Die Wurzel Jesse: Biblische Bilder in einem bekannten Weihnachtslied
"Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart": Mit diesen Worten beginnt ein altes Weihnachtslied, das auch in unseren Tagen noch gerne in den Gottesdiensten gesungen wird. Eigentlich ist es ein recht eigentümliches Lied, da der Text nicht unbedingt sehr genaue Aussagen liefert. Man könnte auch etwas salopp formulieren: Zumindest die erste Strophe schleicht sich ein bisschen um den heißen Brei herum. Denn so ganz klar wird nicht, was mit der "Ros" und der "Wurzel" gemeint ist, von der schon "die Alten" gesungen haben. Es ist eben ein Rätsellied, das erst in der zweiten Strophe die Lösung bietet, wenn es auf Maria und ihr Kind verweist, das "Röslein" mit der Muttergottes identifiziert und das "Blümlein" mit dem Jesuskind. Wenngleich das Lied auch zügig des Rätsels Lösung nachschiebt, so ist es doch mitunter nicht ganz leicht verständlich. Denn was hat es denn überhaupt mit "Ros" und "Wurzel" auf sich? Wie kommt der Autor des Liedtextes überhaupt darauf, dieses Bildmaterial in Bezug auf die Geburt Jesu zu verarbeiten? Ein Blick in die Geschichte ist hilfreich, um auf einen Motivkomplex hinzuweisen, der in der Adventszeit und an Weihnachten eine sehr große Rolle spielt.
Um die Grundlage der sogenannten "Arbor-Jesse-Thematik" (also "Wurzel-Jesse") zu finden, ist ein Blick in das Alte Testament, genauer gesagt in das Prophetenbuch Jesaja angeraten. Hier nämlich taucht das Motiv zum ersten Mal sehr prominent auf. Im elften Kapitel des Jesaja-Buches findet sich eine Zukunftsvision, in welcher der Prophet folgendes vorhersagt: "Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn." (Jes 11,1f) Der Prophet Jesaja spricht von einem Baumstumpf, also einer Wurzel, dem Rest eines abgeschlagenen oder gefällten Baumes und einem "jungen Trieb", der aus dieser Wurzel neu hervorsprießt. Worauf verweist dieses Bild im Kontext des Jesaja-Buches?
Eine prekäre Situation
Es weist zunächst auf eine sehr prekäre Situation hin: Juda ist von der assyrischen Macht heimgesucht worden; Sanherib, der König von Assur, hat Juda geplündert und zerstört. Die Lage in Jerusalem ist düster, beinahe aussichtslos. Der Prophet vergleicht Juda mit einem abgeschnittenen Baum, von dem nur noch ein kläglicher Rest übriggeblieben ist. Von der einstigen Pracht und Machtentfaltung des Staates ist nicht mehr geblieben, als die Wurzel. Doch Jesaja gibt sich mit dieser dunklen Beschreibung nicht zufrieden, denn in seinem Trost-Wort verheißt er etwas anderes: Das Ende ist noch lange nicht gekommen, aus der Wurzel wird ein neuer Trieb sprießen, der einen neuen, mächtigen Baum hervorbringen wird. Oder anders gesagt: Aus dem Haus Davids wird ein neuer Herrscher hervorgehen, der ein neues, universales Friedensreich bauen wird. Der "Baumstumpf Isais" verweist auf den Vater von David und damit auf die davidische Dynastie, die in einer heilvollen Zukunft fortgesetzt wird. Es gibt Hoffnung, obwohl die äußeren Umstände so gar nicht danach aussehen. Das ist die Botschaft des Propheten Jesaja, die er mitten hinein in die Erfahrung des erschütterten Juda spricht.
Aus dem konkreten Kontext herausgelöst wurde die Perikope des Jesaja schon bald messianisch verstanden. Der Prophet schaut voraus, er sieht die Zukunft, die irgendwann einmal eintreten wird. Und er erblickt in dieser Zukunft einen König aus dem Haus Davids, der messianischen Züge trägt, weil mit seinem Herrschaftsantritt ein universales Reich des Friedens und der Gerechtigkeit anbricht. In dieser Zeit wird die Schöpfung neu werden, der umfassende Tierfrieden ist ein Bild dafür. Aus christlicher Perspektive wurde dieser alttestamentliche messianische Text schon sehr früh auf Christus hin gedeutet: In der Prophetie des Jesaja erkannte man die Vorhersage der Geburt Christi. Mehr noch: Mit der Geburt des Kindes im Stall von Bethlehem sah man die alte Verheißung des Jesaja ein für alle Mal erfüllt. Das Kind von Betlehem wurde als jener Reis gedeutet, der aus dem Baumstumpf Isais erwächst und auf welchem sich der Geist des Herrn niedergelassen hat.
Von Jesaja zu Jesus
Freilich hat man schon sehr früh alles unternommen, um diese Verbindungslinie zwischen dem Kind von Bethlehem und der jesajanischen Prophetie deutlich hervorzustellen. Schon der Evangelist Lukas betont in seiner Vorgeschichte, dass Maria "mit einem Mann namens Josef verlobt (war), der aus dem Haus David stammte" (Lk 1,27). Und unmittelbar vor der Geburt des Kindes ziehen Maria und Josef gar "von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Bethlehem heißt" (Lk 2,4); der Grund ist eine Volkszählung, bei der sich jeder in "seiner Stadt" eintragen lassen muss (Lk 2,3). Lukas stellt die Verbindung zum Haus David sehr deutlich hervor. Natürlich ist es Josef, über den die Anbindung zu David erfolgt; eine mitunter doch schwierige Konstellation, ist Josef doch nur der Adoptivvater, womit Jesus eigentlich keine direkte Verbindung zum "Haus Davids" besitzt. Der Evangelienautor scheint sich an dieser Kombination nicht gestört zu haben, zeichnet er doch in seiner Geburtsgeschichte eindeutig die Erfüllung jener messianischen Prophetie aus Jesaja 11. Jesus wird als Messias und rechtmäßiger Nachkomme aus dem Haus Davids legitimiert; das ist die Aussage, die gerade bei Lukas sehr deutlich zum Tragen kommt.
Doch auch andernorts im Neuen Testament wird auf die Wurzel-Jesse-Thematik rekurriert: Der Stammbaum Jesu, wie ihn der Evangelist Matthäus entwirft, baut sich auch von David her auf. Auch hier ist es Josef, der Mann Mariens, der als Nachkomme aus dem Geschlecht Davids vorgestellt wird (vgl. Mt 1,1-17). Eine Parallelstelle des Stammbaums findet sich wiederum bei Lukas (3,23-38); hier wird berichtet, dass Jesus als Sohn Josefs galt (3,23), welcher wiederum als Nachfahre von David und seinem Vater Isai gekennzeichnet wird. Paulus sieht Jesus ebenfalls als "Nachkomme Davids" (Röm 1,3) und in der Johannesapokalypse heißt es gar: "Ich, Jesus, (…) bin die Wurzel und der Stamm Davids, der strahlende Morgenstern." (22,16).
Oft genutztes Motiv
Auch in der Kunst und Literatur wurde das Wurzel-Jesse-Motiv gerne und oft rezipiert. Bildliche Darstellungen finden sich zum Beispiel im Limburger Dom oder in der Kathedrale von Chartres. Auffällig ist dabei, dass häufig nicht eine Wurzel oder ein Baumstumpf dargestellt werden, sondern der schlafende Isai, aus dem als Reis mehrere Personen hervorwachsen. Auch in die Hymnendichtung hat die Thematik Eingang gefunden; ein prominentes Beispiel ist das sogenannte "Melker Marienlied", das zwischen 1130 und 1160 entstanden ist. Dort heißt es in einer Strophe: "Jesaja, der Prophet, hat von dir gesprochen. Er sagte voraus, wie vom Stamme Jesse ein Reis entspringen werde; daraus solle eine Blume hervorgehen: Das bezeichnet dich und deinen Sohn, heilige Maria."
"Es ist ein Ros entsprungen": Wer den Liedtext einmal genau verfolgt, stellt schnell fest, dass hier einiges schief hängt. Denn das Reis aus der Wurzel wird nicht mit Jesus identifiziert, sondern mit Maria. Jesus hingegen ist ein Blümlein an diesem Reis. Schuld an dieser kruden Beschreibung ist ein Wortspiel: In der Vulgata lautet Jes 11,1 nämlich so: "Egredietur virga de radice Iesse". Schon bald hat man einen lautmalerischen Zusammenhang zwischen "virga" (dem Reis) und "virgo" (der Jungfrau) hergestellt und deshalb das Reis auf Maria hin gedeutet. Das jedoch hat zur Folge, dass das Rätsellied noch unverständlicher wird, denn eine Verbindung zwischen Maria und dem Haus Davids, wird im Neuen Testament an keiner Stelle erwähnt. Vielleicht ist es daher gar keine so schlechte Idee, das Lied einmal genauer anzuschauen und das Motiv der Wurzel Jesse im Hinterkopf zu haben.