Der Gott des Alten Testaments: Ein Gott der Liebe
Das ersttestamentliche Gottesbild ist so vielfältig wie die Menschen, die es geschrieben haben. Doch ein Aspekt durchzieht dabei das ganze Alte Testament: Der Gott des Alten Testaments ist ein Gott der Liebe, der Treue und der unaufhörlichen Barmherzigkeit. Aus der Vielzahl der Facetten dieser Liebe seien fünf besonders hervorgehoben: Alle fünf sind in Weisheit 11,22-26 zusammengefasst.
Gott erschafft die Welt
Gleich zu Beginn der Bibel geschieht etwas Unerhörtes: Gott, der einzige Gott, der über allem steht, erschafft die Welt. Wie himmelhoch der Unterschied zwischen Gott und Welt ist, zeigt Weisheit 11:
"Die ganze Welt ist ja vor dir wie ein Stäubchen auf der Waage, wie ein Tautropfen, der am Morgen zur Erde fällt." (Weish 11,22)
Gott "braucht" also die Welt und die Menschen nicht. Der einzige Grund, warum er sie geschaffen hat, ist seine Liebe.
"Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen." (Weish 11,24)
Gott bewahrt die Welt
Gottes Schöpfungshandeln ist ein Handeln aus Liebe. Und es ist kein abgeschlossenes Handeln. Gott bleibt mit seinen Geschöpfen auch nach dem Schöpfungsakt verbunden. Sein Lebensatem ist in ihnen. Er sorgt für sie, lässt die Sonne aufgehen, lässt es regnen und gibt Tier und Mensch, was sie zum Leben brauchen. Nur seine Zuwendung ermöglicht ihren Fortbestand. Weisheit 11 fasst das so zusammen (vgl. auch Gen 8,22):
"Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst alles, weil es dein Eigentum ist, …" (Weish 11,25-26)
Gott begegnet den Menschen
Dabei wirkt Gott aber nicht nur im Hintergrund. Er ist keineswegs nur der anonyme "Motor" der Weltmaschine. Der alttestamentliche Gott sucht die Menschen und begegnet ihnen auf einer durchaus personalen Ebene. Er "offenbart" sich ihnen und teilt wie in einer guten Freundschaft etwas von sich selbst mit. Zu Menschen, die dafür ein besonderes Ohr haben, den Propheten und Prophetinnen, spricht er und lässt sie Anteil haben an seinen Gedanken. Er stellt sich ihnen vor wie z. B. dem Mose (vgl. Ex 3), er macht sich spür- und erfahrbar wie dem Elija am Gottesberg (vgl. 1 Kön 19). Dabei geht es nicht um eine Sonderstellung und Exklusivbehandlung einzelner Menschen, sondern um einen Weg, mit allen anderen Menschen in Kontakt zu treten. Ähnliches gilt für die Erwählung Israels. Gott fängt mit einem Menschen oder mit einem Volk an, um letztlich alle anderen zu erreichen.
"… Herr, du Freund des Lebens." (Weish 11,26b)
Gott hilft den Menschen
Die Selbstmitteilung Gottes ist aber keine Einbahnstraße. Gott lässt nicht nur von sich hören, sondern hört auch auf die Menschen. Besonders den Schwachen, Unterdrückten, Wehrlosen und Benachteiligten gehört seine Liebe, ja Zärtlichkeit. Unzählige Texte des Alten Testaments sprechen davon. Gott ist ein Gott, der aus Unterdrückung befreit, der nicht zusehen kann, wenn Menschen leiden, der eingreift auf der Seite der Armen.
Und dieses Engagement erwartet er auch von den Menschen. Die oft geforderte Einhaltung der Gebote ist kein Selbstzweck, sondern soll garantieren, dass Menschen auch anderen Menschen lebensförderliche Bedingungen gewähren. Es geht um soziale Gerechtigkeit und ein friedliches Miteinander. Gerade weil der alttestamentliche Gott die Menschen liebt, besteht er darauf, dass sie untereinander solidarisch und loyal sind. Wie Gott sich der Schwächsten annimmt, so sollen es die Mächtigen und Einflussreichen tun. Denn Gott reagiert auf das Rufen der notleidenden Menschen, er antwortet auf ihre Klagen und Fragen und spricht ihnen mit zärtlichsten Worten Trost und Hoffnung zu. Er ist Hirt seines Volks, er trägt seine "Schäflein" behutsam an seiner Brust (vgl. Jes 40) und wendet ihre Not.
"Du hast mit allen Erbarmen, weil du alles vermagst …" (Weish 11,23)
Gott liebt die Menschen – in guten wie in schlechten Zeiten
Gottes Liebe ist eine treue, auf Dauer ausgelegte Liebesbeziehung. Das geht so weit, dass er sich an sein Volk bindet und sich Verpflichtungen ihm gegenüber auferlegt. Ausgedrückt wird das in der Rede vom "Bund". Dieser Bund, diese Beziehung gilt in guten wie in schlechten Tagen. Und schlechte Tage gibt es genug, denn das Volk ist nicht der einfachste Partner. Immer wieder muss Gott fassungslos zusehen, wie die Beziehungsvereinbarungen missachtet werden oder das Volk Beziehungen mit anderen sogenannten "Göttern" eingeht.
Das ruft Gottes Zorn und Enttäuschung hervor. Doch sogar wenn sich die Menschheit völlig in Gewalt, Ungerechtigkeit oder Abkehr von Gott verliert: Gott ringt um die Menschen und will sie nicht aufgeben. Es ist geradezu ein Herzensumsturz, der sich in ihm immer wieder ereignet und ihn ausrufen lässt: "Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim, wie dich ausliefern, Israel? … Gegen mich selbst wendet sich mein Herz, heftig entbrannt ist mein Mitleid" (Hos 11,8).
Nicht die Strafe oder der Zorn, sondern die Vergebung und die Versöhnung stehen für den Gott des Ersten Testaments im Vordergrund. Immer wieder gilt:
"[Du] siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie umkehren." (Weish 11,23b)
Die Zuwendung Gottes zu den Menschen ist es, die bewirkt, dass es die Welt gibt, dass Gott mit den Menschen in Beziehung tritt, ihnen beisteht und ihnen Trost und Versöhnung gewährt. Der Gott des Alten Testaments ist "gütig und wahrhaftig, langmütig und mit Erbarmen alles regierend" (Weish 15,1). Mit anderen Worten: ein liebender, uns zugewandter Gott.
Die Autorin
Dr. Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks.
Hinweis: Zeitschrift "Bibel heute"
Der Artikel ist zuerst im Heft 1/21 der Zeitschrift "Bibel heute" des Katholischen Bibelwerks erschienen. In der Ausgabe geht es um das Alte Testament.