: Es ging von der Aussage "Das kirchliche Leben erliegt" bis hin zu ganz großer Kreativität. Mich hat eine zentrale Glaubenserfahrung begleitet und immer wieder herausgefordert: Gott ist nicht dort, wo wir sein möchten, sondern dort, wo wir sind. Die Kirche muss sich dem stellen und in dieser Situation, in dieser Krise, Gott suchen. Es hat sich auch gezeigt, dass die Kirche zutiefst kreativ sein muss, weil Gott kreativ ist. Will sie Zeugnis von diesem lebendigen Gott ablegen, kann sie gar nicht anders, als kreativ zu sein. Wenn man davon spricht, dass die Kirche in dieser Lage "erliegt", dann ist das ein Bild, das alles andere als katholisch ist.
Frage: Inwiefern?
Pater Martin: In so einer Sichtweise geht es nur darum, ein System aufrechtzuerhalten. Aber Kirche ist Zeugin der Gegenwart Gottes – zu jeder Zeit. Da kann man nicht sagen, wenn die Corona-Pandemie vorbei ist, können wir wieder Kirche sein. Sondern in dieser Krise kann ich bei den Menschen sein, in ihrer Not. Das ist Kirche. Oscar Romero sagte, wo die Kirche bei den Menschen ist, bei ihren Freuden und Sorgen, da ist Christus gegenwärtig. Diesen Schritt müssen wir wagen. Solange die Kirche eine große Macht hatte, die vorgeben konnte, wie die Dinge zu laufen haben und sich in ihren eigenen Raum zurückziehen konnte, war es nicht notwendig, das zu entdecken. Dadurch sind viele Facetten des Evangeliums gar nicht mehr oder nur geschwächt wahrgenommen worden. Aber das geht heute nicht mehr. Um wieder mit Romero zu sprechen: Die Menschen haben sich von der Kirche entfernt, weil die Kirche sich von ihnen entfernt hat.
Frage: Sie plädieren in ihrem Buch beispielsweise für einen anderen Blick auf Kirchenaustritte und sagen, die Kirche soll sich nicht so sehr auf die Zahlen fixieren…
Pater Martin: Gerade von den Ausgetretenen können wir lernen: Wie erleben sie Kirche, was erfahren sie von ihr? Wenn Menschen nicht mehr erfahren, was Kirche ist, dann können sie diese verlassen, ohne dass ihnen etwas fehlt. Wenn Kirche nur als Institution wahrgenommen wird, die sagt, dieses und jenes darf man nicht tun – welchen Grund haben die Leute dann noch, zu ihr zu gehören? Aber Kirche ist doch zutiefst geteiltes Leben. Das, was die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" an den Anfang setzt – Angst, Freude, Hoffnung und Trauer teilen –, dass all das auch Kirche ist, erfahren viele Menschen drinnen und draußen nicht.
Frage: Wie kann die Kirche diesen Autoritätsverlust, den Sie ansprechen, wettmachen?
Pater Martin: Indem sich vor allem Amtsträger nicht wegen ihres Standes absondern, sondern bei den Menschen sind – und zwar wortwörtlich. Die Frage ist doch: Hat man in der Kirche Autorität, weil einen der Stand von anderen abhebt? Oder hat man nicht gerade deshalb christliche Autorität, weil man mitten unter den Menschen ist? Bei der Eröffnung der Amazonas-Synode hat mich sehr beeindruckt, dass Papst Franziskus bei der Prozession vom Petersdom zur Synodenhalle mitten unter den anderen Menschen gegangen ist. Das geht zu Herzen und da merkt man plötzlich, das ist Kirche: Den Gott bezeugen, der nicht von oben herab spricht, sondern Mensch wird.
Frage: Sie schreiben, Ihr Buch ist für Pharisäer schwer zu verdauen. Wen meinen Sie damit konkret?
Pater Martin: Damit ist natürlich nicht die Gruppe vor 2.000 Jahren gemeint, sondern die Versuchung eines jeden glaubenden Menschen, dass man plötzlich festgefahren ist und dass man mehr das Gesetz in den Vordergrund stellt als den Menschen, der in Not ist. Dass man sich selbst als Besseren wahrnimmt als die, die danebenstehen, dass man verachtend auf die anderen schaut, dass man auf die Einhaltung von Regeln pocht. Wenn wir die Pharisäer im Neuen Testament wahrnehmen, dann können wir auch die aktuelle Situation der Kirche besser verstehen.
Frage: Nehmen Sie die Amtskirche in diesem Sinne als pharisäisch wahr?
Pater Martin: Das kann man pauschal so nicht sagen. Natürlich unterliegen Amtsträger genauso dieser Versuchung wie jede und jeder Getaufte. Aber ich nehme schon wahr, dass – und ich habe das als Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz auch miterlebt – die pharisäischen Kreise sehr dominant in der Kirche sind. Bischöfe, die merken, dass eine Reform eigentlich dringend wäre, haben nicht den Mut, Schritte zu tun, weil sie sich vor den Reaktionen fürchten – oder sie werden von Leuten blockiert, für die alles beim Alten bleiben muss. In Deutschland merkt man das ganz deutlich beim Synodalen Weg: Da kommt eine Angst zum Vorschein. Und Angst ist typisch für Pharisäer. Wenn wir die Pharisäer im Evangelium betrachten, dann ist da immer diese Angst, dass der Glaube verloren geht, wenn Vorschriften nicht eingehalten werden. So eine Haltung herrscht auch in der Kirche vor. Dazu schreibe ich im Buch: "Wer im Schneckenhaus bereits Herzflimmern bekommt, wenn er das Wort 'Reform' hört, sollte sich fragen, ob nicht viele gerade deswegen nach draußen gehen, damit sie nicht herzkrank werden." Wenn wir Reformen ausschließen, sind wir nicht mehr Kirche.
Frage: Warum?
Pater Martin: Weil Kirche sein bedeutet, unterwegs zu sein. Der Begriff, der in der Apostelgeschichte für Kirche gebraucht wird, beschreibt das großartig: Weg.
Frage: Sie betonen auch, dass die Auseinandersetzung mit den Pharisäern im Neuen Testament der Kirche helfen kann, einen Weg aus verschiedenen Sackgassen, etwa den Reformstau, zu finden. Wie meinen Sie das?
Pater Martin: Wenn wir die Pharisäer-Stellen im Evangelium ernstnehmen, dann merken wir plötzlich, wie vertraut uns das ist. Ich habe immer mehr realisiert, wie aktuell diese Auseinandersetzungen sind. Zum Beispiel die Frage: Wer ist mein Nächster? Jesus dreht die Frage um: Wem kann ich Nächster werden? Dem Menschen, der in Not ist. Da geht es in aller Klarheit nicht um die Religionszugehörigkeit oder um die Nationalität. Wie oft haben Pharisäer ihre Dubia ("Zweifel", Anm. d. Red.) angebracht, um Jesus eine Falle zu stellen! Sie haben Jesus damals der Übertretung des Gesetzes bezichtigt. Und wenn heute jemand nach einer Reform ruft, sagen bestimmte Kreise sehr schnell: Das ist nicht mehr katholisch. Oder: Das ist Häresie. Das ist genau die Situation, in der Jesus war. Aber er ist nicht eingeknickt. Er hat sich auch nicht ständig zu rechtfertigen versucht. Er hat gehandelt. Und gerade jetzt in der Corona-Krise wird klar: Wenn wir nicht den Mut haben, etwas zu wagen, dann ist klar, dass das das Ende des Systems ist. Diese Freiheit, dieses Wagnis des Glaubens – das ist das, was Gott heute von uns fordert.
„Wenn heute jemand nach einer Reform ruft, sagen bestimmte Kreise sehr schnell: Das ist nicht mehr katholisch. Oder: Das ist Häresie. Das ist genau die Situation, in der Jesus war. Aber er ist nicht eingeknickt. Er hat sich auch nicht ständig zu rechtfertigen versucht. Er hat gehandelt.“
Frage: Was ist für Sie wahre Katholizität?
Pater Martin: Wichtig ist für mich, dass wir das Wort "Katholizität" nie eingrenzend gebrauchen. Das ist genau das Gegenteil seiner eigentlichen Bedeutung: Weite. Diese Weite der Liebe Gottes muss in der Katholizität sichtbar werden. Wenn ein Kardinal aus Angst, dass Reformen etwas bewegen könnten, sagt, die Kirche muss katholisch bleiben, kann ich nur den Kopf schütteln. Ich würde sagen, die Kirche muss katholischer werden. Wird sie katholischer? Das ist die Kardinalfrage. Für mich ist das ein großartiger Begriff, den wir genau so wie andere ins Gegenteil drehen. Klar, die Kirche – und ich meine hier nicht eine Konfession – ist katholisch, aber das ist ein Begriff, der nach oben offen ist. Ich kann nicht sagen, jetzt bin ich katholisch und das genügt. Katholisch zu sein ist ein Weg in diese Weite Gottes. Oder wie es der heilige Benedikt sagt: Wer im Glauben voranschreitet, dem weitet sich das Herz. Das ist Katholizität: ein weites Herz haben.
Frage: Wie kann Kirche diese Weite besser erfahrbar machen?
Pater Martin: Indem sie lebt, was sie im Wort Gottes hört und was sie in den Gebeten bekennt. Wir müssen nicht etwas Neues erfinden, sondern unsern Glauben im Heute leben. Wenn wir wirklich in der Nachfolge Jesu sind und uns sein Wort und sein Beispiel zu Herzen gehen lassen, dann können wir gar nicht anders, als katholisch zu werden, das heißt zu Menschen mit einem weiten Herzen.
Frage: Was ist Ihre Wunschvorstellung von Kirche?
Pater Martin: Wenn ich darauf eine kurze Antwort gebe, dann ist die sofort einengend. Versuchen wir es mir einem Bild. Ich bin in den Bergen aufgewachsen, und die Propstei St. Gerold im Großen Walsertal, wo ich jetzt wirke, liegt auch in den Bergen. Solche Orte schenken die Erfahrung von Geborgenheit, führen unsern Blick nach oben. So stelle ich mir auch Kirche vor: Geborgenheit in der Gemeinschaft, die miteinander unterwegs ist und den Blick nach oben richtet. Alle Begriffe, die im Glaubensleben so zentral sind, sind Begriffe, die nach oben offen sind: Glaube, Hoffnung, Liebe, Katholizität. In dem Moment, in dem wir das begreifen, werden wir nicht mehr abgrenzend sein, sondern diese Offenheit auch erfahrbar machen. Ich möchte Menschen zu dieser Offenheit bewegen, dass sie entdecken, was Glaube heißt, welch großes Geschenk er ist – und dass wir keine Angst um ihn haben müssen, sondern ihn einfach leben dürfen, in guten und in schwierigen Tagen.