Als ein Wüstenfund die Bibelwissenschaft auf den Kopf stellte
Das Khribet Qumran liegt idyllisch: Besucher, die von Jerusalem nach Qumran kommen, müssen zunächst die kurze Wegstrecke durch die Wüste zurücklegen, bis sie endlich in der Jordansenke angekommen sind. Dort, am Westufer des Toten Meeres, liegt sie, jene archäologische Stätte, die so viele Gäste anzieht. Und dennoch ist gar nicht klar, was Pater Robert de Vaux von der École Biblique und sein Team hier ausgegraben haben. Oft jedenfalls bringt man den Ort mit jenen Schriftrollen in Verbindung, die man nur wenige Meter entfernt von Khirbet Qumran in einigen Höhlen gefunden hat. 75 Jahre ist es in diesem Jahr her, dass Beduinen auf die ersten Schriften gestoßen waren. Ein Fund, der nicht nur archäologisch einige Steine ins Rollen gebracht hat.
Geheimnisvolle Herkunft in ferner Vergangenheit
Die Schriftrollen sind uralt: Sie stammen aus einem Zeitraum vom 2. Jahrhundert vor Christus bis ungefähr 68 nach Christus. Vermutlich sind manche Texte noch älter. Die Frage lautet natürlich: Wie kommen diese Schriften hierher? Wer hat sie zusammengetragen und wer hat sie hier versteckt? Diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten. Im Laufe der Jahre wurde prominent die These vorgetragen, es habe sich um eine religiöse Gruppierung gehandelt, die sich von der Jerusalemer Gemeinde abgespalten hatte. Hier, am Toten Meer, errichtete die Gemeinde eine kleine Siedlung. Bei antiken Autoren wie zum Beispiel dem jüdisch-römischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus trägt eine solche Gruppe den Namen Essener.
Ob es sich bei der in Khirbet Qumran gefundenen Siedlung wirklich um eine Niederlassung der Essener handelt, ist heute mehr denn je unsicher. Unterschiedliche Strukturen, die ausgegraben wurden, hatte man unter anderem als Speiseraum oder Schreibstuben deklariert. Diese Zuschreibungen wurden deshalb möglich, weil man einen Zusammenhang zwischen den gefundenen Schriftrollen und der Siedlung angenommen hat. Der alte Konsens lautete: Die Schriftrollen, die man ab 1947 in den Höhlen fand, stammen aus dem benachbarten Dorf. Und weil es sich hauptsächlich um Abschriften biblischer Bücher handelte, vermutete man dahinter eine religiöse Gruppierung.
Dieser alte Konsens ist in den letzten Jahren mehr und mehr kritisch angefragt worden. Dahinter steht vor allem die Tatsache, dass der archäologische Befund allein nicht eindeutig ist und einen Interpretationsspielraum eröffnet. Mit anderen Worten: Es wird von manchen Wissenschaftlern gefordert, eine Einordnung von Khirbet Qumran unabhängig von den gefundenen Schriften vorzunehmen. Qumran könnte dann als ein landwirtschaftliches Gut interpretiert werden, welches in Zusammenhang mit der Region am Toten Meer wahrzunehmen ist. Das Ziel wäre es also, die Siedlung von Khirbet Qumran nicht von den Schriftrollen ausgehend zu interpretieren, sondern anhand der archäologischen Basis wahrzunehmen.
Lässt sich eine Beziehung zwischen den Schriftrollen und der Siedlung annehmen?
Diese Frage lässt sich nicht eindeutig klären. Sicher spricht die zeitliche und räumliche Nähe zunächst einmal für die Entstehung der Schriften in Khirbet Qumran. Die meisten Schriften entstanden in einem Zeitraum, in dem der Ort besiedelt war; die Schriften waren in unmittelbarer Nähe zur Siedlung gelagert. Dennoch muss auch gefragt werden, ob es aufgrund der Fülle des gefundenen Schriftmaterials wirklich möglich ist, dass dieses an einem einzigen Ort wie Khirbet Qumran entstanden ist. Auch bleibt die Frage, ob eine inhaltliche Zusammengehörigkeit der Schriften anzunehmen ist, was auf einen gemeinsamen Entstehungskontext hindeuten würde. Im Großen und Ganzen lässt sich unterm Strich aber nur eines festhalten: Es ist nach derzeitigem Stand nicht eindeutig zu klären, wer in Khirbet Qumran am Toten Meer lebte und ob diese Siedlung in einem Zusammenhang mit den in der Nähe gefundenen Schriftrollen steht. Auch die Hypothese, es habe sich hierbei um ein Dorf der Essener gehandelt, ist kritisch zu hinterfragen, wenngleich sie auch nicht gänzlich obsolet geworden ist.
Die gefundenen Handschriften sind vor allem für die Bibelwissenschaft interessant. Von allen Büchern des Alten Testaments (ausgenommen das Buch Ester) hat man in den Höhlen zumindest Fragmente gefunden. Es handelt sich damit um sehr alte Textzeugnisse, die noch einmal um ein Vieles älter sind als die bisher erhaltenen Textzeugen. Die Handschriften vom Toten Meer sind deshalb bedeutsam, weil sie zeigen, wie sich die biblischen Schriften im Lauf der Jahrhunderte entwickelt haben und dass es wohl keinen eindeutig festgelegten Schrifttext gegeben hat, sondern dass biblische Texte durchaus nach unterschiedlichen Traditionen weitergegeben werden konnten. Die Bibeltexte, die wir heute verwenden, sind also keineswegs diejenigen, die schon immer in dieser Art und Weise gelesen wurden. Es hat immer Entwicklungen und Veränderungen gegeben, bis sich schließlich im zweiten nachchristlichen Jahrhundert ein Text etabliert hat, der zur Richtschnur für alles weitere avancierte.
Während wir heutzutage bestimmte Schriften zum Kanon der biblischen Texte zählen und andere nicht, scheint dies zur Zeit der Besiedlung von Khirbet Qumran wesentlich dynamischer gewesen zu sein. Wenn man annimmt, dass die Schriftrollen in einer Beziehung zur Siedlung von Qumran stehen, so zeigt das: Es wurden dort auch Schriften gelesen, die nicht Eingang in unseren biblischen Kanon gefunden haben. Dies legt die Vermutung nahe, dass es zur damaligen Zeit nicht so etwas wie eine "verbindliche Bibel" gegeben hat, die überall gleich war. Vielmehr legen die Schriftrollen den Verdacht nahe, dass jede Gruppierung ihre eigene Sammlung an Texten besaß. Man könnte sagen: Es gab eine Pluralität an Bibeln. Und es gab eine unterschiedliche Gewichtung, welche Texte für eine Gemeinschaft wichtig waren und welche nicht. Dieser Befund zeigt auch an, wie pluriform das Judentum zur damaligen Zeit war. Weder scheint es überall einen gleichen Kanon an Texten gegeben zu haben, noch waren die Texte überall gleich. Vielmehr machen die Schriftrollen vom Toten Meer aufmerksam, wie verschieden die gleichen Schriften tradiert werden konnten und wie somit unterschiedliche Versionen eines Textes nebeneinander weitergegeben wurden.
„Im Blick auf den eschatologischen Kampf zwischen den „Söhnen des Lichts“ und den „Söhnen der Finsternis“ ist vor allem die „Kriegsrolle“ bedeutsam.“
Schließlich wurden in den Höhlen auch Texte gefunden, die nichtbiblisch sind: Dazu zählt zum Beispiel eine "Gemeinderegel", die häufig in Zusammenhang mit der Gemeinschaft von Khirbet Qumran gebracht wurde. Diese Gemeinderegel ist von einem starken Dualismus geprägt, der sich vor allem im Widerstreit der "Söhne des Lichtes" und der "Söhne des Frevlers" ausdrückt. Aber es finden sich in dieser Regel auch Anweisungen für ein Gemeinschaftsleben und für das gemeinsame Gebet. Im Blick auf den eschatologischen Kampf zwischen den "Söhnen des Lichts" und den "Söhnen der Finsternis" ist vor allem die "Kriegsrolle" bedeutsam. Ihr Text fokussiert sich auf die Endzeiterwartung, nimmt biblische Motive aus der Apokalyptik auf und interpretiert diese stark dualistisch.
Auch diese Texte sind für die heutige Forschung sehr aufschlussreich. Sie machen Entwicklungen nachvollziehbarer und zeigen, wie sich bestimmte Themen neben den Schriften unseres heutigen biblischen Kanons entwickelt haben. Man kann dies an der eschatologischen Vorstellung deutlich machen: Gerade die "Kriegsrolle" eröffnet noch einen anderen Zugang zu den Endzeitvorstellungen, wie sie in den damaligen Gruppierungen des Judentum etabliert waren. Anders formuliert: Diese Texte sind hilfreich, um die Entwicklung von Traditionen nachzuzeichnen und die biblischen Schriften in einem größeren Entstehungszusammenhang wahrzunehmen.