Hilfswerk startet Weltmissionsmonat mit Schwerpunktland Nigeria

Missio-Chef Bingener: Missbrauch von Religion für andere Konflikte

Veröffentlicht am 02.10.2021 um 13:00 Uhr – Lesedauer: 

Aachen ‐ Nigeria steht in diesem Jahr im Mittelpunkt des Weltmissionsmonats des katholischen Hilfswerks missio Aachen. Im Interview spricht dessen Präsident Pfarrer Dirk Bingener über die Aktion und die Situation in dem Land.

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Im Weltmissionsmonat stellt das katholische Hilfswerk missio Aachen diesmal Nigeria in den Mittelpunkt seiner Aktion, die am 3. Oktober in Essen eröffnet wird und mit der bundesweiten Kollekte am Weltmissionssonntag, dem 24. Oktober, endet. Das biblische Motto "Lasst uns nicht müde werden, das Gute zu tun" stammt aus dem Brief von Paulus an die Galater. Im gemeinsamen Interview von katholisch.de und der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht der Präsident von missio Aachen, Pfarrer Dirk Bingener, über die Aktion und die Situation in Nigeria. Dabei erklärt er auch, warum er den Begriff "Christenverfolgung" schwierig findet und warum er die Religionen nicht für die Ursache der blutigen Konflikte in dem afrikanischen Land hält.

Frage: Pfarrer Bingener, Nigeria ist Schwerpunktland beim Monat der Weltmission von missio. Von dort hört man oft schreckliche Nachrichten, etwa wenn die Terror-Gruppe Boko Haram wieder einmal Menschen entführt. Welche Rolle spielen die Religionen in diesen Konflikten?

Bingener: Die Menschen in Nigeria sind sehr religiös, und das macht es Boko Haram und anderen leicht, die Religion zu missbrauchen, um Menschen gegeneinander aufzubringen. In Wahrheit stecken dahinter aber meist andere Ursachen. Mit Entführungen zum Beispiel können Kriminelle schlicht Geld verdienen. Dann gibt es Konflikte um Rohstoffe oder um Land zwischen ortsansässigen Bauern und umherziehenden Hirten. Religion ist ganz selten die Ursache, aber immer wieder gelingt es, die Konflikte religiös aufzuladen. Umso wichtiger ist es uns und unseren Projektpartnern vor Ort zu zeigen, dass Religion nicht das Problem ist, sondern zur Lösung beitragen kann.

Frage: Bevor wir dazu kommen, noch etwas Anderes: Viele – auch Hilfsorganisationen – sprechen von einer massiven Christenverfolgung in Nigeria. Zu Recht?

Bingener: Ich würde es nicht so formulieren, wenn sie das in dem Sinn meinen, dass nur Christen verfolgt werden. Opfer des Terrors durch Boko Haram und durch die anderen Konflikte und Verbrechen sind gleichermaßen Christen und Muslime. Das betonen auch unsere Projektpartner wie Bischof Stephen Mamza in Yola immer wieder. Und kämpfen dafür, dass sich alle Menschen guten Willens – egal welcher Religion sie angehören – nicht auseinanderdividieren lassen. Denn wenn wir von Religionskonflikten sprechen und uns aufstacheln lassen, sind wir denen auf den Leim gegangen, die von der desolaten Situation profitieren und sie deshalb schüren.

Bild: ©dpa/Ngala Killian Chimtom (Archivbild)

Opfer der islamistischen Terrormiliz Boko Haram in Nigeria.

Frage: Sie haben es eben angesprochen: Welche Chancen haben Religionsgemeinschaften, Teil der Lösung zu sein?

Bingener: Große Chancen, wenn sie konkret handeln und dadurch zum Vorbild werden! Ich denke an hohe muslimische und christliche Würdenträger wie den Emir von Wase und Erzbischof Kaigama, die beide moralische Autoritäten im Land sind. Wenn die beiden immer wieder gemeinsam auftreten und deutlich machen, wir stehen auf der Seite der Opfer und wenden uns gegen jede Gewalt, dann hat das eine große Wirkung im Land.

Frage: Sind Kaigama und Mamza Einzelfälle – oder denken und handeln alle katholischen Bischöfe so?

Bingener: Ich kann natürlich nicht für jeden Einzelnen sprechen, aber ich erlebe die Bischofskonferenz so, dass sie eindeutig vom Dialog und vom Willen zur Versöhnung geprägt ist. Ich glaube, die Kirche hat ihre starke Rolle verstanden – und zwar als Verpflichtung, sich mit aller Kraft für den Frieden einzusetzen.

Frage: Klingt nach einem hehren Ziel in Nigeria. Aber wie groß ist denn in der Bevölkerung die Bereitschaft zu einem Dialog?

Bingener: Das ist schon eine Herausforderung – gerade mit Blick auf persönliche Schicksale. Bischof Mamza etwa hat seinen Bruder verloren durch Boko Haram, und ähnlich geht es ganz vielen anderen Menschen im Land. Und natürlich ist die Versuchung groß, sich aufstacheln zu lassen. Etwa wenn Viehhirten miterleben müssen, wie ihre Tiere vergiftet werden oder Bauern sehen, dass die Rinder ihre Felder zertrampeln und so die Ernte zerstören. Das tut weh, und die Versuchung ist groß, in den Chor derer einzustimmen, die auf die "bösen Muslime" oder die "bösen Christen" schimpfen. Umso wichtiger sind Vorbilder, die trotz des Leids die Hand zur Versöhnung reichen. Genau darum geht es auch in den meisten unserer derzeit 28 Projekte in Nigeria.

„Starke Persönlichkeiten mit guter Ausbildung lassen sich nicht so leicht verführen zu Terror und Gewalt.“

—  Zitat: Pfarrer Dirk Bingener

Frage: Wie funktioniert das dort konkret?

Bingener: Ich denke etwa an die "Mütter für den Frieden", von denen drei jetzt auch im Weltmissionsmonat nach Deutschland kommen. Hier haben sich insgesamt mehr als 12.000 christliche und muslimische Frauen zusammengeschlossen. Die meisten haben selbst Männer, Kinder oder andere Angehörige verloren. Und trotzdem vermitteln sie in Konflikten und setzen sich in ihren Dörfern und Städten für Dialog und Aussöhnung ein.

Frage: Was sind weitere Beispiele?

Bingener: Besonders beeindruckt hat mich bei meinem letzten Besuch 2020 das Engagement von Bischof Mamza. Neben seiner Bischofskirche haben sechs Jahre lang mehrere hundert muslimische und christliche Flüchtlinge in einem Lager gelebt, bis er dafür gesorgt hat, dass – mit unserer Hilfe aus Deutschland – ein Dorf gebaut wurde für die Flüchtlinge. Dazu kam dann eine Schule. Dann wollten die Menschen auch gerne eine Kirche haben. Die haben wir mit gebaut – und der Bischof hat aus seinen Mitteln daneben eine Moschee finanziert. Für mich ein tolles Beispiel für ein gutes Miteinander der Religionen. Dazu kommen viele weitere Projekte gerade für junge Menschen in Nigeria, um ihnen eine Perspektive zu bieten. Denn starke Persönlichkeiten mit guter Ausbildung lassen sich nicht so leicht verführen zu Terror und Gewalt. Und das ist eine Botschaft, von der unsere Gäste aus diesen Projekten auch hier in Deutschland während des Weltmissionsmonats berichten werden. Vielleicht kann es dabei ja auch die ein oder andere Anregung für den interreligiösen Dialog hier bei uns geben.

Von Gottfried Bohl (KNA) und Roland Müller (katholisch.de)