Männer, Frauen, Gerechtigkeit? – Das "Du" im Dekalog
Die Zehn Gebote gelten als Weisung der Menschlichkeit. Sie böten – so kann man immer wieder lesen – die Möglichkeit, das Zusammenleben von Menschen sinnvoll zu gestalten und einen Rahmen zu schaffen, der allen Menschen ethische Orientierung ermögliche. Keine Frage! Ethische Orientierung in den immer komplexer und unübersichtlicher werdenden Lebenswirklichkeiten ist ein Bedürfnis unserer zeitgenössischen Lebenswelten. Zieht man als Orientierungsgröße den Dekalog heran, wird meist implizit vorausgesetzt, dass er universale Bedeutung habe, das heißt, dass sich das angesprochene "Du" gleichermaßen auf Männer wie Frauen beziehe und zugleich für alle Menschen gelte. Aber: Sind die Zehn Gebote tatsächlich egalitär an alle Menschen gerichtet?
Wenn man den Dekalog selbst dazu befragt, findet sich in den Ausführungen zum Sabbatgebot eine Aufzählung derer, an die das Sabbatgebot gerichtet ist (Ex 20,9-11 // Dtn 5,12-15):
"Du und dein Sohn und deine Tochter, dein Sklave und deine Sklavin und dein Vieh und dein Fremder in deinen Toren" (Ex 20,10).
"Du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und dein ganzes Vieh und dein Fremder in deinen Toren. Dein Sklave und deine Sklavin sollen sich ausruhen wie du" (Dtn 5,14).
Die Aufzählung beginnt mit einem "Du". Es steht in beiden Fassungen des Sabbatgebots prominent an erster Stelle. Im Deutschen bedeutet dieses "Du" jedoch etwas anderes als im Hebräischen: Das "Du" im Deutschen umfasst inklusiv die maskuline wie die feminine Form, das heißt, es bezieht sich grammatisch gleichermaßen auf Männer und Frauen. Dagegen gibt es im Hebräischen zwei verschiedene grammatische Formen für das "Du": eine maskuline und eine feminine. Im Sabbatgebot steht nur die explizite, maskuline Form des hebräischen "Du". Das weibliche "Du" wird im gesamten Dekalog hingegen nicht verwendet.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die grammatisch männliche Form tatsächlich geschlechtsspezifisch, also nur auf Männer bezogen, oder geschlechtsübergreifend gemeint ist. Bei letzterer Möglichkeit wären bei einem grammatisch maskulinen "Du" auch Frauen inbegriffen und "mitgemeint". Ob Frauen implizit "mitgemeint" sind, ist immer schwer zu beurteilen und meist nur in den Fällen mit einiger Sicherheit zu sagen, in denen Frauen im Kontext explizit vorkommen und daher in das "Du" einbezogen sind. Dies lässt sich in der Tat für die Gesetzestexte der Tora durchaus aufzeigen. Insofern ist jeweils der Kontext zu prüfen, um zu eruieren, ob Frauen tatsächlich "mitgemeint" sein können.
Die Adressaten sind Erwachsene
Im Dekalog wird das angesprochene "Du" als ein Erwachsener präsentiert: Es ist jemand, der andere Götter verehren und Götterbilder herstellen, der morden und stehlen, der in einem Rechtsprozess auftreten und gegen den Nächsten eine falsche Zeugenaussage machen kann. Dies sind alles Verbote, die sich nicht an Kinder oder Heranwachsende richten, sondern die sich auf den volljährigen Erwachsenen beziehen. Dieser ist in der Lage, seine Eltern zu "ehren", was ein Begriff ist, der sich auf die Versorgung der alt gewordenen Eltern bezieht, die nicht mehr in der Lage sind, sich um sich selbst zu kümmern, sondern die auf die Unterstützung ihrer Kinder in Lebensunterhalt und Pflege angewiesen sind. Zu diesem Kümmern-um-die-Eltern gehört auch, für eine angemessene Bestattung der Eltern zu sorgen. Dieses Elterngebot weist schon auf eine bestimmte ökonomische Situation des angesprochenen "Du" hin. Der Adressat des Dekalogs tritt noch deutlicher im letzten Gebot hervor (Ex 20,17 // Dtn 5,21):
"Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört" (Ex 20,17).
"Und du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren. Und du sollst nicht das Haus deines Nächsten verlangen, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts, was deinem Nächsten gehört" (Dtn 5,21).
Das angesprochene "Du" ist also auch Haus- und Grundbesitzer. Darunter ist im antiken Israel nie nur eine Immobilie, sondern vielmehr alles zum "Haus" Gehörende zu verstehen: der Landbesitz, der Tierbestand, die Arbeitskräfte und auch die Ehefrau. Hier wird deutlich, dass der textintern anvisierte Adressat nicht jeder Mann ist, sondern der besitzende männliche Vollbürger in Israel, der über eigenen Land-, Tier- und Menschenbesitz verfügt. Damit ist eine sehr spezifische Gruppe als Adressaten des Dekalogs im Blick: Es sind keineswegs alle Männer, wie es das maskuline "Du" nahelegen könnte, sondern nur die erwachsenen Männer der besitzenden Schicht, die einem "Haus" vorstehen und die kult- und rechtsfähig sind. Es sind die besitzenden, freien Bauern des Landes, die nicht zwangsläufig reich sein müssen, die aber ihr Leben selbstbestimmt führen und über das Leben der von ihnen Abhängigen, wie den Frauen, Kindern, Arbeitskräften, verfügen können.
Leerstelle: Die Ehefrau
Zudem fällt bei der Aufzählung der Mitglieder des Hauses im Sabbatgebot auf, dass eine Position, die für jede patriarchal konstruierte Familie zentral ist, fehlt: die Ehefrau. Sie wird nicht genannt. Diese Leerstelle wird noch einmal deutlicher, wenn man bedenkt, dass die Frau das erste und einzige Mal im Dekalog im letzten Gebot, dem Begehrensverbot, vorkommt. Hier tritt sie nicht als Subjekt auf, sondern ist lediglich das Objekt der Begierde des Nachbarn, dem diese Begierde verboten wird. In der Exodus-Fassung des Dekalogs wird an erster Stelle das "Haus" als eine Art Oberbegriff genannt (Ex 20,17). Mit der Wiederholung des Verbs "begehren" werden sodann im nächsten Satz die Objekte genannt, die unter das "Haus" fallen und dem männlichen Nachbarn verboten sind: die Ehefrau des Nachbarn, ebenso seine Sklavinnen und Sklaven, seine Tiere und sein gesamter Besitz. Die Deuteronomium-Fassung des Dekalogs setzt einen anderen Akzent (Dtn 5,21): Hier wird die Ehefrau des Nachbarn an erster Stelle mit dem Verb "begehren" genannt und davon abgetrennt mit dem Verb "verlangen" der weitere Besitz des Nachbarn, unter den Sachwerte (Haus und Land), Menschen (Sklavinnen und Sklaven) und Viehbesitz (Rind und Esel) fallen. Möglicherweise kann man in der Deuteronomium-Fassung eine größere Wertschätzung der Ehefrau im Rahmen der männlichen Besitztümer erkennen; vielleicht scheint hier aber auch eine besondere Problematik in den nachbarschaftlichen Beziehungen der männlichen Hausvorstände durch.
Weil Frauen in den Begehrensverboten Objekte sind, ist es plausibel, anzunehmen, dass sie nicht zugleich auch als angeredete Subjekte "mitgemeint" sind. Gilt dies für die Begehrensverbote, ist es nur schwerlich möglich, für die anderen Gebote eine andere Verwendung des "Du" anzunehmen. Daher ist es überzeugender, von einem einheitlichen Gebrauch des „Du“ im Dekalog auszugehen.
Perspektive: Die patriarchale Welt
Wer ist nun das "Du" im Dekalog? Der Text des Zehnworts selbst geht – wie selbstverständlich – von einer patriarchal strukturierten Welt aus: Das besitzende männliche Familienoberhaupt steht einem sozialen Gefüge aus Menschen, Land, Tieren und Immobilien vor, über das er Verfügungsgewalt hat. Damit sind beide Dekalogfassungen an den männlichen Vollbürger gerichtet, der als freier, rechts- und kultfähiger Bauer über Besitz verfügt. Zu diesem Besitz gehören die Ehefrau wie die Kinder, die Arbeitskräfte, Vieh- und Landbesitz. In dieser Lebenswelt ist er der (kulturell konstruierte) "normale" Adressat der Gebote, über ihn wird das gesellschaftliche Zusammenleben geregelt.
Der Dekalog ist somit der patriarchalen Gesellschaftsordnung verpflichtet. Der hierarchisch organisierte Haushalt mit dem pater familias an der Spitze fügt sich in eine Gesellschaft ein, die hierarchisch nach sozialen Schichten und ethnischer Herkunft unter jeweils männlicher Vorherrschaft organisiert ist. Die auf diese Weise stratifizierte Gesellschaft ist ein kulturelles Konstrukt, in dem die Teilhabe an gesellschaftlichen und ökonomischen Gütern abgestuft und exklusiv organisiert ist.
Wie im Dekalog sehr deutlich wird, ist damit auch eine bestimmte Norm der Geschlechterverhältnisse verbunden: Sie werden als hierarchisch und zweigeschlechtlich dargestellt. Neben dem – möglicherweise nicht absichtsvollen, sondern in dieser Welt "selbstverständlichen" – Ausschluss von Frauen, Kindern, Fremden und Sklaven wird zugleich ein Ideal von heteronormer Männlichkeit konstruiert, mit dem andere Lebensentwürfe und Genderkonstruktionen ausgeblendet werden.
Dossier: Die Zehn Gebote
Sie gelten als universales Gesetz und als Grundlage der Menschenrechte. Nur wenige Worte der Bibel sind so bekannt wie die Zehn Gebote. Aber wie ist der Dekalog entstanden? Und was genau bedeuten die einzelnen Gebote Gottes? Katholisch.de gibt Antworten.
In der Logik der patriarchalen Hausordnung gelten jedoch die Verbote, die für den Hausvorstand gelten, auch für die ihm untergeordneten Mitglieder seines Hauses. Auch sie dürfen nicht morden, stehlen, die Frau des Nächsten begehren oder ein falsches Zeugnis ablegen. Diese ethische Orientierung, die für alle im Haus gilt, ergibt sich aus dem Sabbatgebot, das den gesamten Besitz explizit, differenziert nach Männern und Frauen und sozialen Schichten, aufzählt. Dass gerade in diesem Gebot die explizite Aufzählung des Besitzes erfolgt, scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass das Sabbatgebot einen egalitären Impetus im zeitgenössischen Kontext setzt: Neben dem "Du" sollen am siebten Tag auch der Sohn und die Tochter des "Du", seine abhängigen Arbeiter und Arbeiterinnen und die Fremden, sogar seine Tiere die Arbeit ruhen lassen. Damit gilt die Arbeitsruhe nicht nur für den Herrn des Hauses, sondern für alle, die zu diesem Haus gehören.
Dieser egalitäre Impuls ist ungewöhnlich. In den altorientalischen und antiken Kontexten entscheiden die ökonomische Situation und die soziale Position des Einzelnen darüber, ob der Einzelne dem Erwerb des Lebensunterhalts nachgehen muss oder ob über so viele Ressourcen verfügt wird, dass die anfallende Arbeit an andere delegiert werden kann. Hier wird ein anderes Gesellschaftsmodell propagiert: Die Ruhe am siebten Tag gilt nicht nur denen, die es sich leisten können, sondern unterschiedslos allen Menschen – unabhängig von Familienstand, sozialer Hierarchie, Geschlecht oder Aufenthaltsstatus, einschließlich des an erster Stelle angesprochenen "Du".
Dieser innovative Impuls ändert jedoch nichts an der dem Dekalog zugrunde liegenden stratifizierten Gesellschaft, in der als "Du" der männliche, besitzende, freie Vollbürger in Israel im Blick ist, nicht jedoch andere Männer, geschweige denn Frauen, Kinder, Sklaven oder Fremde.
Die Autorin
Prof.in Dr. Barbara Schmitz leitet den Lehrstuhl für Altes Testament und biblisch-orientalische Sprachen der Ludwig-Maximilians-Universität Würzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem jüdische Literatur aus hellenistisch-römischer Zeit, Septuagintastudien, die Bücher Judit; 1 und 2 Makk; 3 Makk; Ester; Aristeasbrief und die erzählenden Bücher der Bibel (u. a. 1/2 Könige).
Hinweis: Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel"
Der Artikel ist zuerst im Heft 4/2021 der Zeitschrift "Welt und Umwelt der Bibel" des katholischen Bibelwerks erschienen. In der Ausgabe geht es um historische und theologische Hintergründe zu den Zehn Geboten.