Caritas-Kandidatin Welskop-Deffaa: Glaubwürdige anwaltliche Stimme sein
Am 13. Oktober wählt der Deutsche Caritasverband einen neuen Präsidenten – oder eine neue Präsidentin. Drei Kandidaten stellen sich zur Wahl um die Nachfolge von Prälat Peter Neher, der den Sozialverband seit 2003 leitet. Der Verband steht vor einigen Herausforderungen: Wie können gute Arbeitsbedingungen in der Pflege sichergestellt werden? Wie geht es weiter mit dem kirchlichen Arbeitsrecht? Wie kann die Caritas Digitalisierung so gestalten, dass alle Menschen beteiligt werden? Im Interview mit katholisch.de stellen sich die Kandidaten vor.
Die Interviews
Samstag, 9. Oktober: Christian Hermes
Sonntag, 10. Oktober: Markus Leineweber
Montag, 11. Oktober: Eva Maria Welskop-Deffaa
Als einzige aus der Riege der Bewerber ist Eva Maria Welskop-Deffaa bereits Mitglied im Vorstand der Caritas: Seit 2017 ist sie Vorstand für Sozial- und Fachpolitik. Zuvor arbeitete sie für katholische Verbände, war Abteilungsleiterin im Familienministerium und vier Jahre lang im Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di. Im Interview verrät sie, wie Caritas und Sozialethik-Professoren künftig besser miteinander auskommen wollen – und was das Angelusgebet mit der Zukunft des kirchlichen Arbeitsrechts zu tun hat.
Frage: Frau Welskop-Deffaa, vor ihrer Zeit im Caritas-Vorstand waren Sie vier Jahre lang im Bundesvorstand der Gewerkschaft ver.di. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt? Was werden sie als Caritas-Präsidentin aus dieser Zeit einbringen können?
Eva Maria Welskop-Deffaa: Bei ver.di war ich vor allem für die Selbstverwaltungsaufgaben in der Sozialversicherung zuständig: Ich war im Vorstand der Deutschen Rentenversicherung und im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit, wo ich den Blick der Versicherten auf sozialpolitische Entscheidungen eingenommen habe. Sozialversicherungen sind nicht, wie viele denken mögen, staatliche Einrichtungen: Sie sind von den Beitragszahlern getragene Versicherungen, bei denen es ein Recht auf Mitverwaltung durch die Einzahlenden gibt. Diese Partizipations-Perspektive bringe ich in die Caritas mit ein.
Frage: Bei ver.di sind sie nur vier Jahre geblieben und dann in den Caritas-Vorstand gewechselt. Wie kam das?
Welskop-Deffaa: Eigentlich war ich gar nicht auf dem Absprung, als die Caritas anfragte, ob ich Vorstand für Sozialpolitik werden wolle. Ich war bei ver.di gerade wiedergewählt worden, was keineswegs selbstverständlich war. Trotzdem habe ich mich entschieden, dem Werben der Caritas zu folgen. Meine Vermutung, dass die Caritas ein Ort ist, dem ich vertraut bin und bei dem ich in die Kultur passe, hat sich bestätigt. Ich bin aber sehr dankbar für die Zeit bei ver.di und den Einblick in die Selbstverwaltung.
Frage: Welche Impulse kann die Caritas von der Selbstverwaltung mitnehmen?
Welskop-Deffaa: Auch in der Caritas müssen wir immer weiter lernen, die Perspektiven der Menschen einzunehmen, für die wir da sind. Es gilt, neue Beteiligungsformate in den Wohlfahrtsverbänden zu schaffen, damit wir nicht nur über Menschen mit Behinderung, mit Armutserfahrung, mit Suchtproblemen… reden, sondern mit ihnen, und Räume eröffnen, wo sie ihre Interessen selbst vertreten können. "Nichts ohne uns über uns" ist eine Parole, die nicht nur für Menschen mit Behinderung gilt, sondern generell in der sozialen Arbeit programmatisch sein sollte. Da sollten wir uns im Vergleich zum Staat eigentlich leichter tun. Aber auch bei uns gibt es noch gewisse Relikte einer fürsorglichen Belagerungskultur.
Frage: Was meinen Sie mit "fürsorgliche Belagerungskultur"?
Welskop-Deffaa: Die Wohlfahrtsverbände sprechen davon, dass sie erstens Dienstleister, zweitens Solidaritätsstifter und drittens Anwalt sind. Wir wissen, dass es diese anwaltliche Funktion für Benachteiligte braucht. Ganz konkret ist etwa bei Wahlen die Wahlbeteiligung von Menschen im unteren Einkommensbereich oder mit niedrigerer Bildung deutlich niedriger als die Wahlbeteiligung der Mittelschicht. Das führt dazu, dass manche Anliegen in der Politik unterrepräsentiert sind. Für diese sprechen wir dann auch als Verstärker. Aber unser Ansatz sollte umfassender darauf zielen, die Menschen stark zu machen, sie zu befähigen ihre Interessen selbst zu vertreten. Allzu leicht glauben wir, dass wir eigentlich besser wissen als die Menschen selbst, was für sie gut wäre. Fürsorge droht dann, in Bevormundung umzuschlagen.
Frage: Die Rollen, die Sie genannt haben, können auch im Konflikt stehen: Als Dienstleisterin steht die Caritas im Wettbewerb der Sozialwirtschaft mit allem damit verbundenen Kostendruck, als Anwältin für die Armen macht sie sich gerade für schlechter entlohnte Berufsgruppen stark. Wie löst man diesen möglichen Zielkonflikt?
Welskop-Deffaa: Da sehe ich weniger Spannungen als andere. Ich bin erstaunt, wie stark uns oft vorgehalten wird, dass wir vermeintlich nur unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen vertreten anstatt Stimme derer zu sein, denen unsere Arbeit gilt. Ich nehme das ganz anders wahr. Wir haben beispielsweise Altenhilfeeinrichtungen nicht, weil wir damit Profit machen wollen – das dürfen wir als gemeinnützige Träger ohnehin nicht –, sondern weil wir Menschen ein gutes Lebensumfeld schaffen wollen, die nicht mehr gut zu Hause leben können. Unsere anwaltschaftliche Arbeit für vulnerable Gruppen speist sich aus den Erfahrungen unserer Einrichtungen. Wir erfahren von dem Leid und den Bedürfnissen traumatisierter Kinder nicht zuerst aus Studien, sondern weil wir uns in unseren Einrichtungen um diese Kinder kümmern, diese Erfahrung reflektieren und in unsere sozialpolitische Arbeit einfließen lassen. Weil wir unsere Einrichtungen haben, können wir eine glaubwürdige anwaltliche Stimme sein. Es motiviert mich in besonderer Weise Präsidentin der Caritas zu werden, dass ich von diesem Ansatz so überzeugt bin: Not sehen und darauf aufbauend handeln! Missverständnisse aus der Welt zu räumen, dass unsere Dienstleistungen das anwaltschaftliche Handeln kompromittieren würden, sehe ich als wichtige Aufgabe an.
Frage: Die Caritas war dieses Jahr vor allem mit der Ablehnung des Flächentarifvertrags in der Altenpflege durch die Arbeitsrechtliche Kommission in den Schlagzeilen – überwiegend negativ. Auch ein Missverständnis?
Welskop-Deffaa: Da wundert es mich ehrlich gesagt, wie groß das Missverständnis ist in Bezug auf das, was tatsächlich zu entscheiden war. Durch das Pflegelöhneverbesserungsgesetz wurde 2019 die Möglichkeit geschaffen, neben dem bereits bestehenden Weg über die Pflegekommission Mindeststandards in der Pflege zu regeln, indem Tarifverträge unter besonderen Bedingungen für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das ist eine reine Verfahrensregelung. Es gibt inhaltlich keine Unterschiede zwischen dem, was ein für allgemeinverbindlich zu erklärender Tarifvertrag und was die Pflegekommission regeln kann. Was die Pflegekommission in den letzten Jahren an Zuwachs bei den Löhnen erreicht hat, kann sich sehen lassen. Selbst ver.di hat Anfang 2020 die Fortschritte gelobt. Der Tarifvertrag, der jetzt zur Debatte stand, war im Grunde die Vorwegnahme der zu erwartenden nächsten Schritte der Pflegekommission, also keinerlei revolutionäre Verbesserung, sondern eine Fortschreibung. Im Interesse der Gewerkschaften liegt es natürlich, aus dem für sie weniger systemgerechten Weg einer Kommission herauszukommen und die Tarifautonomie zu stärken. Dabei ist es ihnen gelungen, den Anschein zu erwecken, als hätte der Tarifvertrag substantielle Verbesserungen für die Beschäftigten gebracht. Wir müssen eingestehen, dass es in unserer Kommunikation Holprigkeiten gab und es uns nicht gelungen ist, den Mechanismus zu erklären.
Frage: Nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch eine substantielle Zahl an Professoren für Christliche Sozialethik zählten zu ihren scharfen Kritikern. Wie kommt es, dass da anscheinend so wenig Verständnis für die verbandliche Caritas und ihr Handeln ist?
Welskop-Deffaa: Wir haben unmittelbar nach der Erklärung der Sozialethiker_innen das Gespräch gesucht. Mein Eindruck ist, dass die Professorinnen und Professoren die Erfahrung gemacht hatten, dass es sich in den letzten Jahren nicht gelohnt hat, mit kirchlichen Akteuren ins Gespräch zu gehen, an denen man Kritik zu üben hat. Deshalb wurde wohl das Gespräch mit uns nicht gesucht. Ich hoffe, die Sozialethiker_innen sehen unsere Gesprächsbereitschaft, so dass wir künftig bei Konflikten vorab ins Gespräch kommen, um uns die verschiedenen Blickwinkel gegenseitig verständlich zu machen.
Frage: Im Zuge der Debatte wurde auch die grundsätzliche Frage nach der Zukunft des Dritten Wegs aufgeworfen. Hat der Dritte Weg Zukunft?
Welskop-Deffaa: Der Dritte Weg muss sehr gut erklärt werden, damit er Zukunft hat. Ich hielte es für einen großen Verlust, wenn wir den Dritten Weg nicht erhalten könnten. Für die Caritas ist es eine große Klammer, dass wir mit den Arbeitsvertragsrichtlinien des Deutschen Caritasverbands, den AVR, einen bundesweiten Flächentarif haben, auf den sich alle verlassen können. Wir bieten in allen unseren Einrichtungen so gute Konditionen, dass es kaum vorstellbar wäre, dasselbe im Zuge des Zweiten Wegs zu erreichen, ganz gewiss nicht mit dieser flächendeckenden Anwendung. Damit aber die Grundidee des Dritten Wegs, auf Aushandlung statt auf Arbeitskampf zu setzen, überzeugend ist, muss die Dienstgemeinschaft konkret erfahren werden und von den Arbeitsrechtlichen Kommissionen so gelebt werden, dass sich die beiden Seiten als etwas anderes verstehen als normale Tarifpartner. Das ist angesichts des Gegenwinds aus der Gesellschaft und den Rahmenbedingungen, die das Bundesarbeitsgericht mit seinem Urteil zur Beteiligung von Gewerkschaften geschaffen hat, eine anspruchsvolle Aufgabe.
„Wir erfahren von dem Leid und den Bedürfnissen traumatisierter Kinder nicht zuerst aus Studien, sondern weil wir uns in unseren Einrichtungen um diese Kinder kümmern, diese Erfahrung reflektieren und in unsere sozialpolitische Arbeit einfließen lassen. Weil wir unsere Einrichtungen haben, können wir eine glaubwürdige anwaltliche Stimme sein.“
Frage: In der Caritas arbeiten viele Berufsgruppen mit traditionell niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Liegt das am Dritten Weg? Und schwächt das die Verhandlungsposition der Gewerkschaften, deren Tarifverträge schlussendlich auch auf die Caritas-Tarife Auswirkungen haben?
Welskop-Deffaa: Die Gewerkschaften sehen das so. Das Problem in den sozialen Berufen liegt aber tiefer. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, wo es keinen Dritten Weg gibt, stellen wissenschaftliche Studien fest, dass viele Menschen in Sozialberufen die Interessen der Menschen, um die sie sich in ihrer Arbeit kümmern, höher als ihre eigenen gewichten. Das schlägt sich im gewerkschaftlichen Organisationsgrad nieder. Ich bezweifle, dass es zur Berufszufriedenheit dieser Berufsgruppen beitragen würde, wenn sie wüssten, dass sie ihre Arbeitsbedingungen mit Streik erkämpfen müssten – weil dabei immer auch Personen Leidtragende des Streiks sind, denen die Fürsorge gilt.
Frage: Ein anderes Problem ist der Fachkräftemangel, der in kirchlichen Einrichtungen noch dadurch verschärft wird, dass sie ihr christliches Profil erhalten müssen. Wie schafft man diesen Spagat?
Welskop-Deffaa: Auch das erlebe ich gar nicht so sehr als Spagat. Ich denke an einen Besuch vor kurzem bei der Caritas in Erfurt. In den Caritas-Einrichtungen in den neuen Bundesländern ist es bis heute Tradition, um 12 Uhr mittags gemeinsam das Angelusgebet zu beten. Das ist eine Chance, gemeinsam innezuhalten – und das nehmen die meisten Kolleginnen und Kollegen gemeinsam wahr, egal ob getauft oder nicht, und im Osten sind viele nicht getauft. Das zeigt mir, dass eine institutionelle Gestaltung des christlichen Profils auch ansteckend wirkt auf Menschen, die keine Christen sind. Sie fühlen ihre professionelle Aufgabe gut aufgehoben in einer Organisation, die ihr Leitbild und ihre Werte transzendent rückversichert. Da müssen wir überhaupt keine Profil-Angst haben. Wir brauchen keine Mindestquote an katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, damit eine Einrichtung vom Geist der Caritas geprägt ist.
Frage: Ist die Grundordnung des kirchlichen Dienstes dafür geeignet, um diese Offenheit auch gut umzusetzen?
Welskop-Deffaa: Eigentlich sollte die Grundordnung fünf Jahre nach ihrer Neufassung evaluiert werden. Die fünf Jahre sind vorbei, aber es ist noch nichts passiert. Es wäre allerdings dringend an der Zeit, das zu tun. Die Loyalitätsobliegenheiten passen in dieser Form nicht mehr und führen auch zu seltsamen Ungleichbehandlungen – für aus der Kirche ausgetretene Katholiken gelten strengere Maßgaben als für ausgetretene Protestanten.
Frage: Braucht es bei den Wohlfahrtsverbänden institutionell mehr Ökumene?
Welskop-Deffaa: Wir haben eine gute ökumenische Zusammenarbeit. Wo es naheliegend und sinnvoll ist, wird jetzt schon viel gemeinsam getan. Ich denke etwa an das Beispiel der Bahnhofsmissionen, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts ökumenisch arbeiten und eine großartige Erfolgsgeschichte der sozialen Arbeit darstellen: Sowohl bei den Gästen als auch bei den Ehrenamtlichen begegnen sich in den Bahnhofsmissionen Menschen aus ganz verschiedenen Herkünften und Schichten. Dass das ökumenisch gelingt, ist vielleicht Teil des Erfolgsgeheimnisses.
Frage: Die Diakonie ist komplett nach Berlin umgezogen. Ist das ein Vorbild für die Caritas?
Welskop-Deffaa: Der Sitz der Caritas ist die Stadt Freiburg, und das Belegenheitsbistum ist das Erzbistum Freiburg. Das wird auch so bleiben. Die Frage, wie stark wir in Berlin und auch in Brüssel präsent sind, sollten wir von politischen Handlungsnotwendigkeiten abhängig machen. Meine Einschätzung ist, dass wir sowohl in Berlin als auch in Brüssel unsere Präsenz verstärken sollten, weil die Taktung im politischen Betrieb dichter geworden ist. Angesichts der komplexen politischen Konstellationen und der Präsenz der meisten Akteure in Berlin muss man da schnell und flexibel mitmischen können.
Frage: Kommen wir zum Schluss noch einmal zum Fachkräftemangel und machen ihn zur Chefsache: Sie stehen bei einer Jobmesse am Stand der Caritas. Wie begeistern Sie die junge Frau, die an ihren Stand kommt und gerade ihren Schulabschluss macht, davon, eine Karriere bei der Caritas ins Auge zu fassen?
Welskop-Deffaa: Da würde ich meinen Sohn vorschicken. Auf die Fragen von jungen Menschen können junge Menschen am besten Antworten geben. Ich muss mich immer wieder von meinen Kindern auf unbemerkte Sensationen, aber auch auf Unglaubwürdigkeiten hinweisen lassen. Davon profitiere ich in meiner Selbsteinschätzung, wann ich lieber andere sprechen lasse.