Auf der Insel Reichenau kann er bis heute bestaunt werden

Ein wahres Gedicht: Der Kräutergarten des Mönches Walahfrid Strabo

Veröffentlicht am 11.07.2021 um 11:59 Uhr – Lesedauer: 

Mittelzell ‐ Heute als Gemüseinsel bekannt, schrieb die Reichenau bereits im neunten Jahrhundert Gartengeschichte: Hier verfasste der Mönch Walahfrid Strabo seinen "Hortulus", ein Lehrgedicht über den klösterlichen Gartenbau. Ein Streifzug zwischen lateinischen Versen und duftenden Kräutern.

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In weiten Teilen Deutschlands dürfte man kaum jemals von ihm gehört haben, auf der Insel Reichenau und im westlichen Bodenseeraum sind dagegen Schulen, Kräutertees und Ruderboote nach ihm benannt: Walahfrid Strabo. Der Benediktinermönch lebte im neunten Jahrhundert und zählte zu den angesehensten Gelehrten und Dichtern seiner Zeit. In Erinnerung geblieben ist er vollem durch sein Lehrgedicht "liber de cultura hortorum" – Buch über die Pflege der Gärten. Das Besondere an dem unscheinbar klingenden Werk: Es ist die älteste Abhandlung über den Gartenbau, die auf deutschem Boden verfasst wurde.

Walahfrid, der den Beinamen "Strabo" – der Schieler – trug, wurde um 808 in der Nähe der Reichenau geboren und kam schon früh in das dortige Kloster. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Fulda, wo er bei dem berühmten Universalgelehrten Rabanus Maurus studierte, wurde Walahfrid an den kaiserlichen Hof nach Aachen berufen. Als Anerkennung für seine Dienste als Lehrer und Hofkaplan ernannte ihn Kaiser Ludwig der Fromme 838 zum Abt seines Heimatklosters Reichenau. Etwa um diese Zeit verfasste Walahfrid vermutlich auch sein Büchlein über den Gartenbau.

Das später als "Hortulus" – Gärtlein – bekannt gewordene Werk gilt als Meisterwerk der mittelalterlichen Dichtkunst. In 444 lateinischen Versen beschreibt Walahfrid insgesamt 24 Kräuter und andere Nutzpflanzen nach ihrem Aussehen, Duft und Geschmack sowie ihrer Verwendung in der Pflanzenheilkunde, dazu die mühselige Arbeit eines Gärtners und das Werden und Vergehen der Natur im Wechsel der Jahreszeiten. Dabei orientiert sich der Mönch am Stil des antiken Dichters Vergil und lässt seine Worte im wiegenden Rhythmus des Hexameters gleichmäßig dahinfließen: "Plurima tranquillæ cum sint insignia vitæ …" – "Zahlreich gewiss sind Zeichen und Vorzug des ruhigen Lebens, / Nicht das Geringste ist es jedoch, der Rosenstadt Paestum / Kunst sich zu weihn in der Arbeit des fruchtbaren Gottes Priapus", so beginnt das lehrreiche Gedicht.

Streifzug durch den mittelalterlichen Kräutergarten

In einem geistigen Spaziergang führt Walahfrid seine Leser durch den Klostergarten. Man sieht den Dichtermönch regelrecht von einem Beet zum nächsten schlendern und vor den einzelnen Pflanzen verweilen. In kunstvollen Sprachbildern ruft er ihre Blütenpracht vor das innere Auge. Nun brauche es "Dichtertalent, Erkenntnis und Schönheit der Rede", so der Selbstanspruch Walahfrids, "dass auch das Kleine dadurch mit hoher Ehre sich schmücke". Finden sich doch im "Hortulus" zwischen den wenigen Zierpflanzen wie Lilien oder Rosen vor allem unscheinbare Gewächse: Die Auflistung reicht von heute noch gebräuchlichen Kräutern wie Salbei und Minze über verschiedene Gemüsesorten wie Sellerie, Rettich oder Kürbis bis hin zu weniger bekannten Heilpflanzen wie Weinraute, Andorn und Schlafmohn.

Blühende Rosen im Klostergarten der Insel Reichenau
Bild: ©katholisch.de/Moritz Findeisen

In seinem "Hortulus" beschreibt Walahfrid Strabo insgesamt 24 Kräuter und Blumen. Die rote Rose ist für den Dichtermönch ein Sinnbild des Martyriums.

Es lohnt sich, dem wortgewandten Klostergärtner ein wenig bei seinem Vortrag zu lauschen:

Leuchtend blühet Salbei ganz vorn am Eingang des Gartens.
Süß von Geruch, voll wirkender Kräfte und heilsam zu trinken.

Manche Gebrechen der Menschen zu heilen, erwies sie sich nützlich,
Ewig in grünender Jugend zu stehen hat sie sich verdient.

Für viele der Heilkräuter beschreibt Walahfrid ganz konkrete Anwendungsbereiche:

Auch die Ehre des Fenchels sei hier nicht verschwiegen; er hebt sich
Kräftig im Spross, und er strecket zur Seite die Arme der Zweige,
Ziemlich süß von Geschmack und süßen Geruches desgleichen.
Nützen soll er den Augen, wenn Schatten sie trügend befallen.

Bei anderen Pflanzen ist er sich über ihre Heilkraft nicht sicher oder beschreibt dem Hörensagen nach, welche zum Teil ausgefallene Wirkung ihnen zugeschrieben wird:

Mögen nach Recht und Brauch wir einiges, was wir nur hörten,
Fügen in unser Gedicht: Puleiumzweig mit Aurikel
Winde zum Kranze, dass Sonnenhitze nicht Kopfweh bewirke,
Wenn sie in freier Luft zur Sommerszeit dich durchströmet.

Das Inselkloster Reichenau – damals und heute

Wem das alles zu theoretisch ist, der sollte selbst einen Ausflug auf die im westlichen Teil des Bodensees gelegene Reichenau machen. Die Insel schreibt ihr Jahrhunderte altes Gärtnererbe bis heute fort: Rund sechzig Familienbetriebe widmen sich noch dem Gemüseanbau. Grüne Salatfelder legen sich über die sanften Anhöhen und haben der Reichenau den Beinamen "Gemüseinsel" eingebracht, aus den Gewächshäusern leuchtet das Rot der Tomaten. Das im Herbst durch den See als Wärmespeicher begünstige Klima ermöglicht sogar den Weinanbau.

Anfang der Neunzigerjahre wurde auf der Reichenau auch der "Hortulus" des Walahfrid Strabo wieder angelegt und steht Besuchern offen. Umrundet man das frühere Abteigelände in Mittelzell auf der Seeseite, kann man durch einen kleinen Durchgang in der Klostermauer eine andere Welt betreten: Auf freier Wiese stehend erblickt man das Münster St. Maria und Markus, an dessen eindrucksvolles romanisches Langschiff sich der gotische Hochchor anschließt. Davor liegt der originalgetreu rekonstruierte Kräutergarten. Der umfriedete Garten galt im Mittelalter als Sinnbild des Paradieses und die Arbeit des Gärtners stand symbolisch für die Pflege und Verbreitung des Glaubens.

Die einzelnen Beete des heutigen Klostergartens sind auf einem quadratischen Grundriss angeordnet und – wie vom Dichtermönch beschrieben – mit niedrigen Holzbohlen eingefasst. Auf kleinen Schildern sind die Namen der Gewächse und die dazugehörigen Auszüge aus Walahfrids Lehrgedicht zu lesen. Über die Sommermonate wechseln sich hier die Pflanzen in ihrer Blüte ab und lassen immer neue Farbkompositionen entstehen. Zerreibt man die Blätter der verschiedenen Kräuter zwischen den Fingern, ist man überrascht von der Vielfalt der Gerüche.

Besiedelung der Klosterinsel Reichenau durch den heiligen Pirmin
Bild: ©katholisch.de/Moritz Findeisen

Das Kloster Reichenau wurde 724 von dem iroschottischen Wanderbischof Pirmin gegründet. Als er die Insel betrat, sollen der Legenda nach alle Untiere über das Wasser geflohen sein. (Gemälde im Mittelzeller Münster St. Maria und Markus)

Zu Zeiten Walahfrids erstreckte sich das Klostergebiet über die ganze Reichenau, auf der die Mönche an mehreren Standorten lebten und arbeiteten. Der iroschottische Wandermönch Pirmin hatte die knapp viereinhalb Quadratkilometer große Insel im Jahre 724 besiedelt und die dicht bewaldete Fläche urbar gemacht. Der Legende nach sollen alle giftigen Schlangen, Insekten und alles Ungetier innerhalb von drei Tagen von der Reichenau geflohen sein, nachdem Pirmin seinen Fuß auf den Inselboden gesetzt hatte.

In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich das Kloster zu einem Zentrum der mittelalterlichen Gelehrsamkeit und zählte zu den einflussreichsten Abteien des Karolingerreiches. Es wird als Entstehungsort des berühmten St. Galler Klosterplans angesehen, die detaillierte Skizze eines idealen Klosters. Auch soll hier der Mönch Hermannus Contractus – Hermann der Lahme – im elften Jahrhundert das "Salve Regina" gedichtet haben. Noch heute zeugen die drei romanischen Kirchen St. Georg in Oberzell, St. Peter und Paul in Niederzell sowie das Mittelzeller Münster von der einstigen Bedeutung des Klosters. Nachdem die Abtei im Zuge der Säkularisierung aufgelöst wurde, leben aktuell wieder drei Benediktinermönche auf der Reichenau und kümmern sich um die örtliche Pfarrseelsorge.

Ein Abt, der sich die Hände schmutzig macht

Walahfrids Gartenbüchlein umfasst neben den Pflanzenbeschreibungen auch mehrere Kapitel über die vom Wechsel der Jahreszeiten geprägten Arbeiten eines Gärtners. Die Abfolge von Winterruhe, Blüte und Frucht vergleicht der Mönch mit dem Leben des Menschen: So ist der Winter ein "Abbild des Alters, des jährlichen Kreislaufs Magen, der gierig die reichen Früchte der Arbeit verzehret". Vom Frühling, dem "Anfang des kreisenden Jahrs und Schmuck seines Laufes" wird der Tod jedoch zurückgedrängt und die Erde erwacht zu neuem Leben – ein Sinnbild der Auferstehung.

Nun gilt es die Beete wieder fruchtbar zu machen:

Allerwärts wird dann die Erde mit krummer Hacke zerkleinert,
Gärstoff des fetten Düngers darauf gestreut in den Boden.
Manche Kräuter sucht man aus Samen zu ziehen, durch alte
Stecklinge andre zu frischem Keimen und Wachsen zu bringen.

Heil-Ziest im Reichenauer Klostergarten
Bild: ©katholisch.de/Moritz Findeisen

Über den Heil-Ziest (auch Betonie) schreibt Walahfrid: "So außerordentlich hoch, wir wissen es, schätzen sie manche, / dass sie glauben, durch ihre Heilkraft sich schützen zu können / gegen jegliche Not, die den Körper innerlich angreift."

Die detailreiche Beschreibung der Arbeitsabläufe macht deutlich: Walahfrid war mit der Gärtnerei bestens vertraut. Offenbar war sich der Reichenauer Abt trotz seiner hohen Stellung im Kloster nicht zu schade, selbst in den Dreck zu greifen. Nicht ohne Stolz betont der Dichter, dass er sein Wissen zum größten Teil selbst erworben hat:

Dies entdeckte mir nicht landläufiger Rede Erkenntnis
Und nicht allein Lektüre, die schöpft aus den Büchern der Alten:
Arbeit und eifrige Neigung vielmehr, die ich vorzog der Muße,
Tag für Tag, haben dies mich gelehrt durch eigne Erfahrung.

Griechische Mythologie im Dienst des Evangeliums

Beim Verfassen seiner Gartenabhandlung konnte Walahfrid auf einen reichen Wissensschatz zurückgreifen. Im Katalog der Klosterbibliothek sind zu Beginn des neunten Jahrhunderts rund 500 Schriften aufgeführt, ein für die damalige Zeit immenser Bestand. Darunter fanden sich bei weitem nicht nur Texte christlicher Autoren, sondern auch "heidnische" Schriften von antiken Gelehrten wie Ovid, Plinius oder dem griechischen Arzt Galen. Die Bücher wurden von den Mönchen ausgiebig studiert und zur Weiterverbreitung des Wissens handschriftlich kopiert.

So sind direkte Bezüge zur griechischen Mythologie im Werk Walahfrids keine Seltenheit: Neben dem eingangs zitierten Fruchtbarkeitsgott Priapus finden auch Apoll, der Gott der Heilkunst, und Bacchus, der Gott des Rausches, Erwähnung. Und während der Mönch an keiner Stelle aus der Bibel zitiert, führt er die in der griechischen Dichtung für die Liebeslyrik beziehungsweise die Komödie zuständigen Musen Erato und Thalia als Zeugen seines Schaffens auf. Anders als zu späteren Jahrhunderten – und mitunter noch heute – wurde die Geisteswelt und das Wissen fremder Kulturen im frühen Mittelalter nicht als Infragestellung des christlichen Glaubens betrachtet, sondern höchst kreativ in das eigene Denken aufgenommen. Das angeblich "finstere" Mittelalter zeichnete sich in Wahrheit durch eine außerordentliche geistige Weite aus.

Bespielhaft wird das im Schlusskapitel des "Hortulus" deutlich, das der Rose und der Lilie gewidmet ist. Beide Pflanzen waren in der griechischen Mythologie als Symbole der Götterwelt verbreitet und wurden in der christlichen Kunst deshalb lange gemieden. Walahfrid aber hat damit keine Berührungsängste. Er überträgt die antike Deutung der üppigen Blütenpracht kurzerhand auf die Kirche und macht sie so zum theologischen Zielpunkt seines Gartenstreifzugs:

Denn diese beiden Blumen, berühmt und gepriesen, sind Sinnbild
Seit Jahrhunderten schon der höchsten Ehren der Kirche,
Die im Blut des Martyriums pflückt die Geschenke der Rose
Und die Lilien trägt im Glanze des strahlenden Glaubens.

Von Moritz Findeisen

Linktipp

Der vollständige Text von Walahfrids "Liber de cultura hortorum" findet sich auf Latein sowie in deutscher Übersetzung im Internet.