Revolutionär katholisch: Christentum jenseits der Konfessionsgrenzen
Aus der Ferne macht die Basler Elisabethenkirche einen wenig revolutionären Eindruck. Auf einer Anhöhe am Rand der Altstadt gelegen, ragt das neogotische Bauwerk weit über die umliegende Bebauung hinaus. 72 Meter misst der stolze Turm und wirkt eher wie ein Fingerzeig vergangener Zeit, nicht wie ein Zeichen des Aufbruchs. Die schlanken Fialen des Chorraums stehen in schroffem Kontrast zum weißen Kubus des angrenzenden Stadttheaters. Ein prächtiges Beispiel des Historismus, kein Zweifel, aber eine Revolution? Revolutionär ist, was die Elisabethenkirche beherbergt: die Offene Kirche Elisabethen – kurz OKE.
Nur noch ein Drittel der Basler gehört einer Kirche an, über die Hälfte der Bevölkerung ist konfessionslos. Dieser Situation trägt die Offene Kirche Rechnung: Sie versteht sich als postkonfessionell und stellt ihre Arbeit ganz in den Dienst der säkularen Gesellschaft. Soziales Engagement, Spiritualität und Kultur bilden eine Einheit. Flüchtlingshilfe, Seelsorgegespräche und Konzerte stehen hier gleichberechtigt nebeneinander. Sich in einer Kunstausstellung dem Glauben oder seinem Vermissen zu stellen, ist genauso wertvoll, wie ihn in einem Segensgottesdienst zu feiern, so das Konzept. Die Grenzen zwischen katholischem, lutherischem oder reformiertem Christentum spielen dabei bewusst keine Rolle mehr, die OKE wird von einem ökumenischen Verein getragen.
"Als Offene Kirche versuchen wir uns ganz nach dem zu richten, was die urbane Bevölkerung braucht", sagt Monika Hungerbühler. Die katholische Theologin ist eine der beiden Leitungspersonen der Offenen Kirche. Auch Boxkämpfe und Discos hätten hier schon stattgefunden, erzählt sie. "Die Grenzen der Offenheit sind allein die Grenzen des Anstands. Wer Menschen diffamiert oder andere Religionen herabgewürdigt, hat in der Offenen Kirche keinen Platz."
In Deutschland würde Hungerbühlers Tätigkeit der einer Pastoralreferentin entsprechen, an der Elisabethenkirche war es ihr immer wichtig, sich als Theologin zu bezeichnen. "Für die Menschen von Gott sprechen, das ist meine Kernaufgabe", sagt sie und ergänzt mit Blick auf das säkulare Basel: "aber oft ohne dabei Gott zu sagen". Nach mehr als zwölf Jahren bei der Offenen Kirche wird die 63-Jährige Anfang nächsten Jahres in den Ruhestand gehen. Vor ihrer Stelle an der OKE war sie lange Zeit in der Jugend- und Frauenarbeit sowie der Krankhausseelsorge tätig. Dort wie hier bei der Offenen Kirche war es der Kontakt zu den Menschen, den sie gesucht und immer wieder gefunden hat.
Ob das ohne die intentionelle Anbindung an die Amtskirche leichter möglich war, könne sie nicht genau sagen. "Unser Ziel ist nicht, sich offensiv von der Amtskirche abzugrenzen." Aber natürlich ermögliche die konfessionelle Unabhängigkeit viele Freiheiten. Gemäß dem Evangelium würden sie ihr Tun an der OKE ganz daran messen, welche Früchte es bringt – und nicht daran, ob es den Handbüchern oder Kirchenordnungen entspricht, erklärt Hungerbühler. Wenn sie mit ihrem evangelischen Kollegen gemeinsam der Mahlfeier vorsteht und das von den allermeisten als selbstverständlich angesehen wird, ist das vermutlich eine dieser Freiheiten.
Von der Flüchtlingshilfe über Ausstellungen bis zur Jodelmesse
Es ist ein Sonntag im Oktober, heute steht das Soziale im Vordergrund. Schon den ganzen Vormittag sieht man Frauen mit großen Taschen im Kirchenportal verschwinden. Andere kommen mit ebenso großem Gepäck wieder heraus und schlendern auf der belebten Straße davon. "Ladies only" ist neben dem Kircheneingang zu lesen. Dreimal im Jahr richtet die Offene Kirche eine Kleidertauschbörse für Frauen aus. Niemand kontrolliert, wer wie viele Kleidungsstücke mitbringt und wie viele wieder mit nachhause nimmt – und natürlich schon gar nicht die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit. Es ist ein "safe space": Jede ist willkommen, kann etwas von ihrem Besitz teilen oder an dem der anderen teilhaben. Was am Ende übrig bleibt, geht als Sachspende an die örtlichen Sozialeinrichtungen.
Neben der Kleidertauschbörse gehören verschiedene Jugendangebote und Projekte für Asylsuchende zum festen Programm der Offenen Kirche. Unter dem Titel "Basel im Gespräch" organisiert der Verein politische Diskussionsabende, die auf große öffentliche Resonanz stoßen. Regelmäßige Konzerte und Kunstveranstaltungen bilden den kulturellen Bereich ab. Die wöchentlichen Mittwoch-Mittagskonzerte sind stadtbekannt und für junge Profimusiker ein begehrter Einstieg in die Basler Kulturwelt. Für den Gottesdienst zum 25. Jubiläum der Offenen Kirche hat ein Jodel-Duo eine zeitgenössische Jodelmesse komponiert: "Hallelu-JO zum Läbe, hallelu-JO zum Glaube, hallelu-JO zum Zwiifle, hallelu-JO zum Liebe!" (Ja zum Leben, zum Glauben, zum Zweifeln, zum Lieben.)
An einem strahlenden Herbsttag wie diesem herrscht auch rund um die Elisabethenkirche reges Treiben. Grund dafür ist das Café, das die Offene Kirche hier ganzjährig betreibt. Auf der Südseite des Gotteshauses steht ein gutes Dutzend Blechtische mit Klappstühlen, von denen fast alle besetzt sind. Vor der Kirchenmauer ist es angenehm warm, der hellgraue Sandstein leuchtet in der Sonne. Man hört Stimmen in englischer und französischer Sprache, dazwischen das elegante Baseldeutsch. Geschirr klappert, Bestellungen werden aufgenommen. Das Café erfreut sich größter Beliebtheit, weit über den Kreis der Kirchenbesucher hinaus. In der Treppenhalle unter dem Turm befindet sich die Theke, am Seitenportal lehnen Getränke- und Speisetafeln: Vom Espresso über Apérol Spritz bis zur Gulasch-Suppe gibt es alles, was das Herz begehrt.
Das Kirchencafé als Schnittstelle zur Stadt
"Look, it's right in the church", stellt ein erstaunter Passant fest. Für Überraschung sorgt das Kirchencafé auch heute noch. 1994, als die evangelische Kirchenverwaltung das Gebäude an den ökumenischen Trägerverein der Offenen Kirche übergab, war es ein Politikum. In der Gründungsvision des reformierten Pfarrers Hansruedi Felix aber nahm das Café eine zentrale Funktion ein: Mit ihm wollte er die Kirche nach außen öffnen und eine Schnittstelle zur Stadtbevölkerung schaffen. Seitdem ist es aus dem Quartier nicht mehr wegzudenken.
Offene Kirche, das ist auch wörtlich zu verstehen: Sieben Tage die Woche von 10 bis 19 Uhr stehen die Tore der Elisabethenkirche offen. Über 120 Ehrenamtliche empfangen Touristen, erteilen Auskünfte oder haben einfach nur ein offenes Ohr. Das ständige Kommen und Gehen zeigt: Eine Kirche, die verfügbar ist, ohne sich aufzudrängen, kommt an. Mehr als 100.000 Besucherinnen und Besucher zählt die Lichtschranke am Eingang jährlich – außerhalb der Pandemie, versteht sich.
Konfessionelle Unabhängigkeit hat ihren Preis
Die OKE ist bis heute die einzige Citykirche in der Schweiz, die unabhängig von einer Pfarrei arbeitet. Das bedeutet nicht nur, dass das institutionelle Rückgrat einer klassische Kirchengemeinde wegfällt, sondern vor allem, dass die Offene Kirche keine Kirchensteuern erhält und sich selbst finanzieren muss. Die katholische und die evangelisch-reformierte Landeskirche steuern jeweils nur einen Teil der Lohnkosten für die beiden hauptamtlichen Leitungspersonen bei. Gut zwei Drittel des rund 850.000 Schweizerfranken schweren Jahreshaushalts erwirtschaftet der Trägerverein selbst. Ein Großteil wird aus Spenden aufgebracht, dazu kommen die Einnahmen durch das Café und die Vermietung des Kirchenraums für Ausstellungen oder Privatfeiern. Da während der Corona-Pandemie keine öffentlichen Veranstaltungen möglich waren, hat die Offene Kirche mit Defiziten zu kämpfen.
"Zurzeit leben wir vom Wohlwollen unserer Bank", sagt Frank Lorenz. Zum Glück habe auch die Spendenbereitschaft in der Krisenzeit zugenommen. Das stimmt den Co-Leiter der Offenen Kirche zuversichtlich, dass sie weiter durchkommen werden. Lorenz ist lutherischer Pfarrer, versteht sich und die OKE aber als "revolutionär katholisch". Er ist überzeugt: Echter Katholizismus braucht keine Konfession, um katholisch – allumfassend – zu sein.
Heute Abend feiert Lorenz in der OKE den Regenbogengottesdienst für queere Menschen. "Gott ist (jede) Liebe" steht auf einem großen Regenbogenbanner am Hauptportal der Kirche. Dass diese Einladung kein äußeres Etikett ist, beweist das "Swiss LGBTI Label", mit dem die Offene Kirche im Juni als erste religiöse Institution überhaupt ausgezeichnet wurde. Gottesdienste für gleichgeschlechtlich liebende Menschen gibt es zwischenzeitlich auch in vielen katholischen Kirchen. Hier aber wird der Regenbogengottesdienst schon seit über 30 Jahren gefeiert, länger als die Offene Kirche existiert.
Das Liebesangebot Gottes gelte für alle Menschen, sagt Lorenz, ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder Religion. "Es ist so einfach zu inkludieren – und braucht so viel Brutalität im Geist, um zu exkludieren." Der Kirche fehle oft der Mut, das frei zu bekennen und konsequent zu leben. Ob Reformbewegungen wie der Synodale Weg in Deutschland daran etwas ändern können, wagt Lorenz nicht zu beurteilen.
Durch die bunten Glasfenster dringt inzwischen nur noch wenig Licht ins Kircheninnere. Der hallenartige Raum liegt im schummrigen Dunkel, die Gewölbe sind kaum noch zu sehen. Mannshohe Kandelaber säumen das Kirchenschiff und den Chorraum und erinnern an eine französische Kathedrale. Etwa 30 Menschen haben sich zum Regenbogengottesdienst versammelt, die meisten davon sind in ihren Zwanzigern. "Heute wollen wir einen Heiligen zur Ehre der Altäre heben", sagt Lorenz zu Beginn. Er trägt eine weiße Albe und violette Stola, seine Kollegin einen Schal in derselben Farbe.
Ein "Gay-Saint" und die Verwundbarkeit der Kirche
Der Heilige, von dem er spricht, ist kein offizieller der katholischen oder evangelischen Kirche. Aber die Offene Kirche hat ihre eigenen Regeln, wen sie für heilig erklärt. Lorenz nennt ihn einen "Gay-Saint": Harvey Milk, der 1978 als erster offen lebender Homosexueller in den USA in ein hohes politisches Amt gewählt wurde. Nur fünf Monate nach seinem Amtsantritt als Stadtrat in San Francisco wurde er von einem anderen Stadtrat ermordet. Die Offene Kirche hat eine Ikone von ihm anfertigen lassen, auf dem Milk eine Kerze als Zeichen der Hoffnung trägt – und den rosa Winkel. Bei der Segnung der Ikone verwendet Lorenz Weihrauch und spricht Gott als "den Ewigen" und "die Liebende" an. Revolution müsse nichts Großes sein: Schon die altehrwürdigen Gebetsformen nur leicht zu verändern, könne "reinknallen" wie Karamell mit Salz, erklärt der Hobby-Koch.
Am Ende des Gottesdienstes spielt die Gitarristin eine Instrumentalversion von "Fly me to the moon". Die zarten Klänge verhallen im Schatten der Gewölbe. Es ist ein innovatives Christentum, das seine Heimat in der Basler Elisabethenkirche hat. Ein Christentum, das seine Wurzeln kennt und keine Berührungsängste zur Welt hat. Eines, das lieber den Konflikt mit seinen Institutionen riskiert, als einem Menschen das Christensein abzusprechen. Was einfach klingt, ist nicht immer leicht: Lorenz sagt, er fürchte sich bereits, dass die Ikone des "Gay-Saint" eines Tages zum Opfer von Vandalismus werden könnte. Offene Kirche sein heißt auch, sich verwundbar zu machen.