Sozialisation und Zeitgeschichte spielen in deutsche Fassungen mit rein

Bibelwerk-Direktorin: In Bibelübersetzungen ist auch Kirchenpolitik

Veröffentlicht am 30.01.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Stuttgart ‐ Bibel ist nicht gleich Bibel: Wortwahl und Intention verschiedener Übersetzungen sind oft unterschiedlich. Das hat unter anderem auch mit religionspolitischen Erwägungen zu tun. Im katholisch.de-Interview erklärt die Bibelwerk-Chefin Katrin Brockmöller, wie es zu den Unterschieden kommt.

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An Bibelübersetzungen in deutscher Sprache mangelt es nicht: Da gibt es einerseits die von allen katholischen Bischöfen im deutschsprachigen Raum erstmals 1980 gemeinsam verantwortete Einheitsübersetzung, die zuletzt 2016 revidiert, also überarbeitet wurde. Dazu kommt die revidierte Lutherübersetzung aus der evangelischen Kirche 2017 – und noch viele weitere. Was wie übersetzt wird, hängt nicht nur vom biblischen Wortlaut ab, sondern auch von zahlreichen weiteren Faktoren. Die geschäftsführende Direktorin des Katholischen Bibelwerk e.V., Katrin Brockmöller, gibt im Interview aus Anlass des ökumenischen Bibelsonntags einen Überblick über Varianten und zeitgeschichtliche Veränderungen.

Frage: Frau Brockmöller, 2009 bildete sich in den USA eine konservative Initiative, die die Bibel neu übersetzen und dabei weniger "links" machen wollte. Unter anderem wurde da über die Wortwahl bei der Übersetzung diskutiert und darüber, ob gewisse Textteile wie die Szene von Jesus mit der Ehebrecherin in die Bibel gehörten. Sind solche Überlegungen normal?

Brockmöller: Ja, das gab und gibt es in der Geschichte der Kirche immer wieder. Solche Versuche setzen meist entweder bei der Sprache oder bei der Textauswahl an. Blicken wir zuerst auf die Ebene der Sprache: Wer Texte aus dem Hebräischen oder Griechischen – den beiden Hauptsprachen der Bibel – ins Deutsche übersetzen will, muss sich oft für einen Aspekt entscheiden. Um ein theologisch noch relativ harmloses Beispiel zu wählen: Wenn man sich die Beschreibung der Schlange aus der Geschichte um Adam und Eva im Buch Genesis anschaut, dann steht in der katholischen Einheitsübersetzung, dass die Schlange "nackt" war. Das Wort, das dort im Hebräischen steht, ist ein Wortspiel, denn es kann auch "klug" heißen. Im Deutschen muss man sich für eine der beiden Bedeutungen entscheiden, denn bei uns sind diese beiden Begriffe überhaupt nicht miteinander verbunden. Die Übersetzung "Bibel in gerechter Sprache" formuliert: "Sie war nackt und hatte viel drauf", um das ursprüngliche Sprachspiel nach vorn zu bringen. Im Italienischen gibt es ein Sprichwort: "Der Übersetzer ist immer ein Verräter" (traditore traduttore) – denn von der einen in die andere Sprache kann man nie zu 100 Prozent alle Nuancen übersetzen.

Das andere ist die Textauswahl: Viele Leute haben immer wieder Unbehagen damit, was so alles im kanonisierten Bibeltext steht – Diskussionen um Streichungen kommen da immer wieder auf. Diese Initiativen sind aber meistens schnell durchschaubar. Es geht immer darum, dass die Bibel dem eigenen Welt- und Gottesverständnis nicht entspricht. Ehrlicher als Streichungen wäre dagegen eine kritische Diskussion mit Aussagen des Textes. Den ersten Versuch in diese Richtung gab es schon im 2. Jahrhundert nach Christus und er ist sehr bekannt unter dem Stichwort "Markionismus". Einerseits versuchte diese Bewegung die unterschiedlichen Evangelien in einem Text zu harmonisieren. Gleichzeitig beginnt hier die bis heute leider immer wieder zu hörende Fehlentwicklung, dem Alten Testament einen bösen, strafenden und richtenden Gott zu unterstellen und den guten liebenden Gott nur im Neuen Testament zu suchen als dem eigentlichen Evangelium. Diese Abwertung wirkt leider bis heute nach und wird weder der Bibel als Gesamttext, noch der christlichen oder gar der jüdischen Gemeinschaft gerecht.

Frage: Fangen wir bei den Begrifflichkeiten an. Spielen religions- oder kirchenpolitische Erwägungen dabei eine Rolle?

Brockmöller: Die schwingen immer mit, denn jede Übersetzerin und jeder Übersetzer bringt eine politische und theologische Tradition und eine kirchliche Sozialisation mit. Nehmen wir zum Beispiel das heutige Tagesevangelium, bei dem Jesus in einer Synagoge aus dem Buch Jesaja vorliest. Im ersten Vers (Lk 4,20) heißt es in der Einheitsübersetzung: "Dann schloss er die Buchrolle." In der Einheitsübersetzung von 1980 war noch von einem Buch die Rede. Der Hintergrund war die Allgemeinverständlichkeit, im Alltag der Menschen des 20. Jahrhunderts kamen Buchrollen nicht vor. In der Revision war man aber sensibler und wollte den jüdischen Kontext Jesu betonen – und klar, in der Synagoge wird immer aus einer Torarolle gelesen. Deswegen hat man sich dann für "Buchrolle" entschieden. Die revidierte Lutherübersetzung ist beim "Buch" geblieben, weil man den besonderen Luther-Sound in der Sprache behalten wollte. Dagegen formuliert die "Basisbibel", eine sehr moderne Übersetzung mit Bemühen um Verständlichkeit: "Jesus rollte die Schriftrolle wieder zusammen." Das ist sehr auf den Punkt. Das "Evangelium in leichter Sprache", ein Projekt, das die Evangelientexte allen Menschen unabhängig von Sprach- und Bildungsgrad zugänglich machen möchte, schreibt: "Jesus machte die Bibel wieder zu." Da stand im Vordergrund, dass auch Menschen mit kognitiven Einschränkungen nicht darüber nachdenken müssen, was eine Schriftrolle ist, sondern für alle klar ist: Es geht um die Bibel, die heilige Schrift.

Man sieht an diesem kleinen Beispiel der Schriftrolle, wie sehr man in der Übersetzung immer Entscheidungen treffen muss, worauf man den Fokus legt: Auf Verständlichkeit in der Zielgruppe, auf Sprachtraditionen, auf bestimmte theologische Aspekte und noch vieles andere.

JHWH-Tetragramm
Bild: ©picture alliance/Weingartner

Der Gottesname ist bei der Übersetzung eine wichtige Frage.

Frage: Gab es auch dezidiert kirchenpolitische Wortwahlen bei den großen kirchlichen Übersetzungen der Einheitsübersetzung und der Lutherübersetzung?

Brockmöller: Ja, auf jeden Fall. Die Entscheidungsprozesse sind nicht in allen Details öffentlich, man kann aber am fertigen Text einiges beobachten und beide Überarbeitungen haben ihre Kriterien offengelegt.

Interessant ist, dass zum Beispiel die Einheitsübersetzung zwar das Prinzip hatte, näher am Wortlaut der Originalsprachen zu bleiben – aber sehr bekannte Gebetstexte aus dem Neuen Testament wie das Magnifikat oder das Benediktus wurden im Wortlaut bewusst unverändert gelassen. Da standen eben liturgische Aspekte im Vordergrund. 

Manchmal geht es um grundlegende Fragen wie das Kirchenverständnis: Wenn im griechischen Bibeltext das Wort "ekklesia" steht, übersetzt die Einheitsübersetzung nicht immer, aber sehr häufig mit "Kirche", die Lutherübersetzung aber durchgängig mit "Gemeinde". Beides lässt sich philologisch verantworten. Nachschlagen kann man das gut an so berühmten Beispielen wie dem Jesuswort: "Du bist Petrus und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen." (Einheitsübersetzung) – während bei Luther hier "Gemeinde" übersetzt wird. In der Einheitsübersetzung verfolgte Paulus in Gal 1,3 die Kirche Gottes, bei Luther die Gemeinde. Und in 1 Kor 12,28 spricht Paulus in der Einheitsübersetzung davon, dass in der Kirche Apostel, Propheten und Lehrer eingesetzt werden, die Lutherübersetzung hat auch hier "Gemeinde". Bei den katholischen Übersetzungen steht die Institution im Vordergrund, in den evangelischen Übersetzungen eher die Versammlung der Gläubigen – so werden in einer Übersetzung auch verschiedene theologische und kirchengeschichtliche Grundkonzepte sichtbar. Wollte man ganz nah am griechischen Text bleiben und an der Theologie der ersten Christen, dann müsste man wohl betonen, dass es um eine Gemeinschaft von "Herausgerufenen" (so ganz wörtlich) geht.

An anderen Stellen folgen beide großen kirchlichen Übersetzungen jetzt der aktuellen wissenschaftlichen Textgrundlage. So haben zum Beispiel beide jetzt die Apostelin Junia in Röm 16,7 rehabilitiert. Die ältesten Textzeugen und auch die Kirchenväter sprechen von einer Apostelin Junia und nicht von einem Apostel. Das war in den 1980iger-Jahren, als die Einheitsübersetzung entstand zwar in der Bibelwissenschaft bekannt, aber im Text noch nicht vorstellbar, so kam es zum männlichen Namen "Junias".

Ein oben schon benanntes Feld ist die heute höhere Aufmerksamkeit im Blick auf das Verhältnis von jüdischer Gemeinschaft und Christentum. Die oft abwertenden und antijüdischen Überschriften der Einheitsübersetzung von 1980 wurden alle überarbeitet. So liest man jetzt nicht mehr im neunten Kapitel des Römerbriefes vom falschen Eifer Israels, sondern von der Suche Israels und der Heiden nach Gerechtigkeit. Und Paulus spricht nicht mehr vom "Ende des Gesetzes" in Christus, sondern vom Ziel des Gesetzes (vgl. Röm 10,4).

Frage: Gibt es auch Wörter, die in der neuen Einheitsübersetzung anders übersetzt werden als in der alten?

Brockmöller: Ein Beispiel, das nie irrelevant wird, ist die Übersetzung des Gottesnamens. Im Hebräischen stehen die vier Konsonanten J-H-W-H. Die alte Einheitsübersetzung hat dann auch manchmal mit dem Wort "Jahwe" formuliert. Vertreter jüdischer Gemeinden haben immer wieder darum gebeten, dass wir Christen nicht einfach den Gottesnamen so aussprechen, weder in der Liturgie noch beim Lesen der Schrift. Aus Respekt vor der Heiligkeit des Gottesnamens wurde und wird er im Judentum nie laut ausgesprochen, sondern durch verschiedene Ersatz-Namen ersetzt. Schon Jugendliche lernen vor ihrer Bar Mitzwa, beim Lesen aus der Tora bei den Konsonanten J-H-W-H zum Beispiel "adonaj" – "mein Herr" oder "ha schem" – "der Name" vorzulesen.

Die alte Einheitsübersetzung hatte hier keine konsequente Linie. Der Gottesname war mal mit "Herr", mal mit "Jahwe" übersetzt. Daher konnte man dann bei der Lektüre nicht unterscheiden, wann wirklich der Gottesname im Text steht und wann vielleicht einfach Gott mit der üblichen Anrede "Herr". In der neuen Übersetzung steht jetzt immer, wenn im Original der Gottesname steht, das Wort "Herr" in Kapitälchen gesetzt, also "Herr". Das macht den Gottesnamen erkennbar und zeugt von Respekt vor der jüdischen Tradition. Die Wortwahl "Herr" kann dann natürlich sehr patriarchal wirken.  Etwas eleganter hat diese Frage die "Bibel in gerechter Sprache" gelöst: Dort werden für den Gottesnamen immer verschiedene Ersatzworte aus der Tradition angeboten, wie "der Lebendige" oder auch "die Ewige" oder ein Personalpronomen wie "Du" oder "Er". So wird man immer daran erinnert, dass Gott nicht in ein Wort zu fassen ist und der Name selbst wird geheiligt.

Frage: Die gerechte Sprache ist ein weiterer Punkt: Etwa die Formulierung "Brüder und Schwestern". Sind solche Wendungen auf den Bibeltext draufgesetzt oder lassen sie sich im Original belegen?

Brockmöller: In der Bibel gibt es zunächst einmal beides, manchmal wird inklusiv formuliert. Zum Beispiel in dem berühmten Vers aus Joel 3,1-2, der an Pfingsten in Apg 2,17 zitiert wird: "Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, … über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen."

An anderen Stellen denkt die Bibel vom Wortlaut her überhaupt nicht inklusiv, so zum Beispiel bei den zehn Geboten – da sind grammatikalisch und inhaltlich nur männliche "Hausvorstände" angesprochen, auch wenn die Gebote dann für den gesamten Hausstand gelten. Bei den neutestamentlichen Briefen entsteht die Besonderheit, dass das griechische Wort "adelphoi" zuerst Männer meint, aber durchaus auch verwendet werden kann, wenn eine gemischte Gruppe aus Frauen und Männern angesprochen wird. Daher hat die neue Einheitsübersetzung und auch die Lutherübersetzung immer dann, wenn im griechischen Text "adelphoi" steht, mit "Brüder und Schwestern" übersetzt. Denn heute fühlen sich Frauen mit "Liebe Brüder" eben nicht mitgemeint, sondern ausgeschlossen.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

Katrin Brockmöller ist die Direktorin des Katholischen Bibelwerks.

Frage: Inwiefern spielen da auch Sprachtraditionen eine Rolle?

Brockmöller: Vor allem bei der Luther-Übersetzung sind die sehr wichtig. Werfen wir noch einen Blick auf einen Text des Bibelsonntags aus dem Korintherbrief: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle", heißt es dort (1 Kor 13,1). "Der Liebe nicht", sagt man heute nicht mehr. Aber weil das zur Luthersprache gehört, steht es noch da. Die Einheitsübersetzung formuliert da moderner: "Hätte aber die Liebe nicht". Soweit ich weiß, gab es unter anderem bei dieser Stelle bei der Revision der Lutherbibel Diskussionen, man hat sich dann aber doch für die traditionellere Variante entschieden. Man wollte die volltönende Sprache Luthers bewahren.

Man kann sich beim Übersetzen weder von eigenen Traditionen noch vom jeweils gängigen Sprachgebrauch lösen. Das zeigt auch ein weiteres Beispiel aus dem Propheten Jeremia sehr anschaulich. Sprache und das Verständnis von Begriffen wandeln sich ständig und man kann damit sehr unterschiedlich umgehen. So hat die Lutherübersetzung bei der rhetorischen Frage in Jer 13,23 eine traditionelle Wortwahl beibehalten – obwohl das Wort "Mohr" heute auch als rassistisch wahrgenommen werden kann: "Kann etwa ein Mohr seine Haut wandeln?" Die Einheitsübersetzung hatte in der Ausgabe von 1980 das Wort "Neger" und in der überarbeiteten Fassung liest man: "Kann ein Kuschit seine Hautfarbe verändern?" Nun ist das Fachwort Kuschit sehr richtig und sehr wörtlich übersetzt, aber wer weiß schon, dass das antike Reich Kusch vermutlich etwa im Bereich des heutigen Sudan lag? Auf jeden Fall zielt die rhetorische Frage ja darauf, dass ein Mensch seine Hautfarbe auf keinen Fall selbst ändern kann. So hat es die Basisbibel gelöst: "Kann etwa ein schwarzer Mensch seine Hautfarbe ändern?"

Frage: Die Wahl der Worte ist das eine, die andere Sache ist die Textauswahl an sich. Denn es gibt ein paar Texte, die deuterokanonischen Schriften, die zur katholischen Bibel dazugehören, zur evangelischen aber nicht. Was sagt das aus?

Brockmöller: Welcher Text zur Bibel gehört und welcher nicht, das waren Entscheidungen, die in der Kirchengeschichte relativ spät definitiv geklärt wurden. Es gab Kanonlisten, aber erst das Konzil von Trient (1545-1563) hat als Reaktion auf die Reformation den katholischen Kanon definiert.

Während Luther jene Schriften bevorzugt, die es auch auf Hebräisch gibt und die zum jüdischen Kanon gehören, hat das Konzil von Trient auf die Septuaginta zurückgegriffen, eine griechische Gesamtausgabe des Alten Testaments. Daher enthalten katholische und evangelische Bibelausgaben nicht ganz genau die gleichen Bücher im gleichen Umfang. 

In diesem Jahr wurden für die ökumenische Bibelwoche Texte aus dem Buch Daniel ausgesucht, die beide Kirchen kanonisiert haben. Für den ökumenischen Bibelsonntag gibt es allerdings eine Lesung aus dem Buch Daniel, die in evangelischen Kirchen oft nur als Anhang (sogenannte Apokryphen) abgedruckt ist: Der Lobpreis der Jünglinge im Feuerofen (Dan 3,51-90). In der Lutherübersetzung ist er beispielsweise abgedruckt, in der Basisbibel fehlt er. Die orthodoxen Kirchen wiederum schätzen diesen Text sehr hoch und er gehört zu den klassischen Gebeten der Liturgie am Karsamstag. Denn dieser Lobpreis ist einer der wenigen alttestamentlichen Texte, die auch als Bekenntnis zur Auferstehung gelesen werden können. Es heißt darin: "Er hat uns aus der Gewalt des Todes errettet." Es ist ein wunderbares ökumenisches Zeichen, dass beim ökumenischen Bibelsonntag gerade so ein Text gewählt wurde und zeigt die Verbundenheit aller christlichen Kirchen.

Frage: Gibt es denn auch Bibelübersetzungen, die nicht christlich sind?

Brockmöller: Ja, natürlich sehr viele im Blick auf das Alte Testament, das wir mit der jüdischen Gemeinschaft gemeinsam lesen. Sehr berühmt ist ja die deutsche Übersetzung der Schrift von Martin Buber.

Im Blick auf das Neue Testament empfehle ich gern "The Jewish Annotated New Testament". Hier wird eine englische Standard-Übersetzung mit Kommentaren aus jüdischer Perspektive präsentiert. Bei der Stelle aus Lukas 4, über die wir eben gesprochen haben: Jesus liest in der Synagoge aus der Tora, wird dort angemerkt: Es ist historisch nicht davon auszugehen, dass eine kleine Stadt wie Nazaret eine ganze Jesaja-Rolle zur Verfügung hatte. Sehr praktisch und nachvollziehbar, denn so eine Jesaja-Rolle ist ein riesiges Werk, das muss man auch erstmal herstellen und bezahlen können, per Hand auf Papyrus geschrieben. Weiterhin wird angemerkt, dass in der klassischen jüdischen Leseordnung die in Lukas zitierten Stellen so nicht vorkommen. Das heißt also für unsere Interpretation: Was Lukas Jesus hier in den Mund legt, ist keine historische Momentaufnahme, sondern zeigt die lukanische Theologie: Jesus ist derjenige, mit dem sich die Prophezeiungen Jesajas erfüllen – und das verortet er in der Synagoge. Es lohnt sich also, unterschiedlichste Traditionen beim Blick auf eine Bibelstelle wahrzunehmen.

Insgesamt kann ich nur empfehlen sich immer mehr als eine Übersetzung anzusehen. Neben die gewohnten Übersetzungen wie die Einheitsübersetzung oder die Lutherübersetzung sollte man sich eine etwas "freiere" Übersetzung ansehen, wie das Evangelium in Leichter Sprache oder auch die Bibel in gerechter Sprache. Wo diese Übersetzungen auseinandergehen, also wenn es im Text Varianten, Assoziationen oder Interpretationsspielraum gibt, dann lohnt es sich immer auf Entdeckungsreise mit den Texten zu gehen.

Von Christoph Paul Hartmann