Subsidiarität und die Option für die Armen

Als Kirche die digitale Welt kritisch mitgestalten

Veröffentlicht am 18.09.2021 um 12:45 Uhr – Lesedauer: 

Rottenburg ‐ Die Medien- und Kommunikationslandschaft hat sich durch die Digitalität extrem gewandelt. Die Kirche muss diese Realität mit Blick auf das Menschenwohl reflektieren und mitgestalten, schreibt der scheidende Medienbischof Gebhard Fürst in seinem Gastbeitrag – und beginnt mit einer Vision.

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Bert Brecht hatte mit seiner Radiotheorie eine Vision, die alltägliche Wirklichkeit geworden ist: Menschen haben die Möglichkeit, Informationen nicht nur zu empfangen, sondern auch zu senden. Heute agieren wir als Prosumer selbstverständlich interaktiv.

Die Möglichkeiten der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz (KI) erleichtern, erweitern und bereichern uns in nahezu allen Lebensbereichen. Wie seinerzeit die Dampfmaschine in der Industrialisierung verstärken heute Algorithmen, Big Data und KI die Kräfte und Reichweite der Menschen.

Die Publizistische Kommission der Deutschen Bischofskonferenz hat mit den Thesen "Digitalität und Künstliche Intelligenz: Technik im Dienst des Geist-begabten und Selbst-bewussten Menschen" versucht, den Claim abzustecken, indem sich die aktuellen Kommunikationstechnologien und Kirche treffen.

Nicht Dystopien, sondern Gemeinschaft und Fortschritt unter den Menschen sind unsere Vision, die die Pastoralinstruktion "Communio et Progressio" (CeP) entfaltet. Vor 50 Jahren veröffentlicht, ist sie bis heute die Magna Carta der kirchlichen Medienarbeit. CeP versteht die Sozialen Kommunikationsmittel, also Medien, auch im digitalen Zeitalter als Zeichen der Zeit und "Geschenke Gottes" (CeP, Nr. 2). An diesen Zeichen können wir zeigen, was aus christlicher Sicht den Menschen ausmacht.

Digitalität als Bedingung unserer Gegenwart und Zukunft

Die Digitalität lässt sich nicht ignorieren. Sie ist eine Bedingung unserer Gegenwart und Zukunft. Wir müssen uns also dazu verhalten. Als Kirche sind wir aufgefordert, diese Realität sozialethisch, also auf das Wohl des Menschen und der Gesellschaft hin zu reflektieren, um sie kritisch mitzugestalten. Die Prinzipien der Katholischen Soziallehre helfen dabei. Das Prinzip der Subsidiarität gestaltet soziale Ordnung freiheitsorientiert und stellt sich gegen totalitäre Überwachungs- und Kommerzialisierungsinteressen. Die Option für die Armen fordert Teilhabegerechtigkeit für alle Menschen. Das Prinzip der Solidarität richtet die technische und rechtliche Infrastruktur auf gemeinwohlstiftende Potentiale aus. Nicht zuletzt stärkt das Personalitätsprinzip Menschen in ihrer Würde. Sie verhindert, dass Menschen im Meer von Big Data und statistischen Korrelationen untergehen. Schließlich braucht es Medienbildung und -kompetenz als Grundlage für eine adäquate Teilhabe in einer solchen "Kultur der Digitalität", wie sie der Schweizer Medienwissenschaftler Felix Stalder nennt.

Pointiert beschreibt die Theologin Judith Klaiber die zentrale Herausforderung des sozio-technischen Wandels: Was den Menschen im Angesicht von künstlicher Intelligenz auszeichne, "könnten die Merkmale von Transzendenzfähigkeit, Geschenkcharakter, der Preis der Sterblichkeit und die Frage nach Erlösung (als Sehnsucht nach Letztbegründungen) sein". Der wahre Fortschritt für das 21. Jahrhunderts liege darin, das mysterium humanum im Denken neu zu entdecken.

Das "Geheimnis" des Menschen hat nichts mit Remythologisierung zu tun. Vielmehr bezeichnet der Begriff das durch Endlichkeit und Verletzlichkeit bestimmte Wesen des Menschen in seiner Tiefe und Verborgenheit.

Gebhard Fürst im Portrait
Bild: ©Diözese Rottenburg-Stuttgart

Gebhard Fürst ist Bischof von Rottenburg-Stuttgart. Von 2006 bis 2021 ist er Vorsitzender der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz und Vorsitzender der Jury des Katholischen Medienpreises.

Diese kontingente, zerbrechliche Wirklichkeit steht immer im Horizont der Transzendenz, die die menschliche Erkenntnisfähigkeit überschreitet und wandelt. Darum sprechen wir von Erlösung. Die Würde und die Freiheit des Menschen entziehen sich deshalb prinzipiell einer abschließenden Bestimmbarkeit durch technische, mediale oder wissenschaftliche Festschreibungen.

Von digitaler Massenkommunikation lernen

Aber können Religion, Kirche und Theologie nicht auch von digitaler Medienkommunikation lernen? Kann religiöse Kommunikation wieder "agil" werden, so wie es zum Beispiel die Missionsreisen des Paulus waren? Der Missionsbegriff ist ambivalent. Mission bedeutet: Sendung, ehrenvoller Auftrag, innere, religiöse Aufgabe und Erneuerung, Sozialarbeit im eigenen Volk. Theologisch geht es um Teilhabe an und Erfahrung der Wandlung und Befreiung des Menschen zum Guten hin. Sie ist der erfahrbare Anbruch des Heil-Seins (Gottesherrschaft), die ohne den Nazarener vor 2000 Jahren nicht vorstellbar ist.

Tatsächlich geht Kirche sehr vielfältig auf Sendung. In den Diözesen, Orden und Einrichtungen ist die Digitalisierung ein Treiber unseres Auftrags.

1991, also vor 30 Jahren, wurde das World Wide Web aus der Taufe gehoben. 1995 beschäftigte sich die Bischofskonferenz erstmals mit dem Thema "Multimedia". Als Folge entstand 1996 das bundesweite Internetportal "katholische-kirche.de", damals noch ehrenamtlich geführt. Das Portal bestand aus einer einfachen, kategorisierten Linkliste, die verlässlich katholische Inhalte präsentierte. 2003 erfolgte der Relaunch zu "katholisch.de" mit der Einrichtung nun zweier fester Redakteursstellen. Entsprechend der Anforderungen des Web 2.0 und crossmedial startete 2012 "katholisch.de" neu, wie wir es heute kennen. Die Bischöfe wollten mit dem großen Relaunch die Diskussion der Kirche in ganzer Breite spiegeln. Dialogorientierung, Formatexperimente und moderiertes Social-Media-Engagement prägten das Aggiornamento des Portals. katholisch.de hatte damals 200.000 Visits pro Monat. Heute sind es in der Spitze bis zu 2,6 Millionen. Die Redaktion umfasst aktuell zehn Redakteurinnen und Redakteure in Voll- und Teilzeit, die unter anderem mehr als 1.500 Kommentare täglich in den sozialen Netzwerken moderieren.

Digitale Kirche findet statt

Die Corona-Pandemie zeigt, dass Digitale Kirche stattfindet. Wir sollten uns spirituell und pastoral an der durch die Digitalität veränderten gesellschaftlichen Entwicklung auszurichten. Wie kann dieses erweiterte Kirchenraumbewusstsein weiter entfaltet werden? Ich jedenfalls bin davon überzeugt, dass wir an den Innovationen einer geistlich geprägten, hybriden Kirche wachsen werden.

Bild: ©Adobe-Stock/patiwat/Sansert

"Die Corona-Pandemie zeigt, dass Digitale Kirche stattfindet", schreibt Gebhard Fürst.

Überdiözesan galt es seit 2010 kirchliche Medienunternehmen und Marken zusammenzuführen und Kooperationsmöglichkeiten zu nutzen und neue Produkte zu entwickeln. Darüber hinaus sollte ein Netzwerk entstehen, das die verschiedenen kirchlichen Medienaktivitäten verbindet, um so Stärken und Kompetenzen miteinander besser zu nutzen.

Im Ergebnis entstand das Katholische Medienhaus in Bonn als überdiözesaner Dienstleister und zur Bündelung von technischen und inhaltlichen Ressourcen sowie zur crossmedialen Content-Distribution, unter anderem mit der Katholischen Nachrichten-Agentur KNA, katholisch.de, der Medienkorrespondenz, dem Filmdienst. Insbesondere die KNA ist als journalistische Fachagentur ein wichtiger Kommunikator für kirchliche und gesellschaftlich relevante Themen in die säkularen Medien hinein. Eine unabhängige, fachkundige Stimme gibt in einer digitalen Gesellschaft mit manchmal rasanten Meinungsbildungsprozessen die notwendige Stabilität und Sicherheit.

Kirchliche Sendungen in Radio und Fernsehen wie Gottesdienstübertragungen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern werden stark nachgefragt., Aber auch hier werden digitale Angebote wichtiger Als Kirche müssen wir auch dort unterwegs sein, wo die Menschen medial "zu Hause" sind.

Neben dem Angebot von hochwertigen spirituellen und journalistischen Inhalten sind für die kirchliche Medienarbeit auch Medienpolitik und vor allem Fragen der Medienkompetenz wichtige Säulen.

Was Menschen wahrhaft dient

Kirchliche Kommunikation orientiert sich an dem, was Menschen wahrhaft dient. Wir müssen daher immer wieder selbst neu kommunikations- und beziehungsfähig werden und die Menschen dort erreichen, wo sie unterwegs sind. Sonst gelingt die Bindung zum Evangelium und zur Kirche nicht.

Kommunikation ist die Substanz und Urgrund des Lebens. Sie ist anthropologisch-psychologisch und damit theologisch die Bedingung, ohne die nichts leben kann, physisch und psychisch-geistig-geistlich. Kommunikation in diesem Sinne ist eine spirituelle, ja trinitarische Geist-Erfahrung. Die Art und Weise, wie Jesus kommunizierte, ist der Kern unserer Verkündigung.

Was macht die Kommunikation Jesu, die wir auch liturgisch reinszenieren, so besonders? Sie hat Merkmale, die auch Merkmale unserer Medienarbeit sind: Den Anderen/die Andere auf Augenhöhe wahrnehmen, hören und sehen. Sie nimmt sich besonders der prekären Milieus an. Sie steht dafür, dass wir Abbild von etwas unbeschreiblich "Großem" sind, für das es keinen Begriff gibt. Und der Nazarener zeigte vor 2000 Jahren in seiner Art, dass das "Große" in der Befreiung, Gesundung, Tröstung, Hoffnung, Achtsamkeit und Empathie, kurz in der Liebe, erfahrbar ist. Deshalb nennt ihn CeP "Perfectus Communicator" (Nr. 11).

Das unsagbar und alles überschreitende Große, das letzte Geheimnis, die Transzendenz, ist das Korrektiv, das gottähnliche, digitale Technikvisionen auf den Boden der Tatsachen zurückholt. "Die neue Technik für den Austausch unter den Menschen versammelt die Zeitgenossen sozusagen um einen runden Tisch, … [damit] alle Menschen auf dem ganzen Erdkreis wechselseitig Anteil nehmen an den Sorgen und Problemen, von denen die einzelnen und die ganze Menschheit betroffen sind." (CeP Nr. 19) Ich wünschte mir, dass diese Agenda für Kommunikation, Medien und erfahrungsorientierte Verkündigung den Menschen wahrhaft dient.

Von Gebhard Fürst