Kolumne: Mein Religionsunterricht

Warum die Wahrheit religiöser Geschichten nicht in den Fakten liegt

Veröffentlicht am 23.10.2020 um 15:30 Uhr – Lesedauer: 

Mainz ‐ Sind die Geschichten der Bibel und der Heiligen wahr? Ja, findet Reli-Lehrer Elmar Middendorf – aber anders als gedacht. Den Unterschied zwischen der tiefen Wahrheit dieser Erzählungen und deren Faktizität bestimmt auch seinen Unterricht.

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Als Religionslehrer werde ich nicht nur im Religionsunterricht mit der Frage nach der Glaubwürdigkeit meiner Religion konfrontiert. Eine Freundin erzählt mir, sie gehe nicht mehr zum Gottesdienst. Das, was der Pfarrer über Jesus erzähle, über das, was da vor 2000 Jahren alles geschehen sein soll, das könne man einfach nicht glauben.

In einer Podiumsdiskussion über den Sinn von Religionsunterricht wird mir eine Studie vorgehalten, der zufolge Kinder, denen man die Schöpfungsgeschichten erzählt, später Schwierigkeiten haben, die Evolutionstheorie zu verstehen. Mit solchen Märchen müsse Schluss sein. Der Religionsunterricht gehöre abgeschafft.

Der Bestsellerautor Yuval Noah Harari schreibt: "Wer also Facebook, Trump oder Putin dafür verantwortlich macht, eine  neue beklemmende Zeit des Postfaktischen einzuläuten, sei daran erinnert, dass sich Millionen Christen schon vor Jahrhunderten in eine selbstverstärkende mythologische Blase eingeschlossen haben und es niemals wagten, die faktische Wahrhaftigkeit der Bibel infrage zu stellen."

Das Problem der Sprachbildung

Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass die Wahrheit biblischer Texte daran gemessen wird, ob sie tatsächlich Geschehenes beschreiben oder berichten. Das entspricht aber meistens gerade nicht dem, was die Autoren der Texte beabsichtigt haben. Der Religionspädagoge Hubertus Halbfas schreibt: "Das Problem besteht nicht darin, dass Religionen in Mythen und Legenden, Symbolen und Metaphern reden, sondern in der Unfähigkeit, diese Sprache in ihrer gattungsspezifischen Form zu erfassen. Das Verhältnis zu den Schätzen archaischer Kultur, zu den Zeugnissen alter und heutiger Religionen und auch das Verhältnis zu den biblischen und christlichen Glaubensüberlieferungen hängt an dieser Sprachbildung."

In der 6. Jahrgangsstufe steht das Thema "Legenden" auf dem Lehrplan. Ich wähle als Beispiel die Christophoruslegende. Man erzählt sich, dass Christophorus, "ein Mann von gewaltiger Größe", sich eines Tages aufmacht, "den mächtigsten König zu suchen, der in der Welt wäre". Er findet den mächtigsten König und tritt in seine Dienste. Doch bald merkt er, dass dieser vor einem noch Mächtigeren Angst hat, dem Teufel. So wechselt Christophorus auf die Seite des Teufels. Aber auch der Teufel fürchtet einen noch Größeren. Jedes Mal, wenn er nur in der Ferne ein Bild des Gekreuzigten sieht, macht er einen großen Bogen darum. Also quittiert Christophorus auch hier den Dienst und macht sich erneut auf die Suche.

Medaillions mit dem Abbild des Heiligen Christopherus
Bild: ©KNA

Die Legende des heiligen Christophorus ist durch viele Devotionalien präsent.

Schließlich trifft er auf einen Einsiedler. Dessen Rat, viel zu beten, gefällt ihm jedoch nicht. Auch der zweite Rat zu fasten, passt nicht zu einem kräftigen Kerl wie Christophorus. Mit dem dritten Rat aber will er es versuchen. Er soll den Wanderern helfen, einen reißenden Fluss zu überqueren. Gestützt auf seinen langen Stab geleitet er nun täglich Menschen durch die gefährliche Strömung. Eines Tages hört er ein leises Rufen wie von einem kleinen Kind. Er reagiert zunächst zweimal nicht, doch beim dritten Mal tritt er vor seine Hütte und sieht tatsächlich ein kleines Kind, das über den Fluss getragen werden will.

Ein Kind wird immer schwerer

Er nimmt das Kind auf seine Schulter. Doch während er durch den Fluss schreitet, wird ihm das Kind immer schwerer, so dass er fast unterzugehen droht. Er schafft es jedoch mit letzter Anstrengung ans Ufer und sagt: "'Du hast mich in große Gefahr gebracht, Kind, und bist auf meinen Schultern so schwer gewesen: Hätte ich alle diese Welt auf mir gehabt, es wäre nicht schwe­rer gewesen.' Das Kind antwortete: 'Das soll dich nicht wundern, Christophorus. Du hast nicht allein alle Welt auf deinen Schultern getragen, sondern auch den, der die Welt erschaffen hat.'" Christophorus stößt seinen Wanderstab in die Erde. Am nächsten Morgen wächst an dem toten Stab frisches Grün.

Die Schülerinnen und Schüler der 6. Klasse sind inzwischen darin geübt, die zahlreichen Symbole der Geschichte zu identifizieren, z.B. den Fluss als Fluss des Lebens oder das Grün am toten Stab als Aufbrechen von etwas Neuem, Unerwartetem. "Dem höchsten König dienen" verweist auf den Wunsch, ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen. Die Bilder der Geschichte stammen aus einer vergangenen Zeit. Wie könnte man die Geschichte in unsere Zeit übertragen?

Die Lösungsvorschläge bleiben zunächst klischeehaft: Ein Mann will Karriere machen. Er arbeitet zunächst in der Firma von Bill Gates, glaubt aber dann bei einem Maffiaboss mehr erreichen zu können, bis er schließlich erkennt, dass er als Helfer bei den Schwestern der Mutter Theresa seine wahre Bestimmung findet. Doch im Gespräch wird nach und nach deutlich, dass hier Verhaltensmuster beschrieben werden, die sich bei allen Menschen jeden Alters finden lassen – auch im Schulleben. Plötzlich können alle aus der Gruppe davon berichten, wie beglückend es sein kann, wenn man anderen hilft, und wie frustrierend demgegenüber oft die Jagd nach äußerem Erfolg ist.

Wahrheit statt Faktizität

Nun stelle ich die Frage: Ist die Geschichte wahr? Kurzes Nachdenken. Christophorus hat es wahrscheinlich gar nicht gegeben. Das kann also so nicht passiert sein. Und dennoch erzählt die Geschichte von einer Wahrheit, die jeder in seinem Leben selbst entdecken kann. "Strebe nicht zuerst nach Ansehen und materiellem Wohlstand, sondern lass dich herausrufen durch die Not deiner Mitmenschen, dann wirst du glücklich!", das ist die Botschaft der Geschichte, und für die meisten meiner Schülerinnen und Schüler ist sie wahr.

Eine Bibel ist mit Sand bedeckt, sodass nur der Bibel-Schriftzug zu sehen ist
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Die Qualität biblischer Geschichten liegt nicht in deren Faktizität

In der Religionspädagogik nennen wir solche Geschichten "Geschichten des mitlaufenden Anfangs". Es sind Geschichten, die sich möglicherweise so nie zugetragen haben, sich aber dennoch täglich ereignen. Oft haben diese Geschichten zwar einen historischen Kern, aber ihre Aussageabsicht zielt auf etwas anderes als die Wiedergabe der Historie. Bei dem bekannten Rosenwunder der Heiligen Elisabeth zum Beispiel ist die Gestalt der Heiligen und ihr Einsatz für die Ärmsten sicherlich historisch verbürgt. Die Geschichte von der Verwandlung des Brotes in Rosen ver-"dichtet" buchstäblich das Leben der Elisabeth von Thüringen auf einen Moment, so dass ihre Ausstrahlung für den Leser und Hörer spürbar wird. Elisabeth lebte aus der Gewissheit, "dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" (Röm 8,28). Die Geschichte ermutigt dazu, es Elisabeth gleich zu tun.

Ein historischer Kern wird durch Fiktion kondensiert

"Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht, dann wohnt Gott schon in unserer Welt." Das Lied ist den Kindern bekannt. Viele können dem Satz zustimmen. Für sie ist er wahr. Diese Zustimmung ist ein subjektiver, sehr persönlicher Akt. Es ist ein Sprung in den Glauben. Die Wahrheit der Geschichte kann nur im existentiellen Sich-Einlassen darauf erfahren werden. Genau diesen Sprung in die Existenz ihres eigenen Lebens mögen viele fürchten, die einen biblischen Text wie ein Objekt behandeln, das man aus der Distanz analysieren kann. Glauben meint aber mehr! Eine Geschichte wird wahr durch unser Leben! Wer versucht, eine objektive Richtigkeit der Textaussage zu beweisen, verfehlt die Aussageabsicht gänzlich.

Wir sprechen über weitere Heiligenlegenden, die den Schülerinnen und Schülern schon begegnet sind, und entdecken überall dieses Phänomen. Plötzlich taucht die Frage auf: Wie ist das denn mit den Geschichten über Jesus? Sind das auch Legenden? Warum nicht? Auch sie haben immer einen historischen Kern, sind aber so erzählt, dass sie uns berühren, so dass wir vom Geist Jesu ergriffen werden.

Ein Schüler möchte mich provozieren. Er schaut verschmitzt und fragt: "Und die Ostererzählungen? Wie steht es damit?" Ich frage zurück: "Was denkst du denn?". Er überlegt, lächelt mich vielsagend an – und behält die Antwort für sich.

Von Elmar Middendorf

Der Autor

Elmar Middendorf unterrichtet an einem Mainzer Gymnasium die Fächer Katholische Religion, Mathematik und Musik. Er ist Regionaler Fachberater für Katholische Religion und stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbandes katholischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer an Gymnasien (BKRG).

Linktipp: Kolumne "Mein Religionsunterricht"

Wie funktioniert Religionsunterricht heute? Genau dieser Frage geht die neue katholisch.de-Kolumne nach. Lehrer verschiedener Schulformen berichten darin ganz persönlich, wie sie ihren Unterricht gestalten, damit sie die Jugend von heute noch erreichen.