"Lügengebäude" zum Einsturz gebracht – Stimmen zum Münchner Gutachten
Zum Missbrauchsgutachten des Erzbistums München und Freising mehren sich die ersten Reaktionen. Der Vatikan will sich vorerst nicht näher äußern. Der Heilige Stuhl sehe sich "verpflichtet, dem Dokument, dessen Inhalt ihm derzeit nicht bekannt ist, gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen", erklärte Vatikan-Sprecher Matteo Bruni am Donnerstag auf Anfrage. Man werde in den folgenden Tagen "Einsicht in den Text nehmen und in der Lage sein, ihn im Einzelnen zu prüfen".
In dem Gutachten der Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) wird der frühere Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) belastet. Die Anwälte der Kanzlei werfen ihm zum einen Fehlverhalten in vier Fällen während seiner Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) vor. Zum anderen äußern sie erhebliche Zweifel an der von ihm behaupteten Unkenntnis. Diese sei mit den aus den Akten gewonnenen Erkenntnissen bisweilen "kaum in Einklang zu bringen". Ratzingers komplette Stellungnahme mit einem Umfang von 82 Seiten wurde mit seiner Einwilligung zusammen mit dem Gutachten veröffentlicht. Dem amtierenden Münchner Erzbischof Reinhard Marx wird Fehlverhalten in zwei, dem früheren Erzbischof Friedrich Wetter in 21 Fällen vorgeworfen.
Der Münchner Generalvikar Christoph Klingan würdigte das Missbrauchsgutachten als "gewichtigen Baustein" bei der Aufarbeitung. Seine Gedanken seien zunächst bei den Betroffenen, sagte Klingan nach der Übergabe der vier Bände durch die Kanzlei WSW am Donnerstag. "Mich bewegt und beschämt das sehr." Er dankte Betroffenen, die bereit seien, mit der Kirche über die Konsequenzen zu sprechen. Klingan wiederholte, dass sich das Erzbistum am kommenden Donnerstag bei einer Pressekonferenz näher zu dem Gutachten äußern werde.
Rörig: Beschämende Halbherzigkeit ranghoher Kleriker
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, kritisierte mit Blick auf das Münchner Gutachten das Verhalten "ranghoher Kleriker" scharf. Das "vollständige Nicht-Wahrnehmen" der Betroffenen verschlage sogar ihm beinahe die Sprache, sagte Rörig auf Anfrage am Donnerstag in Berlin. Ihn verstöre auch der Pragmatismus, mit dem "sexueller Missbrauch wegverwaltet worden ist". Bei der Aufarbeitung von Missbrauch gebe es eine "beschämende Halbherzigkeit".
Weiter erklärte Rörig, für ihn sei es sehr positiv, dass die Gutachter die Beteiligung von Betroffenen als extrem wichtig eingeordnet und die Notwendigkeit eines "geschützten Raums" betont hätten. Dies sei auch bei der Gemeinsamen Erklärung der Bistümer und Ordensgemeinschaften, die 2020 unterzeichnet worden sei, berücksichtigt worden. Er appelliere an die Ampelkoalition, die Aufarbeitungskommission zu stärken, sie gesetzlich zu verankern und ihr Kontroll- und Beratungsrechte zu geben.
Kirchenrechtler Schüller übt heftige Kritik an Ratzinger
Als historische Zäsur sieht der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller das Münchner Missbrauchsgutachten. Mit seiner Stellungnahme zu dem Gutachten habe Joseph Ratzinger "die letzte Chance verspielt, reinen Tisch zu machen mit seiner Verantwortung als Erzbischof von München und Freising für seine Vertuschung von Sexualstraftaten", sagte Schüller der Düsseldorfer "Rheinischen Post" (Freitag). Nach den Worten Schüllers überführt das Gutachten Benedikt "der Unwahrheit". Es zeige, dass er "zum einen alles über den Essener Priester H. gewusst, über dessen Seelsorgeeinsatz entschieden hat und bei der entscheidenden Sitzung anwesend war". Für Schüller, der Direktor am Institut für Kanonisches Recht der Universität Münster ist, hat Benedikt XVI. damit "die bekannte Karte des Vergessens und Nicht-gewusst-Habens" gespielt. Damit habe "ein ehemaliger Papst die Axt an die Kirche gelegt" und demaskiere sie "als korrumpierte amoralische Institution".
In dem besagten Fall geht es um einen pädophilen Priester des Bistums Essen, der 1980 – zu Zeiten von Erzbischof Ratzinger – in die Erzdiözese München und Freising aufgenommen wurde. Er sollte dort eine Therapie machen. Der Priester zog nach Bayern, war dort bald wieder als Seelsorger tätig und missbrauchte später erneut Kinder. Obwohl ihn 1986 ein staatliches Gericht verurteilte, setzte ihn Ratzingers Nachfolger Wetter 1987 an anderer Stelle ein, wiederum wurde er dort zum Täter. Erst 2010 wurden ihm alle Priestertätigkeiten entzogen. Insgesamt soll Priester Peter H. mindestens 28 Minderjährige sexuell missbraucht haben.
Schüller meint, dass "Joseph Ratzinger damit sein Lebenswerk zerstört hat". Er füge "der katholischen Kirche und vor allem dem Papstamt einen irreparablen Schaden zu". Ähnliches gelte für Kardinal Wetter, der zu Protokoll gegeben habe, bis 2010 nichts von den seelischen und körperlichen Folgen von Opfern sexualisierter Gewalt gewusst zu haben. Schüllers Fazit: "Die kultivierte Verantwortungslosigkeit hoher kirchlicher Würdenträger und ihre fehlende Empathie mit den Opfern, die ihnen in ihrem Leid schlicht egal sind, bei gleichzeitig mit fast schon mit krimineller Energie praktiziertem Täterschutz sind der eigentliche Skandal." Niemand übernehme Verantwortung, die Opfer sexualisierter Gewalt blieben allein mit ihrem sie lebenslang verfolgenden Trauma.
Katsch: "Lügengebäude" um emeritierten Papst zusammengebrochen
Der Sprecher des Eckigen Tisches, Matthias Katsch, sieht ein um den emeritierten Papst Benedikt XVI. aufgebautes "Lügengebäude" zum Einsturz gebracht. Mit Blick auf das Gutachten sagte Katsch der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), es sei nun klar, dass Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising mitverantwortlich sei. So habe er 1980 entschieden, den wegen Missbrauchs beschuldigten Priester H. aus der Diözese Essen im Erzbistum aufzunehmen.
Er sei ziemlich mitgenommen von der Vorstellung, dass durch die Entscheidung, den Täter nach München zu holen, so viele noch zu Opfern geworden seien, sagte Katsch. Diese Opfer hätte es nicht gegeben, wenn anders verfahren worden wäre: "Natürlich sind auch noch im Nachgang viele Fehler gemacht worden, aber diese eine Entscheidung hat alles Weitere nach sich gezogen." Die horrenden Zahlen der Opfer seien eigentlich nichts Neues gewesen, erklärte Katsch. Auch von der Verantwortungslosigkeit an der Spitze habe man gewusst. Dennoch habe die Art und Weise, wie das Gutachten von der Kanzlei präsentiert worden sei, in seiner Klarheit eine neue Qualität. "Wir hoffen sehr, dass die Erschütterung, die nicht nur ich gespürt habe in dem Moment dazu beiträgt, dass da jetzt was Neues aufgebaut wird." Dass in der Kirche alle so weiter machten wie bisher, funktioniere nicht mehr.
Alle Münchner Bischöfe und Kardinäle nach 1945 hätten sich in der Erhebung Fehler zurechnen lassen müssen, erinnerte Katsch. Das zeige, es gebe einen Fehler im System. Wenn dieses aber gründlich gescheitert sei, könne nicht versucht werden, das Alte künstlich am Leben zu erhalten. Eigentlich müsste jetzt die Konsequenz sein, dass alle zurücktreten und neue Leute "den Laden" übernehmen. Das Rücktrittsangebot von Marx im Juni 2021 habe er so verstanden, dass dieser die politische Verantwortung hätte übernehmen wollen, um einen Neuanfang ohne ihn zu starten. Wenn Marx konsequent wäre, müsste er sein Angebot erneuern, meint Katsch.
"Wir sind Kirche" fordert Schuldeingeständnis von Benedikt XVI.
Die Bewegung "Wir sind Kirche" forderte den emeritierten Papst auf, sich seiner Verantwortung für Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche zu stellen. "Sein persönliches Schuldeingeständnis für sein damaliges Handeln beziehungsweise Nicht-Handeln wäre ein dringend notwendiger Akt und gleichzeitig ein großes Vorbild für andere Bischöfe und Verantwortungsträger weltweit", erklärte die Organisation am Donnerstag nach der Vorstellung des Gutachtens. Zugleich warnte "Wir sind Kirche" davor, das Gutachten nur mit Blick auf die Rolle von Joseph Ratzinger zu betrachten. Nach gleichem Standard sollten nun alle deutschen Bistümer eigene Gutachten vorlegen, "die Täter und Vertuschungsstrukturen offenlegen". Darüber hinaus brauche es Dunkelfeldstudien nach französischem Vorbild. (tmg/KNA)