Entsetzen in Irland: 9.000 Kinder starben in katholischen Mütterheimen
Den Verdacht gab es seit Jahrzehnten. Immer wieder berichteten spielende Kindern und Bauarbeiter von Knochenfunden auf dem Gelände des katholischen ehemaligen Mutter-Kind-Heims im westirischen Tuam. Die Bewohner der Kleinstadt vermuteten schon lange vor offiziellen Untersuchungen ein unmarkiertes Massengrab.
Nun gibt es Gewissheit – und das Ausmaß des Grauens ist noch größer. Laut dem am Dienstag vorgestellten Abschlussbericht einer 2015 von der irischen Regierung eingesetzten Untersuchungskommission starben allein in Tuam 978 Kinder; in den 18 untersuchten katholischen Einrichtungen für unverheiratete Frauen im Zeitraum zwischen 1922 bis 1998 insgesamt rund 9.000 Kinder. Ein Großteil der Babys wurde nicht älter als ein Jahr. Todesursachen waren unter anderem Atemwegserkrankungen und Magen-Darm-Entzündungen – die Sterblichkeitsrate in den Heimen war mehr als doppelt so hoch wie außerhalb.
Uneheliche Kinder galten als Schande
56.000 Frauen und 57.000 uneheliche Kinder lebten laut dem Bericht im untersuchten Zeitraum in den Einrichtungen. Meist handelte es sich um unverheiratete Schwangere, die dort ihre Kinder zur Welt bringen sollten. Denn uneheliche Kinder galten im traditionell katholischen Irland als Schande. Die Neugeborenen wurden als Waisen im Heim großgezogen oder, häufig ohne Einverständnis der Eltern, zur Adoption freigegeben.
Doch wer trägt die Schuld am Tod der Tausenden Kinder? Bereits in der Vergangenheit hatte die Vereinigung katholischer Priester in Irland betont, die Kirche müsse wegen der herausgehobenen Position, die sie damals innehatte, einen großen Teil der Verantwortung übernehmen. 2018 bat Papst Franziskus bei seinem Irland-Besuch um Vergebung für das Versagen der Kirche und sprach auch mit Opfern der Mutter-Kind-Heime.
Nach der Vorstellung des Berichts am Dienstag entschuldigte sich der Vorsitzende der Irischen Bischofskonferenz, Erzbischof Eamon Martin von Armagh. Die Kirche sei Teil einer Geisteshaltung gewesen, "in der Menschen häufig stigmatisiert und abgelehnt wurden", so Irlands Primas. "Dafür und für die lang anhaltenden Verletzungen und emotionalen Belastungen, die sich daraus ergeben haben, entschuldige ich mich vorbehaltlos bei den Überlebenden und allen, die persönlich von den nun aufgedeckten Vorgängen betroffen sind."
Martin rief alle kirchlichen Verantwortungsträger auf, den Bericht sorgfältig zu lesen. "Gemeinsam müssen wir fragen: 'Wie konnte das geschehen?'" Vor allem müssten die Betroffenen Hilfe und Unterstützung erfahren.
"Wir waren Teil des Systems"
Auch der Orden der Bon-Secours-Schwestern, der das Heim in Tuam betrieb, entschuldigte sich. Die Vorgänge seien Teil einer Geschichte, in der viele Frauen und Kinder abgelehnt und "in der ihre angeborene menschliche Würde missachtet wurde, im Leben und im Tod". Weiter heißt es: "Wir waren Teil des Systems, in dem sie Not, Einsamkeit und schreckliches Leid erlitten." Das alles tue dem Orden "zutiefst leid". Von anderen Ordensgemeinschaften gab es ebenfalls Reaktionen des Bedauerns.
Auch Politiker übernahmen Verantwortung. Premierminister Micheal Martin sprach von "signifikanten Versäumnissen des Staates und der Gesellschaft". Am Mittwoch sprach er im Parlament eine offizielle Entschuldigung aus. Der Bericht liefere zutiefst "verstörende" Erkenntnisse zu einer "über Jahrzehnte hinweg vorherrschenden frauenfeindlichen Kultur in Irland". Junge Mütter und ihre Kinder hätten den Preis für eine "völlig gestörte Einstellung zu Sexualität und Intimität" zahlen müssen. Es sei "bittere Wahrheit", dass die "ganze Gesellschaft daran mitschuldig war".
Der für Kinder und Jugendliche zuständige Minister Roderic O'Corman sagte der "Irish Times", der Bericht enthülle eine "Frauenfeindlichkeit, die von der Regierung über den Staat bis hin zur Kirche reichte, aber auch die gesamte Gesellschaft durchdrang". Er sprach von massivem gesellschaftlichem Versagen.
Die Regierung werde eine finanzielle Entschädigung bereitstellen und Gesetze vorantreiben, um sterbliche Überreste zu exhumieren und Betroffenen Zugang zu Informationen zu gewähren, hieß es. Vor Journalisten sagte Martin, auch die beteiligten Orden sollten einen Beitrag zu einem Entschädigungsprogramm leisten, spezifizierte dies jedoch nicht.
Ziel: die vorherrschende öffentliche Moral nicht verletzen
Betroffene äußerten sowohl Erleichterung über die Anerkennung ihres Leids als auch Kritik. Susan Lohan, Mitbegründerin der Adoption Rights Alliance und Mitglied einer Gruppe von Überlebenden, sagte dem Sender RTE, mit der geplanten staatlichen Entschuldigung sei sie nicht einverstanden. Zuerst müssten die Betroffenen die Möglichkeit haben, den Kommissionsbericht zu lesen und zu verdauen – was viele Wochen dauern könne.
Zudem verwies sie darauf, dass die Untersuchungen der Kommission nur 18 Heime betrafen; es habe aber "im irischen System" rund 180 Einrichtungen gegeben. Staat und Kirche hätten zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass Frauen "hinter hohen Mauern eingekerkert wurden" – einzig und allein, um die damals vorherrschende öffentliche Moral nicht zu verletzen.