Blut, Ungeziefer, Seuche: Der Horror der biblischen Plagen
Es hätte der Beginn einer wundervollen Völkerfreundschaft sein können: Der begabte Hebräer Josef aus dem beschaulichen, aber unterentwickelten Kanaan, steigt in Ägypten vom Versklavten zum Landwirtschaftsminister auf. Sein vorausschauendes Handeln rettet die antike Großmacht vor einer Hungersnot. Aus Dank genehmigt der Pharao einen überaus weitgefassten Familiennachzug: Josefs gesamte Verwandtschaft soll mitsamt ihrem Besitz übersiedeln. Und so ziehen die Vorfahren der 12 Stämme Israels für ein besseres Leben nach Ägypten (vgl. Gen 37–50).
Die versprochene Toleranz aber hält nicht lang: Der neue Pharao weiß von Josef nichts mehr, fürchtet die hohe Geburtenrate der Zugewanderten und unterstellt ihnen politische Illoyalität. Es beginnt mit staatlich verordneter Unterdrückung, steigert sich zur Versklavung und mündet in dem königlichen Befehl, jedes männliche Neugeborene der Hebräer zu töten – ein Genozid auf Raten. Mose, das wohl berühmteste Findelkind der Weltliteratur, aber überlebt ausgerechnet als Ziehsohn der Pharaonentochter. Auf abenteuerlichen Wegen gelangt Mose nach Midian, wo Gott ihn beruft, sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens herauszuführen (vgl. Ex 2–6).
Ein göttlicher Plan
Der große Erzählzusammenhang der Plagen (Ex 7–11) beginnt mit einem göttlichen Paukenschlag – und einem theologischen Problem: "Du sollst alles sagen, was ich dir auftrage; dein Bruder Aaron soll es dem Pharao sagen und der Pharao muss die Israeliten aus seinem Land fortziehen lassen. Ich aber will das Herz des Pharao verhärten und dann werde ich meine Zeichen und Wunder im Land Ägypten häufen." (Ex 7,2–4). Darf Gott den Pharao für etwas strafen, das er selbst herbeigeführt hat? Völlig aufzulösen ist diese Spannung nicht, doch betont eine Interpretationsmöglichkeit die in der Wortverbindung enthaltene positive Bedeutung der Herzensstärke. Der Pharao erscheint dann als selbstbewusster Herrscher, der ganz genau weiß, was er will. Gott aber lässt diesen Charakterzug ins Extreme wachsen: Aus dem aufmerksamen Machthaber wird ein für Veränderungen blinder Despot, dem ausgerechnet seine Stärke zum Verhängnis wird – und ihn zum Werkzeug Gottes macht.
Was nun folgt, wird unterschiedlich betitelt und gezählt. Im Originaltext ist die Rede von "Zeichen und Wundern" (Ex 7,3) oder "Stößen" (Ex 9,14), während die jüdische Tradition auch von "Schlägen" spricht. Die Bezeichnung "Plage" wird erst in Bezug auf die Tötung der Erstgeburt verwendet. Inhaltlich handelt es sich aber bei den vorangehenden Geschehnissen durchaus um Plagen. In der Neuen Einheitsübersetzung wird das Stabwunder (vgl. Ex 7,8–13) bereits als erstes Zeichen gezählt: "Jeder warf seinen Stab hin und die Stäbe wurden zu Schlangen. Doch Aarons Stab verschlang ihre Stäbe. Das Herz des Pharao aber blieb hart und er hörte nicht auf sie. So hatte es der HERR vorausgesagt. " (Ex 7,12f) Die rabbinische Auslegung hingegen ordnet dies als Rahmenhandlung ein und gliedert damit die Erzählung in drei Gruppen zu je drei Plagen. So wird der Wettstreit mit den Hofmagiern zur verräterischen Eröffnungsszene: Der uneinsichtige Despot aber bringt den Misserfolg seiner Beamten nicht mit seiner eigenen Macht in Verbindung – und läuft blind ins Verderben.
Gruppe 1, Plage 1: Das Blutwasser (Ex 7,14–28)
"Das verwandelte sich alles Nilwasser in Blut."
Könnte hinter dieser Plage ein historisches Naturgeschehen wie Hochwasser und ein damit verbundenes Kippen des Nils stehen? Solche Überlegungen gehen an der Intention des Textes vorbei, der keinen realistischen Geschehensablauf liefern möchte, sondern die Plage mit ihrer zeichenhaften Funktion charakterisiert. Mit "Blut zu Wasser" greift die Bibel auf ein im Alten Orient bekanntes Motiv zurück, das eine Beeinträchtigung der Lebensmöglichkeiten signalisiert. Vor der Macht Gottes gibt es in ganz Ägypten kein Ausweichen, wie die Ausdehnung der Plage vom Nil auf alle Wasserquellen deutlich macht. Gleichzeitig weisen die Stichworte des Plagenbeginns bereits auf dessen Ende hinaus: Das Blut an ihren Türbalken wird die Israeliten vor dem Todesengel bewahren (Ex 12), bevor sie durch das Wasser des Roten Meeres in die Freiheit ziehen werden (Ex 14). Noch aber können die königlichen Zauberexperten mithalten und tun es Mose und Aaron mit der Wasserverseuchung gleich. In bester Diktatorenmanier hat der Pharao damit auf Kosten seines Landes allein seinem Ego geholfen.
Gruppe 1, Plage 2: Die Froschinvasion (Ex 7,26–8,11)
"Da stiegen die Frösche herauf und bedeckten das Land Ägypten."
Die zweite Plage knüpft eng an die vorangegangene an, denn auf das unbrauchbare Wasser folgt nun das durch Frösche ungenießbar gewordene Brot. Wieder ziehen die Hofmagier nach und lassen auf die Froschinvasion noch einmal eigene Frösche folgen. Trotzdem scheint der Pharao zumindest ansatzweise den wahren (mächtigeren) Urheber der Plage erkannt zu haben und bittet Mose und Aaron um Fürsprache bei Gott. "Morgen" (Ex 8,6) solle Mose für den Pharao beten. Mose aber erwirkt direkt im Anschluss an das Gespräch ein Ende der Plage – und zeigt durch diesen kleinen Ungehorsam, was er wirklich von dem Pharao hält. Der Herrscher zeigt schnell wieder sein wahres Gesicht und verbietet die Ausreise. Was kümmern einen absoluten Machthaber schon alte Versprechen?
Gruppe 1, Plage 3: Die Mückeninvasion (Ex 8,12–15)
"Aller Staub der Erde wurde zu Stechmücken im ganzen Land Ägypten."
Daraufhin wird es für den Pharao so richtig ungemütlich. Die Herkunft der Mücken aus dem Staub erinnert an Gottes Erschaffung des Menschen (vgl. Gen 2,7; 3,19), aber auch an Gottes Mehrungsverheißung an Abraham (vgl. Gen 13,16) – es sind die großen Machterweise Gottes. Hier müssen selbst die Zauberexperten zurücktreten, denn ihre Imitation misslingt. Im Gegensatz zum Pharao aber, der ihre Warnungen in den Wind schlägt, deuten sie die Zeichen richtig und zeigen Gotteserkenntnis. Damit zeichnet sich zum Ende der ersten Plagengruppe eine entscheidende Veränderung ab: Der innere Machtzirkel steht nicht mehr geschlossen hinter dem Despoten und eine Spaltung kündigt sich an.
Gruppe 2, Plage 1: Die Ungezieferinvasion (Ex 8,16–28)
"Ungeziefer kam in Massen über das Haus des Pharao, über das Haus seiner Diener und über das ganze Land Ägypten."
Der Machtwettstreit zwischen Gott und Ägypten wurde in der ersten Plagengruppe bereits für Gott entscheiden. Nun tritt die besondere Beziehung zwischen Gott und seinem Volk in den Mittelpunkt der Erzählung. Der Pharao reagiert auf die in Ägypten schwere Schäden verursachende Ungezieferinvasion mit einer kühlen Machtberechnung: Wenn diese Gottheit der Hebräer in Ägypten Macht hat, dann muss sie aus Staatsraison auch in Ägypten verehrt werden. Mose aber lehnt ab und besteht auf einen Auszug in die Wüste. Daraufhin lenkt der Pharao ein – mit eigennützigem Hintergedanken: Nicht für sein gebeuteltes Land sollen die Israeliten in der Wüste beten, sondern für ihn selbst. Doch auch dazu kommt es nicht, denn mit der Aufhebung der Plage verschließt der wortbrüchige Pharao erneut sein Herz.
Gruppe 2, Plage 2: Das Viehsterben (Ex 9,1–7)
"Alles Vieh der Ägypter ging ein, vom Vieh der Israeliten aber ging kein einziges Stück ein."
Die mahnende Zeit der bloßen Belästigungen und Beeinträchtigungen ist vorbei, denn die "Hand des HERRN" (Ex 9,3) symbolisiert nicht weniger als das Gerichtshandeln Gottes. Die sich auf das Vieh der Ägypter legende "schwere Seuche" (Ex 9,3) entspricht (im hebräischen Original) der "schweren Verstockung" (Ex 9,7) des Pharao. Indem er das Vieh der Israeliten verschont, verdeutlicht Gott, dass er seine Macht in Ägypten nach Belieben zeigen kann. Obwohl sich der Pharao noch explizit nach der Wirkung der Plage erkundigt, vermag der blinde Despot die Zeichen nicht mehr zu deuten.
Gruppe 2, Plage 3: Die Beulenpest (Ex 9,8–12)
"Da bildeten sich an Mensch und Vieh Geschwüre mit aufplatzenden Blasen."
Spätestens hier wird deutlich, dass die Erzählung keinen Historienbericht liefern möchte: Wurde in der vorangegangenen Plage noch die vollständige Vernichtung des ägyptischen Viehbestands betont, so trifft die anschließende Plage die Ägypter und ihr Vieh. An ihnen allen bilden sich aufplatzende Geschwüre. Erstmals seit der Mückeninvasion rücken auch die Hofmagier wieder in den Fokus. Diesmal sind die Zauberexperten jedoch selbst getroffen und so schwach, dass sie Mose und Aaron nicht einmal gegenübertreten können. Der Pharao verliert damit seinen Beraterkreis; es wird einsam an der Macht.
Gruppe 3, Plage 1: Der Hagelsturm (Ex 9,13–15)
"Schwerer Hagel prasselte herab und in den sehr schweren Hagel hinein zuckten Blitze."
Mit der dritten Gruppe erreichen die Plagen ein neues Ausmaß: Jetzt geht es für die Menschen um Leben und Tod. Zuvor aber stellt Gott in einer ungewöhnlich langen Rede klar, dass es ihm nicht um die Vernichtung Ägyptens, ja nicht einmal um die Befreiung der Israeliten geht. Das Ziel ist ein anderes: Ganz Ägypten, der Pharao selbst, ja jeder Leser dieser Erzählung aus dem Volk Israel soll Gotteserkenntnis erreichen. Zu dem angedrohten Hagel kommen noch Donner und Feuer hinzu. Beide Elemente werden später auch den geflohenen Israeliten am Sinai die Gegenwart Gottes signalisieren (vgl. Ex 19,16–19). Erstmals eröffnet Gott eine Möglichkeit, der Plage zu entrinnen: Wer die göttliche Drohung fürchtet, bringt sich vor dem tödlichen Hagel rechtzeitig in Sicherheit. Die rettende Gotteserkenntnis steht allen Menschen offen. So aber setzt sich die Spaltung Ägyptens weiter von dem Hofstaat über die gesamte Bevölkerung fort.
Gruppe 3, Plage 2: Die Heuschreckeninvasion (Ex 10,1–20)
"Sie fielen über ganz Ägypten her und ließen sich in Schwärmen auf dem Gebiet von Ägypten nieder."
Was der Hagel übrig ließ, droht nun einer Heuschreckeninvasion zum Opfer zu fallen, warnt Gott über Mose den Pharao. Beide Elemente, der Hagel (vgl. Jes 28,2) und die Heuschrecken (vgl. Dtn 28,38) sind biblische Anzeichen des göttlichen Gerichts – und weisen damit auf Kommendes voraus. Selbst die Diener erkennen es und flehen den Pharao um des Landes willen an, doch dieser will nur noch sich selbst retten. Wie die Heuschrecken wird bald auch das ägyptische Heer im Roten Meer versinken. Und während die geschichtsträchtige ägyptische Kulturnation so dem Untergang entgegeneilt, entsteht etwas Neues: Gott schenkt seinem Volk Israel eine neue Identität für alle Generationen. Warum all diese Plagen? "Damit du deinem Sohn und deinem Enkel erzählen kannst, was ich den Ägyptern angetan und welche Zeichen ich unter ihnen vollbracht habe. Dann werdet ihr erkennen, dass ich der HERR bin." (Ex 10,2)
Gruppe 3, Plage 3: Die Finsternis (Ex 10,21–29)
"Mose streckte seine Hand zum Himmel aus und schon breitete sich tiefe Finsternis über das ganze Land Ägypten aus, drei Tage lang."
Dunkelheit – war es das schon? Im Gegensatz zu den vorangegangenen tödlichen Plagen wird an dieser Stelle nur das öffentliche und private Leben lahmgelegt. Erneut wird deutlich, dass es dem Text nicht um ein Naturphänomen, sondern den Zeichencharakter geht: Das Motiv der Finsternis (vgl. Joel 2,2) setzt die symbolische Gerichtsankündigung fort. Auch der Pharao deutet das Zeichen so und wiegt seine Chancen ab. Doch der verblendete Machthaber verweigert sich, verbietet Mose unter Todesandrohung weiteren Kontakt – und spricht so sein eigenes Todesurteil.
Die letzte Plage: Ein Ende und ein Neuanfang (Ex 11)
"Mose sagte: So spricht der HERR: Um Mitternacht will ich mitten durch Ägypten gehen."
Denn unmittelbar vor seinem Weggang kündigt Mose noch eine weitere Plage an, grausamer als alle zuvor: Jede ägyptische Erstgeburt, vom Pharaonensohn bis zum Kalb, wird um Mitternacht sterben. Noch während die Ägypter um ihre Toten klagen, werden die Israeliten nach 430 Jahren in die Freiheit aufbrechen – doch das ist eine andere Geschichte.