Neymeyr: Unsere Gemeinden müssen lernen, wie Kirche zum Judentum steht
Der Erfurter Bischof Ulrich Neymeyr hat die in der Corona-Pandemie verstärkt verbreiteten Erzählungen einer jüdischen Weltverschwörung scharf verurteilt. "Das ist purer Antisemitismus", sagte Neymeyr im Interview. Er sieht auch die Kirche in der Pflicht, "christliche Wurzeln des Antisemitismus zu bekämpfen". In der Deutschen Bischofskonferenz ist Neymeyr für die Beziehungen zum Judentum zuständig.
Frage: Herr Bischof, in den "Querdenker"-Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen werden auch antisemitische Töne laut. Wie schätzen Sie das ein?
Neymeyr: Seit Beginn der Pandemie macht dort die Theorie einer jüdischen Weltverschwörung die Runde. Ich finde es wirklich erschreckend, wie in der Antike und im Mittelalter die Juden für Seuchen verantwortlich zu machen. Das ist purer Antisemitismus. Dass es nicht nur in schrägen Internet-Chats, sondern auch in solchen Kundgebungen wiederkehrt, finde ich sehr beängstigend.
Frage: Wie reagieren Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft Ihnen gegenüber darauf?
Neymeyr: Sie sagen mir, dass sie auch hier in Erfurt nicht mehr die Kippa tragen oder dass sie einen Hut oder eine Kappe darauf setzen. Antisemitismus gab es in der Gesellschaft aber auch schon vor Corona. Im Osten Deutschlands ist das noch verstärkt, weil in der DDR keine Auseinandersetzung über die Ursachen des Völkermords an den Juden stattfand. Als nach der Wende Neonazis aus dem Westen kamen, fanden sie hier Gleichgesinnte. Es gibt einen harten Kern, aber darüber hinaus auch weit verbreitete Vorurteile gegenüber Juden, wie ich es mir in einer modernen Gesellschaft kaum hätte vorstellen können.
Frage: Betrifft es auch die Kirchengemeinden?
Neymeyr: Ich sehe es als Herausforderung an, auch in unseren Gemeinden deutlich zu machen, wie die katholische Kirche jetzt ihr Verhältnis zum Judentum definiert. Da haben wir noch viel Arbeit vor uns. Wenn man Katholiken fragt, wer schuld ist am Tod Jesu, werden sicher einige sagen: die Juden. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das von 1962 bis 1965 stattfand, hat es aber eine ganz positive Entwicklung im Verhältnis zum Judentum gegeben. Das zu allen Gläubigen zu bringen, auch zu den Pfarrern und Religionslehrern, bleibt eine Herausforderung. Wir müssen uns der geschichtlichen Verantwortung stellen, christliche Wurzeln des Antisemitismus zu bekämpfen, die es zweifelsohne gibt.
Frage: Wie gehen Sie mit Kritik an der Politik des Staates Israel um?
Neymeyr: In Gesprächen vor allem mit orthodoxen Rabbinern ist auch die in der Bibel genannte Landverheißung Gottes an das Volk Israel ein Thema. Es war großartig, dass wir uns mit den Rabbinern über dieses Thema und die politischen Konsequenzen für heute austauschen konnten.
Frage: Was erwarten die Rabbiner von der katholischen Kirche mit Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus?
Neymeyr: Juden nehmen uns als besondere Verbündete wahr, weil wir an einen Schöpfergott glauben, die fünf Bücher Mose als heilige Schrift sehen und nicht unter Juden missionieren.
Frage: Inwieweit hat die Kirche eine Wächterfunktion, wenn sich die Grenzen verschieben, was gegen Juden gesagt werden kann?
Neymeyr: Es ist eine Aufgabe der Kirche, deutlich zu machen, was überhaupt nicht geht. Wenn jemand die Anti-Corona-Maßnahmen mit der Judenverfolgung vergleicht, ist das eine Verharmlosung des Holocaust. Von der Verharmlosung zur Gutheißung ist es nur ein kleiner Schritt und dann auch zur Wiederholung. Das Attentat von Halle war ein solcher Versuch.
Frage: Ist unsere Sicht auf das Judentum zu sehr auf den Holocaust verengt?
Neymeyr: Das ist so. Überdies kamen die Täter, von denen viele auch nach dem Krieg noch da waren, lange nicht in den Blick. Erst jetzt wird aufgearbeitet, welche Karrieren sie nach 1945 unter anderem in der Justiz und im Auswärtigen Amt gemacht haben. Zugleich ist es mir aber wichtig, Juden nicht nur unter dem Aspekt zu sehen, was nichtjüdische Deutsche ihnen angetan haben, sondern auch darauf, wie sehr ihre Kultur Deutschland geprägt hat. Deshalb halte ich das kommende Jubiläumsjahr zu 1.700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland und zu 900 Jahren in Thüringen für ganz wichtig.