Lange nicht mehr "Hauptstadt des deutschen Protestantismus"

Stuttgarter "Atlas der Religionen": Drei Viertel nennen sich religiös

Veröffentlicht am 20.10.2020 um 11:59 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Einst galt Stuttgart als "Hauptstadt des deutschen Protestantismus". Das ist lange vorbei, wie der neue "Atlas der Religionen" zeigt. Viele Menschen sehen sich immer noch als religiös, doch gerade das christliche Milieu hat sich erheblich verändert.

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Rund drei Viertel der Stuttgarter halten sich für religiös. Wie aus dem am Montag in der Landeshauptstadt vorgestellten "Atlas der Religionen" hervorgeht, leben in Stuttgart Angehörige von rund 250 Glaubensgemeinschaften unter anderem aus den fünf Weltreligionen Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Judentum. Hinter dem in dieser Form bundesweit einmaligen Projekt eines Religionsatlasses stehen die Kommune und der Stuttgarter "Rat der Religionen".

Aus dem knapp 200-seitigen Bericht geht hervor, dass im Jahr 1900 von den Einwohnern 82,5 Prozent evangelisch, 15,4 Prozent katholisch und 2,1 Prozent keiner der beiden christlichen Gruppen zuzurechnen waren. Dies führte zu der Einschätzung, dass Stuttgart als Hauptstadt des deutschen Protestantismus galt. Die Melderegister für 2019 zeigen, dass von den 614.599 Stuttgartern aus etwa 180 Ländern je ein knappes Viertel der evangelischen und der katholischen Kirche angehören. Mit 52,4 Prozent gehören etwas mehr als die Hälfte keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft an.

Weil das Religionsverständnis der Muslime anders ist als bei Christen, lässt sich der Anteil der sich dem Islam zuordnenden Menschen nur schätzen. Nach Abwägung verschiedener Faktoren gehen die Autoren der Studie davon aus, dass in Stuttgart etwa 59.000 Menschen muslimischen Glaubens leben. Jüdischen Glaubens waren demnach 2019 etwa 1.480 Stuttgarter. Dies entspricht einem Anteil von 0,2 Prozent an der Gesamtbevölkerung der Stadt. Das Judentum in Stuttgart ist demnach stark durch Zuzug geprägt.

Katholischer Stadtdekan regte Studie an

Erheblich verändert hat sich in den vergangenen Jahrzehnten das christliche Milieu: Der Religionsatlas geht von mehr als 70 verschiedenen Gemeinschaften aus. So rechnen sich fast ein Drittel der evangelischen Christen einer Freikirche zu. Durch Flucht und Vertreibung, aber auch durch Arbeitsmigration fanden orthodoxe und orientalische Kirchen am Neckar eine Heimat. Während sich die beiden Großkirchen bei den Mitgliederzahlen annäherten, gibt es große Unterschiede bei der Herkunft: In der katholischen Kirche hat fast die Hälfte einen Migrationshintergrund, bei der evangelischen Kirche in Stuttgart jeder Neunte.

Der katholische Stadtdekan Christian Hermes sagte, während die Bindung an die Volkskirchen abnehme, stiegen Vielfalt und Organisationsform der Religionsgemeinschaften an. Er hatte die Studie angeregt. "Wenn ein Miteinander in einer pluralen Gesellschaft gelingen soll, sind nicht gleichgültige Unkenntnis, sondern Verständnis, Interesse und Wissen übereinander die Grundlage für eine fruchtbare Verständigung", so Hermes.

Die Umfrage, für die 4.000 Antworten ausgewertet wurden, zeigt, dass nicht alle Kirchenmitglieder besonders religiös sind, es aber zugleich sehr viele religiöse Stuttgarter gibt, die keiner der beiden großen Kirchen angehören. Etwa drei Viertel bezeichneten sich als zumindest ein wenig religiös. 17 Prozent sehen sich als ziemlich oder sehr religiös im engeren Sinne. Die große Mehrheit - rund die Hälfte - ist demnach wenig bis mittel religiös, denkt zumindest gelegentlich über Religiöses nach, glaubt an Gott oder etwas Göttliches und hat das Gefühl, das Gott oder etwas Göttliches schon mal in ihr Leben eingegriffen hat. (KNA)