Warum der Stephanustag dieses Jahr (fast) überall ausfällt
Das Kirchenjahr funktioniert ein wenig wie Schafkopf: Ober sticht Unter. Es gibt einfach zu viele Feste, Heilige und Selige für nur 365 Tage im Jahr, als dass es nie zu Kollisionen kommen könnte. Die meisten davon bleiben unbemerkt – aber wenn es die großen Heiligen trifft, fällt es dann doch auf. Dieses Jahr ist so ein Kirchenjahr: Wer am zweiten Weihnachtsfeiertag die Messe besucht und das Gedenken an den heiligen Diakon Stephanus erwartet, wird enttäuscht. Der Stephanustag fällt in diesem Jahr aus – wie in jedem Jahr, in dem der zweite Weihnachtsfeiertag auf einen Sonntag fällt.
Grund dafür ist die Ordnung des Kirchenjahres. Das sieht vor, dass in der Weihnachtsoktav – also den acht Tagen, die mit Weihnachten am 25. Dezember beginnen und mit dem Hochfest der Gottesmutter Maria an Neujahr enden – das Fest der Heiligen Familie am Sonntag gefeiert wird. Und weil Weihnachten jedes Jahr an einem anderen Wochentag gefeiert wird, wandert die Heilige Familie durch die Oktav und verdrängt je nach Lage des Sonntags das Fest des Apostels Johannes am 27. Dezember oder das Fest der Unschuldigen Kinder am 28. Dezember. Nur Weihnachten selbst bleibt ungeschoren: Fällt der 25. Dezember auf einen Sonntag, wird die Heilige Familie am 30. Dezember gefeiert.
Erster Märtyrer mit älterem Fest
Dass Stephanus zurückstecken muss, ist nicht selbstverständlich: Eigentlich hätte der Gedenktag des ersten Märtyrers der Christenheit – sein Martyrium ist in der Apostelgeschichte geschildert – Vorrang, wenn es nach dem Alter geht. Das Gedenken an den Erzmärtyrer ist fast so alt wie die Feier der Geburt Jesu am 25. Dezember: Erstmals bezeugt ist es im auf den Anfang des 5. Jahrhunderts datierten Martyrologium Syriacum, einem Verzeichnis von Märtyrern. Weihnachten wurde nur wenige Jahrzehnte zuvor erstmals liturgisch am 25. Dezember begangen. Manche Liturgie- und Kirchenhistoriker gehen sogar davon aus, dass Stephanus schon im 3. Jahrhundert gefeiert wurde – und zwar schon immer am selben Tag, nur zwischen West- und Ostkirche gibt es Unterschiede: Im Osten wird Stephanus meist am 27. Dezember gefeiert.
Das Fest der Heiligen Familie dagegen ist in seiner heutigen Form ziemlich modern. Schon im Mittelalter ist die Verehrung der Familie Jesu nachzuweisen. Aber erst 1893 nahm Papst Leo XIII. (1878–1903) das zuvor nur in einigen Diözesen und Ordensgemeinschaften gefeierte Fest in den Römischen Generalkalender auf, der die Fest- und Gedenktage für die ganze Kirche des römischen Ritus sammelt, damals noch am dritten Sonntag nach dem Fest der Erscheinung des Herrn. Schon sein Nachfolger, Papst Pius X. (1903–1914) räumte den Generalkalender wieder etwas auf – zu viele Sonntage waren ihm anderweitig belegt. Er stärkte den Rang des "einfachen" Sonntags gegenüber anderen Festen und verschob die meisten der immer auf einen Sonntag fallenden Feste. Die kurze Auszeit für die Heilige Familie beendete wiederum der nächste Papst: Benedikt XV. (1914–1922) führte das Fest wieder ein mit dem alten Termin nach Erscheinung des Herrn.
Rangordnung des Kirchenjahres verweist Stephanus vom Platz
Seinen heutigen Platz am Sonntag in der Weihnachtsoktav erhielt das Fest erst 1969 mit der Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, und dort ist es auch jetzt noch zu finden – und da Herrenfeste in der Rangordnung der liturgischen Tage über den Festen der Heiligen im Generalkalender stehen, hat das am Sonntag gefeierte Fest der Heiligen Familie Priorität, obwohl Stephanus älter ist. Herrenfeste sind die Feste, in denen die Heilsgeheimnisse Jesu das Jahr hindurch begangen werden, wie es in der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums heißt, die auch explizit festlegt, dass die Herrenfeste vor denen der Heiligen Vorrang haben .
Aufgrund der Aufwertung der Sonntage durch Pius X. müsste der Märtyrer auch dann zurückstecken, wenn die Heilige Familie nicht am Sonntag der Weihnachtsoktav gefeiert würde: Als einfaches Heiligenfest aus dem Generalkalender würde Stephanus sogar von einem Sonntag im Jahreskreis, erst recht von einem Sonntag in der Weihnachtszeit, verdrängt – nur Hochfeste von Heiligen des Generalkalenders haben Vorrang vor den Sonntagen der Weihnachtszeit und des Jahreskreises, und davon gibt es nur drei: Josef, der Vater Jesu, am 19. März, die Geburt Johannes des Täufers am 24. Juni sowie Petrus und Paulus am 29. Juni. Josef hat dabei besonderes Pech: Sein Hochfest fällt immer wieder auf einen Sonntag in der Fastenzeit, die noch höher steht. Immerhin wird sein Tag am nächsten "freien" Tag nachgefeiert, anders als das Fest von Stephanus, das ersatzlos ausfällt.
Die Namenstage sind sicher
Praktische Bedeutung hat der liturgische Kalender auch nur da: in der Liturgie. Stefans und Stefanies, die den Erzmärtyrer Stephanus als Namenspatron feiern, können selbstverständlich trotzdem auch in diesem Jahr ihren Namenstag wie üblich feiern. Zum einen gibt es für den Brauch des Namenstags ohnehin keine verbindlichen kirchlichen Regeln, zum anderen fällt der Stephanustag auch nur in der Feier der Liturgie aus, während der Grundsatz bleibt, dass der Tag des Heiligen der 26. Dezember ist. Was für Namenstage im kleinen gilt, wird auch für andere Anlässe so gehalten: Auch wenn der Stephanustag liturgisch ausfällt, begeht die Kirche in Deutschland auch dieses Jahr am 26. Dezember den Gebetstag für verfolgte und bedrängte Christen und erinnert sogar in den dafür vorgeschlagenen Fürbitten an den Gedenktag, obwohl das Fest nicht gefeiert wird. Darum konnte es auch in Jahren wie 2020 Entwarnung für besorgte Kinder geben: Als im vergangenen Jahr Nikolaus auf einen Sonntag fiel, musste wegen des liturgischen Kalenders wohl kein Kind auf den Besuch des Heiligen verzichten, nur weil der Adventssonntag den nichtgebotenen Gedenktag ersetzt hatte.
Für Freunde des heiligen Stephanus, die partout nicht auf die liturgische Feier verzichten wollen, gibt es ohnehin einen Ausweg. Wer das Fest auch dieses Jahr feiern will, kann das etwa in der ganzen Erzdiözese Wien tun. Stephanus ist der Hauptpatron der Metropolitankirche von Wien, dem Stephansdom, und wird im ganzen Erzbistum als Eigenhochfest gefeiert – und das wiederum sticht die Heilige Familie, die in Wien dafür am 30. Dezember gefeiert wird. In der Erzdiözese München und Freising ist Stephanus zwar weder Bistums- noch Kathedralpatron, dennoch wird Stephanus am 26. gefeiert, die Heilige Familie am zweiten Sonntag nach Weihnachten nachgeholt. In Deutschland kann man Stephanus außerdem im Mainzer Dom (dort ist er der zweite Patron) und in der Passauer Kathedrale feiern – dort ist Stephanus Patron von Dom und Stadt, so dass Bischof Stefan Oster seinen Namenstag auch liturgisch feiern kann.
Ergänzt am 26. 12. 2021, 11.30 Uhr um Ausnahmeregelung im Erzbistum München und Freising; Skat durch Schafkopf ersetzt.