Theologe zu Straßenblockaden: Ziviler Ungehorsam gehört zur Demokratie
Der Theologe und Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl hat zu einem gelasseneren Umgang mit den anhaltenden Straßenblockaden der Gruppe "Aufstand der letzten Generation" aufgerufen. "Ziviler Ungehorsam gehört zum Lebenselixier einer streitbar-liberalen Demokratie", sagte Lob-Hüdepohl, der auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist, am Freitag auf Anfrage von katholisch.de. Zudem seien Straßenblockaden zu Demonstrationszwecken auch in Deutschland grundsätzlich nichts Ungewöhnliches.
Seit rund zwei Wochen blockieren meist junge Aktivisten vor allem in Berlin immer wieder Straßen und Autobahnausfahrten. Betroffen davon ist vor allem die Autobahn 100, die meistbefahrene Autobahn Deutschlands. Mit ihren Blockaden unter dem Motto "Essen Retten – Leben Retten" wollen die Aktivisten die Bundesregierung zwingen, ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung zu erlassen. Außerdem fordern sie eine sofortige Agrarwende, um die Klimagase aus der Landwirtschaft zu mindern. Die Straßenblockaden haben in den vergangen Tagen wiederholt Konflikte mit genervten Autofahrern ausgelöst. Nach Angaben der Berliner Polizei wurden in den vergangenen Wochen mehr als 200 Anzeigen gegen die Aktivisten aufgenommen. In knapp 170 Fällen seien Demonstranten vorläufig festgenommen oder ihre Personalien festgestellt worden.
"Regelverstöße nicht automatisch moralisch illegitim"
Lob-Hüdepohl betonte, dass mit Straßenblockaden zwar immer in irgendeiner Weise das Gesetz gebrochen werde – "schon allein deshalb, weil sie ungenehmigte Demonstrationen sind und andere in ihrer Bewegungsfreiheit hindern". Automatisch moralisch illegitim seien solche Regelverstöße trotzdem nicht. Auch wenn zunächst immer die moralische Pflicht gelte, sich an Gesetze zu halten, gebe es Ausnahmen wie den sogenannten "zivilen Ungehorsam". Dieser wolle mit gesetzwidrigen öffentlichen, gewaltlosen und gewissensbestimmten Handlungen eine Änderung von Gesetzen oder von Regierungspolitik herbeiführen, so Lob-Hüdepohl unter Verweis auf eine Definition des US-Philosophen John Rawls.
Gleichwohl betonte Lob-Hüdepohl, dass die moralische Legitimität von zivilem Ungehorsam an hohen Standards hänge: "Er muss sich gegen schwerwiegende Ungerechtigkeiten wenden, er darf nie die öffentliche Ordnung insgesamt gefährden und er muss öffentlich und symbolisch sein, um tatsächlich auf die Änderung der Mehrheitsmeinung und des politischen Handelns hinwirken zu können." Ihre Ernsthaftigkeit stellten entsprechende Aktivisten gerade dadurch unter Beweis, dass sie im Zweifelsfall die rechtlichen Folgen ihres Gesetzesverstoßes und damit die Regeln des Rechtsstaates akzeptierten. "Darin gipfelt das Symbolhafte ihres dramatischen Appells", so der Theologe.
Lob-Hüdepohl: Verhältnismäßigkeit der Blockaden kontrovers diskutieren
Man möge den apokalyptischen Namen der Gruppe "Aufstand der letzten Generation" als unangemessen empfinden. Ihre Zielsetzung, mit ihren Aktionen auf die zerstörerischen Folgen des menschengemachten Klimawandels und den fragwürdigen Umgang mit Lebensmitteln aufmerksam zu machen, dürfte in der Bevölkerung jedoch auf breite Zustimmung stoßen, vermutete Lob-Hüdepohl. Ob die Sitzblockaden an Autobahnausfahrten jedoch tatsächlich verhältnismäßig und geeignet seien, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und die Politik zu einer Änderung etwa des Straftatbestandes des sogenannten "Containerns" zu bewegen, könne und müsse kontrovers diskutiert werden.
"Ist eine Sitzblockade vor dem Eingang der zuständigen Ministerien nicht symbolhafter als die Blockade unbeteiligter Dritter auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause? Oder ist die Aufmerksamkeitsökonomie unserer Gesellschaft schon so hochgeschraubt, dass nur spektakuläre Ereignisse Beachtung finden?", fragte der Theologe. Man werde die Aktivisten der "letzten Generation" mit diesen und weiteren Fragen zur Rede stellen müssen. "Nur eines ist auszuschließen: Sich über sie als vermeintliche Feinde der Demokratie zu empören", mahnte Lob-Hüdepohl. Gerade in einer Zeit, in der ungenehmigte "Spaziergänge" jede Woche stundenlang ganze Straßen und Innenstädte in Beschlag nähmen, solle man den großen Ernst der überwiegend jungen Klimaaktivisten "für einen intensiven innergesellschaftlichen Dialog über die wirklich humane Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu nutzen wissen". (stz)