Das Lazarusgrab – eine fast vergessene Stätte der Christenheit
Al-'Azariye, zu Deutsch etwa Lazarushausen, hat es seit 2002 noch schwerer. Wurde der als Bethanien bekannte palästinensische Ort schon vorher selten angefahren, zwingt der Bau der israelischen Barriere Besucher zu einem Umweg. Wegen des dadurch entstehenden Zeitverlustes planen vermutlich viele Agenturen den Ort gar nicht in eine Reise ein. Konnte man Betanien von Jerusalem aus früher in drei Kilometern erreichen, sind es heute 17. Kommt die Pilgergruppe allerdings vom Toten Meer oder vom See Genezareth durch das Jordantal mit Ziel Bethlehem oder Jerusalem, fällt der Umweg kürzer, der Zeitverlust kleiner aus.
Wehmütig blickt der Deutsche Georg Rössler in die Zeit vor dem Bau der Barriere, teils Zaun, teils Mauer, zurück. "Natürlich war es früher besser", meint Reiseleiter Rössler, der seit 30 Jahren in Jerusalem lebt. "Mit engagierten Gruppen konnten wir nach dem Besuch in Bethanien zu Fuß weiterlaufen und uns auf dem Weg über den Ölberg unmittelbar in die Passionsgeschichte und den Palmsonntag stellen – belohnt und gekrönt von dem bekannten spektakulären Blick auf die Altstadt."
Dieser Gang ist seit fast 20 Jahren nicht mehr möglich. Die Mauer bei Bethanien, die Palästinenser von Landsleuten trennt, verbaut den Weg. Trotzdem kamen vor der Pandemie nach Angaben des Bürgermeisters pro Jahr immerhin 500.000 Besucher in den mehrheitlich muslimischen Ort, in dem nur noch wenige christliche Familien ausharren. Doch selbst Heilig-Land-Kenner wie Max Pinzl aus der Diözese Passau war bei über 20 Reisen "nur wenige Male in Bethanien, zum ersten Mal im Jahre 1968". Eines der Hauptpilgerziele ist das Grab des Lazarus. Pinzl sind die "verhauten Steinstufen in die Tiefe und der winzige Durchschlupf zur inneren Grabkammer in unvergesslicher Erinnerung". Seitdem er die antike Grabkammer besucht hat, kann der Ruhestandspriester sich unter Felsengrab konkret etwas vorstellen.
Restaurierung bringt archäologische Funde zutage
Die "verhauten Steinstufen" gehören seit Kurzem gottlob der Vergangenheit an, dank des kürzlich abgeschlossenen Restaurierungsprojektes im und um das Grab. "Pro Terra Sancta", das Hilfswerk der in Jerusalem ansässigen Franziskanerkustodie, das palästinensische Mosaikzentrum Jericho sowie die italienische Agentur für Entwicklungszusammenarbeit (AICS) arbeiteten bei der Restaurierung Hand in Hand. Nicht nur das Raumklima im Grab verbesserten sie, auch die ungleich großen, abgeriebenen Treppenstufen wurden erneuert. Die Restauratoren sicherten archäologische Überreste und Funde aus römischer, byzantinischer und islamischer Epoche. Zudem förderten sie im Boden der Grabkammer Erstaunliches zutage: zwei Ossuarien, Knochenkästen, die nun untersucht werden.
Laut Carla Benelli, verantwortlich bei "Pro Terra Sancta", waren die archäologischen Funde "in schlimmem Zustand des Verfalls und der Vernachlässigung". Sowohl auf dem Gelände der Franziskaner als auch der benachbarten islamischen Stiftung "Awqaf" arbeitete das internationale Team. Benelli äußert sich fast euphorisch nach Abschluss der ersten Sanierungsphase. Die Überreste der Vergangenheit und das Gelände um Lazarusgrab und -kirche seien jetzt "viel attraktiver" als vorher, versicherte sie. Sie verweist auf neue Info-Tafeln und Filme, die die Geschichte des Ortes erklären.
Diese Geschichte reicht fast 1700 Jahre zurück. Schon der Pilger von Bordeaux erwähnt 333 nach Christus die "Krypta, wo Lazarus bestattet war, den der Herr auferweckte". Die aufmerksame Nonne Aetheria (auch als Aegeria bekannt) beschreibt etwa 50 Jahre später die liturgische Feier am so genannten Lazarium, der eine Statio 500 Schritte vom Dorf entfernt vorausging. Die erste Kirche bezeugt auch der in Bethlehem ansässige heilige Hieronymus (347 bis 420). Deren Mosaike sind im Hof vor der heutigen Lazaruskirche zu sehen.
Vermutlich ein Erdbeben zerstörte die erste Kirche aus dem vierten Jahrhundert, worauf um 500 eine zweite, größere Kirche gebaut wurde. "Deren Apsis war 13 Meter nach Osten verschoben und entspricht dem Presbyterium der heutigen Kirche", sagt der deutsche Franziskaner Gregor Geiger, der seit 20 Jahren in Jerusalem lehrt und forscht. Zu dieser Kirche gehören einige der Mauern, die den Vorhof einrahmen sowie die beiden Pfeilersockel im Hof. "Diese Kirche überstand die arabische Eroberung in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts", so Geiger. Der fränkische Bischof Arkulf, der um 680 dort weilte, sah dort "ein großes Kloster und eine große Basilika".
Die mittelalterliche Kirche – gebaut im zwölften Jahrhundert – lehnte sich deutlich an die byzantinische an. Melisende, Gemahlin des Königs Fulk von Jerusalem und später selbst Regentin, errichtete 1138 in Bethanien zudem ein Benediktinerinnenkloster: die Abtei St. Lazarus. Ruinen desselben sind im Vorhof der Kirche zu sehen.
Gotteshaus über dem Lazarusgrab ist heute Moschee
Die heutige Lazaruskirche wurde schließlich unter Leitung des Architekten Antonio Barluzzi in den 1950er Jahren gebaut. Sie ist in etwa so breit wie die zweite byzantinische Kirche, aber kürzer, was Raum für den schönen Vorhof lässt. Geformt wie ein griechisches Kreuz, ahmt sie ein Grabmonument nach. Die Mosaike in den Kreuzarmen hat der italienische Künstler Cesare Vagarini gestaltet: Sie stellen die drei Schriftstellen dar, die Bethanien thematisieren. Licht in die kleine, überschaubare Kirche fällt lediglich durch die gläserne Kuppel, ein Hinweis Barluzzis auf die Auferstehung.
Um zum Lazarusgrab zu gelangen, verlässt man das Grundstück der Franziskaner durch den oberen Eingang und geht den Treppenweg nach links oben. Das Grab war im Mittelalter Teil einer zweiten Kirche, die mit der Zeit in ein muslimisches Gotteshaus verwandelt und im 16. Jahrhundert zur heutigen Al-Usair-Moschee ausgebaut wurde. Damals mauerte man nach einem Abkommen mit den Franziskanern den ursprünglichen Zugang direkt von der Kirche zum Grab – heute unter der Moschee – zu. Eine steile Treppe wurde deshalb 1613 von der Straßenseite aus geschaffen, wofür Arbeiter 24 Stufen aus dem Felsen schlugen.
Im Grab, das über die Jahrhunderte mehrfach umgestaltet wurde, sieht der Pilger einen Vorraum mit einem mittelalterlichen Spitzbogengewölbe und die Grabkammer. In dieser sind die Loculi, die Plätze für die Verstorbenen, allerdings vermauert.
Christlich-muslimische Kooperation mit Zeichencharakter
Für Carla Benelli, deren Organisation seit 2014 in Lazarushausen verschiedene Projekte durchgeführt hat, hat die Sanierung über die eigentliche Arbeit hinaus etwas zu sagen: "Die gemeinsame Arbeit von Christen und Muslimen, um eine heilige Stätte zu erhalten, ist eine starke Botschaft des Friedens und der Koexistenz." Georg Rössler, Vize-Chef der israelischen Reiseagentur "SK Tours" in West-Jerusalem, freut sich zutiefst mit über den neuen Glanz, persönlich wie auch als Reiseveranstalter. "Die Restaurierung und die archäologischen Grabungen begrüßen wir von ganzem Herzen. Einmal bedeutet es eine weitere Professionalisierung der palästinensischen Autonomiebehörde und das ist gut." Wenn Israelis und Palästinenser sich auf Augenhöhe begegnen wollten, gehe es nicht an, dass kirchliche oder staatliche Stätten in Israel vergleichsweise gut ausgestattet sind, während Orte in Palästina "eher heruntergekommen daherkommen". Heruntergekommen – genauso hat Ruhestandspfarrer Pinzl das Grab in Erinnerung, "und traurig". Daher erfüllt auch ihn die Renovierung mit großer Freude.
Doch ist die italienisch-palästinensische Zusammenarbeit noch nicht am Ziel angelangt. Geplant ist, in einem Gewölbe des teilweise erhaltenen mittelalterlichen Klosters einen Saal für Besucher zu gestalten. Darin sollen nicht nur die bedeutendsten Funde zu sehen sein, sondern Filme und andere Multimedia-Formate die Bedeutung des Ortes vermitteln. Für Benelli lautet die: "Die Auferweckung des Lazarus ist eine zutiefst spirituelle Botschaft der Hoffnung."
Diese Pläne dürften dem studierten Theologen Georg Rössler sehr gefallen, ist er doch der Meinung, Bethanien werde "im Pilgerreisegeschäft grundsätzlich nicht ausreichend in seiner theologischen Bedeutung gewürdigt". Für Rössler ist das elfte Kapitel des Johannesevangeliums der Höhepunkt des Evangelienberichtes. Nach langem Verzögern überschlage sich genau hier die Handlung in ihrem Tempo. "Der hohe Rat tagt und besinnt sich unter Kaiaphas auf eine verantwortungsethische Haltung gegenüber dem vermuteten Aufrührer – besser einer stirbt, als das ganze Volk." Jesu Zuwarten und viel zu späte Eintreffen in Bethanien bedeute eine dramatische Hinführung auf den "Clou der Heilsgeschichte", womit Rössler meint: "In Bethanien erleben wir die 'kleine Auferstehung', die Hörer und Leser der Botschaft überhaupt erst vorbereitet auf die große."