Misereor-Chef zur zweiten Fastenaktion im Corona-Modus

Spiegel: "Nicht nur Brotkrümel vom Tisch der Reichen verteilen"

Veröffentlicht am 20.02.2021 um 15:16 Uhr – Lesedauer: 

Aachen ‐ Schon zum zweiten Mal steht die Fastenaktion des Hilfswerks Misereor im Zeichen der Corona-Pandemie. Im Interview spricht Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel über die Lage im Beispielland Bolivien und über Solidarität in schwierigen Zeiten.

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Unter dem Motto "Es geht! Anders" beginnt am 21. Februar die diesjährige Fastenaktion des katholischen Entwicklungshilfswerks Misereor. Schwerpunktland ist diesmal Bolivien. Und nach 2020 muss sich Misereor schon zum zweiten Mal auf enorme Herausforderungen durch die Corona-Pandemie einstellen, wie Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel im Interview erläutert.

Frage: Pfarrer Spiegel, das Motto der aktuellen Misereor-Fastenaktion heißt "Es geht! Anders.". Was bedeutet das?

Spiegel: Es geht darum, dass eine andere Welt möglich ist. Und es liegt in unserer Hand, diese zu gestalten. Wir laden ein, über eine Neuausrichtung unserer Lebensweisen nachzudenken in dieser Fastenzeit.

Frage: Worüber konkret?

Spiegel: Zum Beispiel darüber, ob die Art unseres Konsumierens okay ist, wenn wir dabei mehr Ressourcen verbrauchen, als die Erde hergibt. Darüber, dass Milliarden in der Welt ein menschenunwürdiges Leben haben – etwa ohne sauberes Wasser, ohne soziale Absicherung und ohne adäquaten Zugang zu Gesundheitsversorgung. Mehr als 700 Millionen hungern weltweit, die Zahl der Tier- und Pflanzenarten geht zurück. Und es gibt viele weitere Indizien dafür, dass es anders gehen muss für eine gerechtere Welt.

Frage: Aber Ihr Motto heißt ja nicht "Es muss anders gehen", sondern: "Es geht! Anders."...

Spiegel: Es geht ja auch anders. Zum Beispiel im Alltag bei uns: Wenn wir fairer einkaufen und anders mobil unterwegs sind. Auch unsere Projektpartner im Süden zeigen, dass es anders geht – eben nicht nur darum, ein paar Brotkrümel von den Tischen der Reichen an die Armen zu verteilen, sondern dafür zu sorgen, dass es für jeden einen Platz gibt am Tisch. Etwa durch eine gute Ausbildung, durch umweltfreundlichere Produktion, durch Versöhnungsarbeit, durch den Einsatz für Rechte für Minderheiten. Jedes Projekt will sich von diesem "Es geht! Anders" durchleuchten lassen.

Frage: "Es geht! Anders." kann man aber in Corona-Zeiten noch ganz anders verstehen. Fast alles ist anders in der Pandemie – auch der Ablauf der Fastenaktion.

Spiegel: Allerdings. Schon vor einem Jahr waren wir das erste große Hilfswerk, dem der Lockdown einen Strich durch die Jahresaktion gemacht hat. Wir mussten improvisieren, vieles weglassen, anderes auf virtuelle Begegnungen umstellen – auch mit den Projektpartnern im Süden. Und das, was gut geklappt hat, haben wir weiter verfeinert für die aktuelle Aktion und neue Formate hinzugefügt. Wobei das Organisatorische ja nicht das Wichtigste ist.

Frage: Sondern?

Spiegel: Vor allem haben wir erlebt, dass Solidarität auch in diesen schweren Zeiten kein Fremdwort ist für sehr viele Menschen in unserem Land. Das beobachte ich insgesamt in der Gesellschaft, auch mit Blick auf unsere Fastenaktion. Da gab es unheimlich viel Kreativität, um sich zu informieren und um Spenden zu sammeln, was den Einbruch bei der Kollekte in den Gottesdiensten wettgemacht hat. Und eine zweite wichtige Erfahrung: Der Kontakt zu den Partnern im Süden ließ sich besser als gedacht auch über Videokonferenzen halten – auch wenn das natürlich die persönliche Begegnung auf Dauer nicht ersetzen kann.

Frage: Wenn Sie jetzt wieder zum Mitmachen aufrufen bei der Fastenaktion, gibt es aber auch Leute, die sagen: "Ein Jahr Corona mit Verzicht auf alles Mögliche reicht – jetzt kommen Sie mir nicht auch noch mit Fastenzeit." Was sagen Sie denen?

Spiegel: Zuerst nehme ich das ernst und kann es gut nachvollziehen, dass bei uns sehr viele Menschen leiden an der Situation. Zugleich erlebe ich, dass sich viele ansprechen lassen auf die Not der Menschen in den armen Ländern und darauf, dass das Coronavirus die ohnehin schon hohe Verletzlichkeit noch schlimmer macht und dass gerade in diesen Zeiten Solidarität und Hilfe geboten sind.

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Frage: Das Schwerpunktland der Aktion ist diesmal Bolivien. Wie ist die aktuelle Lage dort?

Spiegel: Zu den Besonderheiten gehört die enorme Vielfalt des Landes, die auch zu vielen sehr großen Herausforderungen führt: Es gibt in Bolivien rund 40 Sprachen und sehr viele verschiedene Naturregionen – von der Salzwüste über das Tiefland im Amazonasgebiet bis zur Andenregion, wo Menschen auf gut 4.000 Metern und mehr leben. Mehr als 40 Prozent der Bevölkerung sind indigener Herkunft. Und das Land gehört zu den ärmsten in Lateinamerika.

Frage: Und wie kommt es mit Corona klar?

Spiegel: Die offiziellen Zahlen halten sich bisher in Grenzen; sicher gibt es eine hohe Dunkelziffer und für die Armen kaum eine Chance, wirklich Abstand zu halten und sich zu schützen. Das kann schnell bedrohlich werden, etwa mit neuen Mutationen, zumal die Menschen ohnehin schon sehr verletzlich sind. Auch das sowieso schon prekäre Gesundheitssystem kommt schnell an seine Grenzen. Unsere Partner setzen sich zum Beispiel dafür ein, dass es beim Impfen möglichst gerecht zugeht – damit sich die bestehenden Ungleichheiten nicht fortsetzen bei der Impfung, gerade für die ohnehin extrem benachteiligten indigenen Völker.

Frage: Wie hilft Misereor sonst vor Ort?

Spiegel: Wir begleiten in Bolivien insgesamt 71 Projekte mit drei thematischen Schwerpunkten: Ernährungssicherung und nachhaltige Landwirtschaft, dann der Einsatz für Gerechtigkeit und Menschenrechte und zum Dritten der Kampf gegen Klimaschäden und Umweltzerstörung, etwa im Amazonas-Regenwald.

Frage: Wer sind Ihre Partner dabei?

Spiegel: Alle kommen aus den Bereichen der Zivilgesellschaft und der Kirche. Das ist auch ganz wichtig – aus mehreren Gründen. Zum einen ist da die Abwesenheit des bolivianischen Staates, der nicht genug tut und präsent ist. Zum anderen bleiben Kirchen und zivile Organisationen wichtig, wenn nach den Plänen des deutschen Entwicklungsministeriums Bolivien aus der bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit herausgenommen wird. Wobei wir weiterhin hoffen und uns dafür einsetzen, dass das nochmals überdacht wird. Unsere Sorge ist, dass darunter am Ende wieder die ohnehin schon verletzlichsten Gruppen am meisten leiden.

Frage: Zum Schluss: Was erhoffen Sie sich von der Fastenaktion?

Spiegel: Zum einen, dass die Solidarität anhält und die Sensibilität dafür, dass Corona eine Herausforderung ist, die weltweit besiegt werden muss. Ebenso dafür, dass die Menschen im Süden unsere Aufmerksamkeit brauchen – ohne schwerwiegende Nöte hier bei uns hintanzustellen. Auf der politischen Ebene hoffe ich, dass es vorangeht mit dem Lieferkettengesetz, das sich stark macht für Menschenrechte und Umweltverträglichkeit.

Von Gottfried Bohl (KNA)