Kardinal Wetter entschuldigt sich für falsche Entscheidung im Fall H.
Der emeritierte Münchner Kardinal Friedrich Wetter (93) hat eine persönliche Verantwortung für Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche übernommen und sich für seine "falsche Entscheidung" in einem prominenten Missbrauchsfall entschuldigt. Pfarrer H. hätte nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt werden dürfen, heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Stellungnahme zum Münchner Missbrauchsgutachten.
"Dass 'historisch' betrachtet der Wissensstand vor 40 Jahren zur Therapierbarkeit eines Täters noch optimistischer war, dass man die Opfer sowie die betroffenen Familien und Pfarreien zu wenig oder nicht gehört hat und dass man der Kirche nicht schaden wollte, sind Fehler, die nicht mehr begangen werden dürfen", so Wetter. "Es tut mir von Herzen leid, was in meiner Amtszeit so nicht erkannt wurde." In der gesamten Kirche sei eine "Selbstreinigung im Gang, die mit einem Schuldbekenntnis beginnt".
Der Kardinal räumte ein, sich vor dem Jahr 2010 nicht eingehend mit den fatalen und zerstörerischen Folgen von Missbrauchstaten für Kinder und Jugendliche auseinandergesetzt zu haben. Das mache für ihn persönlich sein Verhalten als Amtsträger zwar verständlicher, könne es aber nicht rechtfertigen. Denn hätte er anders entschieden, hätte es nicht zu weiteren Missbräuchen kommen können. Ausdrücklich entschuldigte sich Wetter dabei für seine Fehlentscheidung im Missbrauchsfall H., der im Gutachten mehr als 350 Seiten füllt.
Bischöfe könnten Verantwortung nicht delegieren
Es erfülle ihn "mit Scham und Trauer", zumindest im Fall H. eingestehen zu müssen, "dass ich meiner Verantwortung als Erzbischof von München und Freising zum Schutz der Kinder und Jugendlichen nicht in dem notwendigen Maß gerecht geworden bin", betonte Wetter. Durch Theologie und Kirchenrecht seien in der katholischen Kirche die Vollmachten fast nur auf den Ortsbischof konzentriert. "Dem entspricht eine undelegierbare persönliche Verantwortung." Für seinen "unzureichenden Umgang im Fall H., aber auch mit anderen Anzeigen und Missbrauchsfällen in meiner Amtszeit muss ich deshalb auch persönlich Verantwortung übernehmen und bitte um Entschuldigung".
Wetter erklärte, er sei mit dem Fall H. nach seiner Erinnerung zum ersten Mal in Berührung gekommen, "als es darum ging, ob er nach seiner Verfehlung noch einmal in der Seelsorge eingesetzt werden könne". H. war wegen Missbrauchs mehrerer Kinder in Grafing 1986 zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. "Die Entscheidung, die ich nach intensiver Beratung in der Ordinariatssitzung getroffen habe, ihn unter strenger Aufsicht nach Garching/Alz zu schicken, war ohne Zweifel objektiv falsch", schreibt der Kardinal.
Das am Donnerstag veröffentlichte Münchner Missbrauchsgutachten attestiert dem früheren Erzbischof (1982-2008) Fehlverhalten in 21 Fällen, wobei der Kardinal laut seiner aktuellen Stellungnahme "zu einem anderen Ergebnis" kommt. Dabei müsse man die lange Amtszeit Wetters von mehr als 25 Jahren berücksichtigen, hieß es seitens der Gutachter. Nennenswerte Aktivitäten des Erzbischofs mit Blick auf Beschuldigte oder einer Aufklärung seien von einzelnen Ausnahmen abgesehen nicht ersichtlich. Der Kardinal selbst habe mit Ausnahme des Falls H. ein Fehlverhalten bestritten, so die Gutachter. Erst ab dem Jahr 2010 sei offen über die Thematik des sexuellen Missbrauchs in der Kirche gesprochen worden. Wetter mache eine mangelnde Kenntnis über die Dimensionen sexuellen Missbrauchs geltend. Dies sei angesichts der Berichterstattung, etwa über den Fall Groer und die Ereignisse in den USA, eine "wenig tragfähige Schutzbehauptung", hieß es bei der Vorstellung des Gutachtens. "Plausibler erscheint uns die Verdrängung eines mit Händen greifbaren Problems." (tmg/KNA)
25.1., 12:35 Uhr: Ergänzt um weitere Details.
Kardinal Wetter reagiert auf Münchner Missbrauchsgutachten
Der emeritierte Münchner Kardinal Friedrich Wetter hat zum Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) über den Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum München und Freising Stellung genommen. Von seinem Ruhestandswohnsitz im Münchner Mutterhaus der Barmherzigen Schwestern ließ er über eine Ordensfrau zwei Texte (Erklärung und Stellungnahme) verbreiten, die hier ungekürzt wiedergegeben werden:
"Erklärung von Erzbischof em. Kardinal Friedrich Wetter zum WSWGutachten, abgegeben am 25.01.2022
Das WSW-Gutachten hat mir in meiner 25jährigen Amtszeit als Erzbischof (1982 bis 2008) in 21 Fällen ein "Fehlverhalten" attestiert. Das geschah auf der Basis der Auswertung meiner schriftlichen Antworten an die Kanzlei im Vorfeld des Gutachtens. Meine Darstellung der Fakten in diesen 21 Fällen kommt zu einem anderen Ergebnis.
Als Erzbischof em. entschuldige ich mich aufrichtig für alles Geschehene und für meine falsche Entscheidung im Fall Pfarrer H. im Hinblick auf den Einsatz in der Seelsorge. Dass "historisch" betrachtet der Wissensstand vor 40 Jahren zur Therapierbarkeit eines Täters noch optimistischer war, dass man die Opfer sowie die betroffenen Familien und Pfarreien zu wenig oder nicht gehört hat und dass man der Kirche nicht schaden wollte, sind Fehler, die nicht mehr begangen werden dürfen. Es tut mir von Herzen leid, was in meiner Amtszeit so nicht erkannt wurde. Mit dem Wissen von heute hätten ich und weitere Verantwortungsträger im Erzbistum sicherlich anders gehandelt.
In der gesamten Kirche ist eine Selbstreinigung im Gang, die mit einem Schuldbekenntnis beginnt, wie wir das als Gläubige für unsere 'Gedanken, Worte und Werke' in der Eucharistiefeier von Gott und den Menschen erbitten."
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"Stellungnahme von Erzbischof em. Kardinal Friedrich Wetter zum Missbrauchsgutachten über seine 25-jährige Amtszeit.
Am 17. Januar 2022 wurde das von der Erzdiözese München und Freising in Auftrag gegebene Gutachten 'Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019' veröffentlicht. Darin wurde auch meine Amtszeit als Erzbischof von München und Freising untersucht und nach meiner persönlichen Verantwortung gefragt. Zu Recht erwarten viele dazu eine Stellungnahme von mir, die ich nach Kenntnisnahme des Gutachtens nun geben möchte.
1. In der Presse wird mir ein 'Fehlverhalten in 21 Fällen' angelastet. Tatsache ist: Ich wurde von der Kanzlei zu 21 Personen befragt. Zu jeder Person habe ich meine Antwort mitgeteilt. Dabei ergab sich für mich folgender Sachverhalt: Missbrauch im Fall H. in 6 Fällen liegt kein Missbrauch vor. In 8 Fällen handelt es sich um Missbrauch, aber nicht während meiner Amtszeit bzw. nicht in meinem Amtsbereich. In 2 Fällen geht es um Missbrauch von Ordenspriestern, die unverzüglich in ihren Orden zurückgeschickt wurden. In 1 Fall handelt es sich um einen Priester, der sich fehlerhaft verhalten und Kinderpornos auf seinen Computer aufgeladen hatte. Ich habe ihn sofort suspendiert. In 1 Fall habe ich am Ende meiner Amtszeit von Missbrauch erfahren. Hier wurde Anzeige erstattet. In 1 Fall habe ich von einem erfolgten Missbrauch nichts erfahren. Der wurde mir erst durch die Untersuchung bekannt. Ein Name war mir völlig unbekannt. Das sind die Fakten der 21 Fälle, die keinesfalls pauschal ein 'Fehlverhalten in 21 Fällen' belegen.
2. In der Öffentlichkeit fand der Fall H. eine besondere Aufmerksamkeit. So weit ich erkennen kann, ist dieser auch im Verhältnis zu anderen besonders gravierend. Vor allem aber betrifft er auch die gesamte Zeit meines Dienstes. Darum gehe ich darauf ausführlich ein. Nach meiner Erinnerung kam ich mit dem Fall H. zum ersten Mal in Berührung, als es darum ging, ob er nach seiner Verfehlung noch einmal in der Seelsorge eingesetzt werden könne. Die Entscheidung, die ich nach intensiver Beratung in der Ordinariatssitzung getroffen habe, ihn unter strenger Aufsicht nach Garching/Alz zu schicken, war ohne Zweifel objektiv falsch.
Wie kam es zu dieser falschen Entscheidung? Diese Entscheidung lag Jahre vor dem Jahr 2010, in dem mir die fatalen und zerstörerischen Folgen faktisch erst wirklich bewusst wurden, die durch Missbrauch Kindern und Jugendlichen zugefügt werden. Eine ernsthafte und eingehende Auseinandersetzung hatte es bis dahin bei mir nicht gegeben. Eine Folge davon war, dass ich mit den Tätern nicht mit der gebotenen Strenge umgegangen bin. Darum hielt ich es bei der zu fällenden Entscheidung auch nicht für nötig, mir den ganzen Vorgang von Anfang an geben zu lassen, da H. ja schon eine ganze Zeit in München tätig war. Schon das war falsch. Hätte ich um die ganze Vergangenheit gewusst, hätte ich ihn nach meiner heutigen Überzeugung nicht nach Garching, sondern zurück nach Essen geschickt. Mit dem Wissen von heute nach 2010 hätte ich ihn allerdings auch ohne Wissen der ganzen Vorgeschichte sofort nach Essen schicken müssen.
Natürlich war auch in den 1980er und 1990er Jahren sexueller Missbrauch von Kindern strafbewehrt und moralisch inakzeptabel. Ehrlicherweise muss ich allerdings sagen, dass ich vor 2010 nicht genügend Wissen hatte und mein Problembewusstsein nicht genügend ausgebildet war. Dass dies damals bei vielen in der Gesellschaft, nicht nur in der Kirche, so war, macht mein unangemessenes und objektiv falsches Verhalten von damals zwar für mich verständlicher, kann es aber nicht rechtfertigen.
Auch im Rückblick verstehe ich noch nicht, wie wenig bzw. nichts über die Missbrauchsvorgänge bekannt war oder mitgeteilt wurde: Ich hatte strenge Überwachung von H. in Garching angeordnet und mich auch selbst immer wieder erkundigt. Damit sollte sichergestellt werden, dass sich H. an keinem Kind und Jugendlichen vergreift. Da hörte ich nur positive Urteile. Als H. Garching verließ, war ich froh, dass kein Missbrauch geschehen war. Der aufsichtsführende Dekan hat mir das ausdrücklich bestätigt.
Erst durch die jüngsten Untersuchungen erfuhr ich, dass das nicht stimmt und H. rückfällig geworden ist. Warum hat mir das niemand gesagt? Ich gehe jedenfalls davon aus, dass ich mit dieser Kenntnis H. sofort aus dem Dienst der Diözese entlassen und weggeschickt hätte. Es tut mir wegen der Missbrauchsopfer in Garching, aber auch im Blick auf die indirekt betroffenen Gemeinden aufrichtig leid, dass ich als Kind meiner Zeit und mit meinen begrenzten Vorerfahrungen mit einem völlig unzureichenden Problembewusstsein im Fall H. falsch entschieden habe. Denn hätte ich anders entschieden, hätte es zu diesen Missbräuchen nicht kommen können.
3. Der Fall H. und der völlig unzureichende Umgang mit den Missbrauchstaten und dem Täter zeigen, wie notwendig es war, dass 2010 die Mauer des Schweigens durchbrochen, das defizitäre Problembewusstsein korrigiert und erkannt wurde, welche Schäden den Opfern zugefügt werden. So konnte auch die notwendige Aufarbeitung beginnen. Es tröstet mich nur wenig, dass ich mir trotz meines damals noch unzureichenden Problembewusstseins in der Behandlung des Missbrauchs nicht völlige Untätigkeit oder Nachsichtigkeit vorwerfen muss. Immerhin habe ich in den 1980er Jahren einen Priester suspendiert, weil er kinderpornographische Darstellungen auf seinem Computer aufgeladen hatte.
Doch ändert dies nichts daran, dass ich zumindest im Fall H. eingestehen muss, dass ich meiner Verantwortung als Erzbischof von München und Freising zum Schutz der Kinder und Jugendlichen nicht in dem notwendigen Maß gerecht geworden bin. Das erfüllt mich mit Scham und Trauer. Durch Theologie und Kirchenrecht sind in der katholischen Kirche die Vollmachten fast ausschließlich auf den Ortsbischof konzentriert. Dem entspricht eine undelegierbare persönliche Verantwortung. Für meinen Anteil an dem unzureichenden Umgang im Falle H., aber auch mit anderen Anzeigen und Missbrauchsfällen in meiner Amtszeit muss ich deshalb auch persönlich Verantwortung übernehmen und bitte ich um Entschuldigung."