"Erschreckend": Reaktionen aus Kirche und Politik zum Kölner Gutachten
Nach der Veröffentlichung des Kölner Missbrauchsgutachtens haben sich etliche Vertreter aus Kirche und Politik zu Wort gemeldet. Der Diözasanrat der Katholiken im Erzbistum Köln zeigte sich schockiert vom Ausmaß sexueller Übergriffe durch Kirchenvertreter. Die hohen Zahlen machten deutlich, "dass die vorhandenen und geprägten kirchlichen Strukturen einen Nährboden für den Missbrauch von jungen Menschen bieten", erklärte der Diözesanrat am Donnerstag in Köln. Die Untersuchung bezeichnete das Gremium als ersten Aufschlag. Viele Fragen seien noch offen.
Zuvor hatten Juristen der Anwaltskanzlei Gercke & Wollschläger das Gutachten zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln vorgestellt. Sie hatten für den Zeitraum zwischen 1975 und 2018 Übergriffe und Grenzverletzungen untersucht und dabei 202 Beschuldigte ermittelt. Die Zahl der Betroffenen beläuft sich auf 314. Dabei stellten die Anwälte 75 Pflichtverletzungen von acht lebenden und verstorbenen Verantwortlichen fest. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki, dem selbst keine Pflichtverletzungen nachgewiesen wurden, entband daraufhin Weihbischof Dominikus Schwaderlapp und Offizial Günter Assenmacher mit sofortiger Wirkung von ihren Aufgaben. Schwaderlapp bot inzwischen dem Papst seinen Rücktritt an. Auch der jetzige Hamburger Erzbischof Stefan Heße bot Franziskus am Donnerstagabend seinen Rücktritt an. Heße ist seit 2015 Erzbischof von Hamburg und war zuvor ab 2006 Personalchef und von 2012 bis 2015 Generalvikar im Erzbistum Köln.
24 Mal zählten die Gutachter eine Pflichtverletzung durch den verstorbenen Kardinal Joachim Meisner (1933-2017). Dieser habe einen eigenen Ordner mit Akten über "Brüder im Nebel" geführt, "in dem er geheimhaltungsbedürftige Unterlagen aufbewahrt" habe, erklärte Strafrechtler Björn Gercke. Angesichts dieser Darstellung zeigte sich der Diözesanrat fassungslos. Meisners Amtszeit müsse neu bewertet werden, forderten die Laien.
Sternberg sieht in Kölner Gutachten "Auftrag für Reformen"
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) sieht im Kölner Gutachten einen "klaren Auftrag für Reformen". Das betreffe die Kirche insgesamt, betonte ZdK-Präsident Thomas Sternberg am Donnerstag in Bonn. "Alle Bistümer können aus den offensichtlichen Verfahrensfehlern, mangelnden rechtlichen Regelungen und mangelnder Rechtskenntnis in Köln lernen", so Sternberg. "Wer jetzt nicht ehrlich und glaubwürdig mit den Betroffenen spricht, wer nicht Prävention, Anerkennung und Aufarbeitung intensiv betreibt, kann die große Vertrauenskrise, die über die Kirche hinausweist, nicht überwinden."
Sternberg nannte die ersten Personalentscheidungen Woelkis konsequent. Nun komme es auf die weiteren Schritte im Erzbistum an. Es gehe "um Transparenz, Einbeziehung des Betroffenenbeirats und den Willen zur transparenten Kommunikation. Bislang ist da viel schiefgelaufen", so Sternberg. "Angesichts der dilettantischen Arbeitsweise erwarte ich, dass überfällige Verwaltungsreformen sofort eingeleitet werden. Reformen, die den Mindeststandard einer Behörde erfüllen." Hier brauche es einen konkreten Zeitplan und konkrete Zuständigkeiten.
Der Fall Köln zeige nicht nur massive Pflichtverletzungen und "Dilettantismus" von Verantwortungsträgern, sondern stehe auch "exemplarisch dafür, wie wichtig es wäre, endlich eine Verwaltungsgerichtsbarkeit der Kirche einzurichten", so Sternberg, der zugleich weitere Aufarbeitung forderte. "Das Gutachten ist wichtig, bietet aber eine ausschließlich juristische Bewertung. Die vollständige Aufarbeitung kirchlichen Versagens kann nur gelingen, wenn interdisziplinär und unabhängig gearbeitet wird."
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, nannte das in dem Gutachten gezeichnete Ausmaß des Missbrauchs und der Pflichtverletzungen kirchlicher Verantwortungsträger "erschreckend". Zugleich lobte er die Untersuchung als einen "wichtigen von vielen weiteren Mosaiksteinen der unabhängigen Aufarbeitung". Nun müsse zügig eine Aufarbeitungskommission unter Beteiligung von Betroffenen und weiteren Experten gebildet werden. "Wenn sich das mächtige Erzbistum Köln nun an die Spitze der unabhängigen Aufarbeitung setzt und auch die Betroffenen uneingeschränkt unterstützt, würde ich das sehr begrüßen", sagte Rörig. Zudem hoffe er sehr, "dass die unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche mit ganzer Energie und mit uneingeschränktem kirchlichem Aufklärungswillen in allen deutschen Bistümern weiter vorangetrieben wird".
"Auf die heutigen ersten personellen Konsequenzen haben viele Opfer viel zu lange gewartet", sagte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD). "Diese Schritte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die so lange überfällige unabhängige Aufarbeitung in Köln und andernorts immer noch am Anfang steht." Weiterhin gelte, dass Täter und Strukturen genannt werden müssten. Jeder Hinweis auf noch nicht verjährte Taten müsse zur Anzeige gebracht werden.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) forderte dazu auf, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. "Das heute endlich veröffentlichte Missbrauchsgutachten legt die jahrelangen Vertuschungen und Bagatellisierungen im und durch das Erzbistum Köln schonungslos offen", sagte Kramp-Karrenbauer dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Freitag). "Jetzt müssen soweit möglich die Täter und diejenigen, die sie gedeckt haben, zur Rechenschaft gezogen werden, um eine vollständige und transparente Aufarbeitung zu ermöglichen." Die Politikerin, die Mitglied im ZdK ist, fügte hinzu: "Das Gutachten macht auch klar: Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein Kartell des Schweigens, das wir leider immer noch überall in der Kirche sehen."
Katsch: "Freispruch" für Woelki
Als "Freispruch" für Woelki bezeichnete der Sprecher der Betroffenen-Initiative "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, das Missbrauchsgutachten. "Was man bestellt hat, hat man bekommen", sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Köln. Das Gutachten kläre weder moralische noch kirchenrechtliche Fragen. Katsch kritisierte, dass die Perspektive der Betroffenen für die Erstellung des Gutachtens keine Rolle gespielt habe. Das Gutachten sei kein Ersatz für Aufarbeitung, so Katsch. Diese müsse erst noch geschehen.
Der ehemalige Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln, Karl Haucke, formulierte ein nach eigenen Worten hartes Urteil: "Nach dieser Showveranstaltung von eben bin ich der Meinung, die theologischen Fakultäten in Deutschland können ihren Laden schließen", sagte er vor Journalisten. Die Kirche brauche keine Moral, weil auch die "Kirchenfürsten" keine Moral hätten.
Der frühere Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln, Patrick Bauer, lobte dagegen die Reaktion von Woelki. Der Kardinal habe Wort gehalten und schnell reagiert. Dass er schon heute Assenmacher und Schwaderlapp vorläufig suspendiert habe, habe ihn "in dieser Deutlichkeit überrascht", sagte Bauer am Donnerstag im ZDF. Ihm fehle aber, dass diese Männer nicht vorher selbst ihre Schuld eingestanden hätten. Bauer betonte, ihm fehle auch die moralisch-ethische Bewertung: "Dazu brauche ich keine Gutachten."
"Strukturen müssen verändert werden, Hierarchie muss abgebaut werden und die Bistumsleitung muss, auch hier in Köln, die Verantwortung für den Transformationsprozess übernehmen", erklärten die Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), der Katholische Deutsche Frauenbund (KDFB) und die Initiative "Maria 2.0".
Die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) sprach von einem unüberhörbaren Signal für die gesamte katholische Kirche über Deutschland hinaus, "absolute Transparenz und ein Maximum an unabhängiger Kontrolle in den Strukturen der Kirche zu institutionalisieren".
Zollner: Bisherige Maßnahmen "viel zu kleiner Schritt"
Nach Ansicht des vatikanischen Experten für Missbrauchsprävention, Hans Zollner, sind die bisherigen Maßnahmen im Erzbistum Köln ein "viel zu kleiner Schritt". Aus Sicht der Opfer genüge die von vornherein "klar gewählte rein juristische Sichtweise" nicht. "Die Betroffenen brauchen mehr", sagte Zollner, Mitglied der päpstlichen Kinderschutzkommission, der KNA.
Für die Initiative "Wir sind Kirche" zeigt das Kölner Missbrauchsgutachten "erschütternde Ergebnisse mangelnden Rechtswissens und verstörenden Unrechtsbewusstseins bei den Leitungsverantwortlichen des größten deutschen Bistums". Aufgrund der lückenhaften Aktenführung könnten die Ergebnisse des Gutachtens nur die Spitze des Eisbergs darstellen, erklärte die Initiative am Donnerstag in München. Zugleich werde vor allem "das systembedingte Versagen besonders in der langen Ära Meisner deutlich".
"Wir sind Kirche" kritisierte zugleich eine Fokussierung des Gutachtens auf die rein juristischen Aspekte; die Frage nach dem kirchlichen Selbstverständnis bleibe außen vor. In diesem Zusammenhang stellt die Initiative auch die Frage nach der persönlichen Verantwortung von Woelki. Er müsse sich fragen, wie er als Erzbischof bislang seiner Aufsicht innerhalb des Erzbistums gerecht geworden sei und ob die angekündigten Amtsenthebungen nicht ein "Bauernopfer" darstellten, um von seiner Letztverantwortlichkeit abzulenken. Auch der Kardinal müsse seinen Rücktritt anbieten, hieß es. (tmg/KNA)
Das vollständige Gutachten
Pflichtverletzungen von Diözesanverantwortlichen des Erzbistums Köln im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und Schutzbefohlenen durch Kleriker oder sonstige pastorale Mitarbeitende des Erzbistums Köln im Zeitraum von 1975 bis 2018. Verantwortlichkeiten, Ursachen und Handlungsempfehlungen.