Himmelklar – Der katholische Podcast

Religionswissenschaftler: Verschwörungsmythen wie umgedrehte Religion

Veröffentlicht am 04.08.2021 um 00:30 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ In Religionen beherrsche das Gute die Welt – bei Verschwörungsmythen glaubten Menschen, das geschehe durch böse Mächte: Im Interview erklärt Experte Michael Blume, wie Menschen in den Verschwörungsglauben hineingeraten – und warum jeder gefährdet ist.

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Chemtrails, Flat Earth oder Reptiloide – Verschwörungsmythen sind für den Religionswissenschaftler Michael Blume eine "umgedrehte Religion". Der Beauftragte gegen Antisemitismus in der Landesregierung von Baden-Württemberg erklärt, weshalb krude Mythen gerade in der Pandemie Hochkonjunktur haben, und jeder einzelne von uns davon bedroht ist. Außerdem: Warum Verschwörungsglaube und Antisemitismus im Kern zusammengehören.

Frage: Bei Verschwörungsmythen gibt es ganz krude Thesen: Reptiloiden, Flat Earth, Chemtrails. Das kann doch kein Mensch mit gesundem Verstand glauben!? Das ist ja etwas anderes als die Frage, wer John F. Kennedy erschossen hat, oder ob das Corona-Virus aus einem Labor stammt. Da gibt es ja Argumente pro und contra.

Blume: Das ist genau der Punkt, warum ich so großen Wert darauf lege, dass wir nicht von Verschwörungstheorien, sondern von Verschwörungsmythen sprechen, weil Theorien überprüfbar sind. Also wer John F. Kennedy erschossen hat oder ob Abgasmotoren manipuliert wurden, das können wir überprüfen. Das gelingt nicht immer, aber es gelingt oft. Und dafür haben wir ja Gewaltenteilung. Dafür haben wir Medien. Dafür haben wir Gerichte und Justiz. Dafür haben wir eine Öffentlichkeit und parlamentarische Untersuchungsausschüsse. All das kann ich ja überprüfen.

Verschwörungsmythen funktionieren anders. Die funktionieren wie umgedrehte Religionen. In einer ordentlichen Religion lerne ich, dass gute Mächte die Welt beherrschen, dass ich der Welt vertrauen kann und dass es am Ende gut wird. Und wenn es noch nicht gut ist, ist es halt noch nicht das Ende. Also es wird Welt-Vertrauen aufgebaut. Aber Religionen können auch umkippen – und im Antisemitismus sind sie umgekippt.

Bei Verschwörungsmythen heißt es, böse Mächte beherrschen die Welt. Und alles, was schief geht, da sind die bösen Superverschwörer schuld. Früher waren es Teufel und Dämonen und heute sind es dann einfach Reptiloide. Also da wird die alte Dämonologie dann einfach umgewandelt in Pseudowissenschaft. Außerirdische Nazis auf dem Mars, die uns befreien wollen zum Beispiel. Da entstehen bizarre Kosmologien und Mythologien, die eigentlich eben solche umgedrehten Glaubenssysteme sind.

Eine Demo gegen Corona-Maßnahmen
Bild: ©picture alliance / Geisler-Fotopress (Symbolbild)

Das Böse beherrscht die Welt: Davon sind Anhänger von Verschwörungsmythen häufig überzeugt.

Und Menschen fangen damit nicht an. Normalerweise fangen die mit kleinen Verschwörungsmythen an – und über Monate und Jahre graben die sich immer tiefer rein. Der Nachbar wohnt vielleicht noch nebenan, aber er lebt irgendwo im Cyberspace. Der hat sich in eine völlig alternative Realität abgeschossen, wo der Arzt Giftspritzen verteilt, die Pfarrerin von Juden kontrolliert wird und die Banken ihm sein Gold wegnehmen wollen, also wo er dann quasi gar nicht mehr in der gleichen Realität zu Hause ist wie der normale Menschenverstand.

Frage: Das heißt, wenn ich diesen ersten Schritt gemacht habe und meinetwegen denke, dass irgendwas mit unseren Impfstoffen nicht stimmt, dann ist der nächste Schritt auch nicht so weit, zu sagen: Vielleicht ist die Erde ja doch eine Scheibe?

Blume: Ja, ganz genau. Sie haben sich zum Beispiel einreden lassen, dass Sie ihre Kinder gar nicht impfen sollten, die Jugendlichen, sondern Sie haben denen eine germanische Heilsteinbehandlung für 2.000 Euro angedeihen lassen und haben damit ein paar Antisemiten auch noch ordentlich Einnahmen verschafft. Jetzt müssen Sie sich später eingestehen: Das war alles falsch. Das tut richtig weh.

„Umso tiefer man in diese Verschwörungswelt hinabsteigt, umso schwieriger wird es, da auch rauszukommen, umso schmerzhafter und kostspieliger ist es, das alles abzuschreiben. Man steigt in so eine Höhle hinab, vielleicht als Jugendlicher, und geht dann immer tiefer rein.“

Also zum Beispiel, dass Donald Trump gar nicht der Erlöser war, sondern die Wahl verloren hat, das tut dann den Leuten richtig weh. Und umso mehr Zeit und Geld sie da schon reingesteckt haben, umso schwerer ist es zu sagen: Das war alles falsch. Stattdessen liegt es dann nahe zu eskalieren und zu sagen: "Die Wahl war gefälscht. Und im Übrigen die ganze Covid-19-Pandemie, da stecken die Aliens dahinter. Und George Soros hat das alles so geplant." Umso tiefer man in diese Verschwörungswelt hinabsteigt, umso schwieriger wird es, da auch rauszukommen, umso schmerzhafter und kostspieliger ist es, das alles abzuschreiben. Man steigt in so eine Höhle hinab, vielleicht als Jugendlicher, und geht dann immer tiefer rein.

Ich mache gerne, wenn ich in Schulen bin, einfach die Probe: Ich werfe die Pyramide von der Dollarnote an die Wand und lasse die Kinder – funktioniert ab Klasse 5, so richtig ab geht es ab Klasse 7 – einfach mal erzählen. Die brauchen nur die Pyramide von der mit dem Auge zu sehen und sofort geht es ab: "Oha, cool Illuminati." Und dann wird diskutiert und erzählt. Ich verurteile die Kids und die Jugendlichen erst mal gar nicht, sondern ich lasse sie erzählen. Jeder kennt heute diese ganzen Verschwörungsmythen. Die sagen mir dann auch: "Herr Blume, machen sich keine Sorgen. Ich glaube das nicht. Ich finde das nur spannend." Aber wenn man in einer Lebenskrise ist, wenn es einem nicht gut geht, wenn man an falsche Freunde gerät, dann beginnt man natürlich, so einen Kram auch wirklich zu glauben.

Frage: Das heißt, es ist nicht eine Frage des Intellekts, dass die Menschen zu dumm sind zu verstehen, dass das nicht stimmt. Es ist eher eine psychologische Dimension, weil man irgendetwas braucht, woran man sich festhalten will und man irgendwie da hängen bleibt oder nichts anderes findet?

Blume: Ganz genau. Das ist etwas, was mir Leute oft sagen: Die Antisemiten wären dumm oder Verschwörungsgläubige wären "Covidioten". Nein, nein, das können wir absolut nicht sagen. Man kann Professor- und Doktortitel und Ingenieurstitel haben, noch und nöcher. Martin Heidegger, hier in Baden-Württemberg in Freiburg, war einer der größten Philosophen Anfang des 20. Jahrhunderts. Der wollte am Anfang Theologie studieren, hat seinen Glauben verloren, seinen katholischen Glauben, ist in einen säkularen Verschwörungsglauben abgedriftet – und hat da nicht mehr raus gefunden.

Linktipp: Verschwörungsmythen und Religion: Was sie verbindet und was sie trennt

In der Corona-Krise suchen viele Menschen nach Halt. Einige finden ihn im Glauben an Verschwörungsmythen. Der Religionswissenschaftler Michael Blume ist Experte für dieses Thema und erklärt im katholisch.de-Interview Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Religionen und Verschwörungsglauben.

Der Mann hatte einen jüdischen Doktorvater. Der war Professor. Der hatte eine Familie. Der hatte Studierende aus ganz Deutschland. Hannah Arendt war seine Geliebte, die haben sich zärtliche Liebesbriefe geschrieben – und trotzdem. Seine Söhne haben den Weltkrieg miterlebt. Er hat selber gesehen, dass das NS-Regime gescheitert ist. Trotzdem ist es ihm nicht gelungen, da wieder herauszukommen. Karl Jaspers und Hannah Arendt sind nach dem Krieg auf ihn zugekommen und haben gesagt: Wir holen dich da raus. Und er hat das ausgeschlagen.

Also wir haben hochintelligente, formal hochgebildete Menschen, die sich in so einen Glauben eingraben können. Wir haben auch heute einen Dr. Schiffmann, einen Professor Bhakdi, einen Professor Homburg, mit dem ich auch selber schon heftige Diskussionen hatte. Da merke ich dann auch: Wenn Leute sehr intelligent sind, dann können sie auch ihre eigene Intelligenz benutzen, um sich immer stärker einzumauern. Und es ist dann richtig tragisch zuzuschauen. Also formale Bildung alleine schützt nicht vor Antisemitismus und Verschwörungsmythen.

Frage: Was schützt denn dann? Im Endeffekt heißt das ja, dass jeder von uns in gewissem Sinne auch Gefahr läuft, dass uns so etwas irgendwann auch selber erwischen kann, wenn wir in eine Krise kommen.

Blume: Exakt – das ist es. Elie Wiesel, der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger, hat einmal gesagt, dass wir die dunkle Seite des Mondes erforscht haben, aber nicht die dunkle Seite unseres Herzens. Und genau darum geht es. Die Verschwörungsgläubigen sind nicht die anderen, sondern wir alle können in Situationen kommen, wo uns die Realität überfordert, wo wir mit unseren Ängsten nicht mehr fertig werden, wo wir eigentlich Hilfe brauchen. Und Verschwörungsmythen bieten einen vermeintlich ganz einfachen Ausweg. Ich spalte die Ängste ab, ich projiziere sie auf eine Gruppe von Verschwörern und Pharmalobby und und und ...

Dann ist vermeintlich alles erklärt und ich habe wieder Kontrolle über mein Leben. Ich bin sogar wer. Ich bin einer der Erwachten, ich bin einer der Wissenden, einer derer, die es durchschauen und kein Schlafschaf mehr. Das ist unglaublich verführerisch. Und wir verstehen es erst, wenn wir uns damit auseinandergesetzt haben, die Psychologie dahinter verstehen und erkennen, das sind nicht dumme Leute, sondern das kann unter den falschen Einflüssen und falschen Umständen jeder und jedem von uns passieren.

Und erst wenn wir das begriffen haben, dass Verschwörungsglauben uns alle bedroht, dann können wir dem auch entgegentreten. Deswegen heißt auch mein Buch: "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht." Weil er eben alle betreffen kann. Übrigens auch zum Beispiel in Israel: Der israelische Ministerpräsident Rabin wurde von einem jüdischen Extremisten erschossen, der fest davon überzeugt war, dass sich der eigene Ministerpräsident mit den Palästinensern verschworen hätte, um den Staat Israel zu vernichten. Also Verschwörungsglauben kann überall, in jeder Religion, jeder Weltanschauung auftreten. Und wer da meint, das gäbe es nur bei anderen, der ist da schon stärker gefährdet.

Von Renardo Schlegelmilch