"Erlösung ist kein Selbstläufer"
Liebe Facebook-Freunde, nochmals Gruß aus Rom!
In den letzten Tagen ist im Internet und in den Printmedien viel diskutiert worden über den sehr langen Text (26 Seiten) des Bischofs von Antwerpen, Johan Bonny im Vorfeld der Familiensynode in Rom im Oktober. Hier der Versuch einer Antwort:
Ich möchte Bischof Bonny zuerst für diesen Text danken. Er wirft viele wichtige Fragen auf, er findet eine verständliche Sprache, er legt den Finger in manch offene Wunde und man spürt, dass er nahe am Menschen ist. Ich freue mich vor allem über den Ton, den er trifft. Er argumentiert klar und dennoch mit Rücksicht und Behutsamkeit. Und er stellt sich der Diskussion im Respekt vor denen, die anders denken.
Ich bin in den zentralen Punkten seines Textes, vor allem zu den Themen "Lehre", "Gewissen", "Naturrecht", "sensus fidei" und "Gewicht des Lehramtes" anderer Meinung als er. Aber seine Argumente treffen zweifellos einen Nerv der Zeit. Das heißt: Wir ringen um Wahrheit, um den richtigen Weg der Kirche und vor allem zusammen mit Papst Franziskus um ein barmherziges Antlitz dieser Kirche für die Menschen.
"Normen für viele können nicht jeden Einzelfall abdecken"
Ein Text mit so viel ernsthaftem Engagement hilft uns dann auch deshalb weiter, weil wir im ernsthaften Hören aufeinander auch den jeweils eigenen Standpunkt weiter differenzieren, die Analyse vertiefen und auf diese Weise zu einem insgesamt besseren Gesamturteil finden.
Ich habe derzeit wenig Möglichkeit, eine ebenso umfassende Antwort zu formulieren. Daher nur einige grundlegende Gedanken dazu: Meines Erachtens arbeitet sich Bischof Bonny vor allem an dem Problem der "Allgemeinheit des Gesetzes" und seinem Verhältnis zu konkreten Einzelfällen ab. Dies ist selbstverständlich immer schon ein Problem jeder Gesetzgebung gewesen. Normen für viele können nicht jeden Einzelfall abdecken. Es bedarf immer wieder der Justierung und gegebenenfalls der Epikie, einer Weise der großzügigen Nachsicht, die eben für genau solche Fälle zur Anwendung kommt, die von der Allgemeinheit eines Urteils gar nicht erfasst werden können.
Was ist eine Synode? Ein Beitrag aus der Reihe "Katholisch für Anfänger".
In der Analyse auf die Fragen der Kirche zu Ehe und Familie scheint mir Bischof Bonny dieses Schema nun als Hintergrundthema für die meisten unserer wichtigen Fragen zu haben. Hier das abstrakte Gesetz oder "die Lehre" der Kirche, dort der Einzelfall in einer komplexer werdenden Gesellschaft, der von Gesetz oder Lehre dann eigentlich kaum mehr berührt wird.
Die Analyse führt dann in der Abhandlung der Themen am Ende immer wieder zu einem differenzierten Plädoyer für eine Lockerung des allgemeinen Gesetzes oder einer Anpassung der Lehre zugunsten der so unterschiedlichen Einzelfälle.
Besonders bei den wichtigen Grundthemen Gewissen und Naturrecht scheint mir dieser "Shift", diese Bewegung hin zum Einzelfall zur Anwendung zu kommen: Beide werden zunächst beschrieben als objektive, eher gesetzhafte Grössen, dann aber argumentativ hinbewegt zu einer dynamisch und sich geschichtlich entwickelnden Größe, die dann am Ende jedenfalls in die Nähe einer "Verfügung" durch den Einzelnen kommt. Etwas platt gesagt (und nicht dem Niveau seines Textes entsprechend!): Gewissen ist am Ende vor allem das, was ich für richtig halte und Naturrecht ist das, was sich mir oder uns in meiner oder unserer Lebenssituation gerade als richtig und gut zeigt. Freilich ist Bischof Bonny differenzierter, aber die Bewegung scheint mir sehr grundsätzlich in diese Richtung zu gehen - und damit natürlich zugleich in Richtung einer stärkeren Subjektivierung der Normen.
Bischof Bonny vergisst Entscheidendes
Diese Argumentation wird ergänzt durch eine Lektüre des Evangeliums, die Jesus in jedem Fall stärker auf der Seite des Subjektiven, des Einzelnen sieht, und ihn als Anwalt gegen ein allzu abstraktes Gesetz auftreten lässt. Im Grunde scheint das ja oftmals tatsächlich eine Argumentationsform des Evangeliums selbst. Wir finden häufig Jesu Anklage gegen ein Gesetz, das um des Gesetzes Willen pharisäisch eingehalten wird, aber den einzelnen Menschen dabei aus dem Auge verliert. Damit stellt sich Bischof Bonny also einerseits (scheinbar!) in beste Gesellschaft, dennoch bin ich der Meinung, dass er dabei andererseits Entscheidendes vergisst.
Was ist entscheidend? Die ersten Worte aus dem Mund Jesu im Markusevangelium enthalten verdichtet den inneren Sinn und das Programm seines Kommens: "Die Zeit ist erfüllt. Das Reich Gottes ist nahe, bekehrt euch und glaubt an das Evangelium" (Mk 1,15) . Jesus selbst ist in Person die Erfüllung der Zeit und personifiziertes Reich Gottes. In seiner Nähe wird alles neu, alles heil. Die Menschen, denen er begegnet, werden in diese Nähe beständig eingeladen, sein Weg durch die Zeit ist begleitet von Wundern, Heilungen, Wohltaten für alle Menschen. So weit, so nah an den Argumenten des Bischofs von Antwerpen.
„Ja, Jesus holt uns dort ab, wo wir stehen, aber er will nicht, dass wir dort stehen bleiben. Er liebt uns, wie wir sind, aber er will nicht, dass wir bleiben wie wir sind.“
Zugleich macht Jesus aber immer und immer wieder deutlich, dass von diesem Geschenk seiner Nähe ein Anspruch ausgeht: Man kann sich letztlich nicht von Ihm berühren und heilen lassen - und anschließend (!) in seiner Nähe bleiben, ohne seiner Aufforderung zur Bekehrung nachzukommen. Man kann nicht bei Ihm in seiner unermesslichen Liebe und unter ihrem Blick bleiben, ohne sich von seiner Wahrhaftigkeit, Majestät, Heiligkeit, Strenge, abgründigen Tiefe herausfordern zu lassen.
Ja, es ist so: solange er schöne Geschichten vom Reich erzählt und Brote für alle verteilt, laufen sie Ihm in Scharen nach. Aber je ausdrücklicher wird, wer Er wirklich ist, und dass es wirklich darum geht, sich für Ihn zu entscheiden, mehr noch, in die Bereitschaft zu finden, für Ihn sein Leben zu geben, desto mehr laufen nach und nach fast alle wieder davon - bis hin zu seinem unerträglichen Ende am Kreuz, bei dem er nahezu alleine war. Und wer nun argumentieren möchte, ich solle nicht beim Kreuz stehen bleiben, sondern Auferstehung und Pfingsten mitbedenken - dem würde ich antworten: Ja, genau! Im Grunde haben erst Auferstehung und Geistsendung diesen Anspruch des Herrn noch einmal für seine Jünger verdeutlicht und realisiert. Die ehemals feigen Jünger, die unter dem Kreuz noch davon gerannt sind, wurden in der verwandelnden Kraft Seines Geistes nach Pfingsten nun fast allesamt Menschen, die ihren Glauben mit ihrem Leben bezeugt haben.
Jesus lässt sich nicht gegen das Gesetz ausspielen
Das heißt aber im Blick auf unsere Fragen: Man kann die Größe dieser Liebe nicht von ihrer Wahrheitstiefe trennen, man kann nicht bei Ihm bleiben, ohne in einen Prozess der Verwandlung einzutreten und sich von Ihm umformen zu lassen. Und zwar in Menschen, die dem Gebot Gottes entsprechen wollen und können. Jesus holt eine verlorene Menschheit zurück in die Heiligkeit des Vaters, aber er macht zutiefst deutlich, dass Er uns zuerst erneuern muss in Menschen der Seligpreisungen, in Menschen mit reinen Herzen - ehe wir die Gegenwart seines Vaters überhaupt aushalten können.
Und das Problem der Argumentation von Bischof Bonny und vieler ähnlich lautender ist eben dies: Es wird aus meiner Sicht nicht mehr gesehen, dass das Gesetz nicht einfach Gesetz um des Gesetzes willen ist. Vielmehr hat Jesus, hat im Grund auch schon das Alte Testament deutlich gemacht, dass der Gesetzgeber Gott selbst ist. Jesus steht nicht einfach auf der Seite des Einzelnen gegen ein vermeintlich abstraktes Gesetz, Jesus ist vielmehr in Person die Versöhnung von Wahrheit und Liebe, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von unverfügbarer Heiligkeit und radikaler Nähe zu den Menschen. Er lässt sich nicht gegen das Gesetz ausspielen. Er ist selbst in Person das neue, das vertiefte Gesetz, das neue Gebot: Er schenkt eine Liebe unbedingt und ohne Vorleistung und jedem. Und ja, er wendet sich jedem Einzelnen sehr persönlich zu.
Aber das Stehen Jesu ganz auf der Seite des Einzelnen ist immer verbunden mit der Einladung, der Objektivität seiner Liebe zu antworten. Denn es ist eine Liebe, die nie und nimmer von Glanz ihrer Wahrheit zu trennen ist. Und er lädt ein, sich auf diesen Weg der Heiligung, der Liebe, der Erneuerung einzulassen, damit wir in der Kraft seiner Gnade das unendliche Wahrheits- und Liebeslicht des Vaters als eigentliche Quelle des "Gesetzes" erkennen können - und damit zugleich den eigentlichen Ursprung unseres Gewissens und des mit dem Gewissen korrespondierenden Naturrechts. Oder anders gesagt: Alles Unheil, alle Trennung von Gott, kam durch den Ungehorsam gegen Gott in die Welt. Der Weg zurück zum Vater führt nur über einen Gehorsam aus Liebe in und mit und durch Christus.
Jesus liebt den Sünder, aber hasst die Sünde
Es hilft also nichts, immer wieder und vor allem immer nur all diejenigen Stellen des Evangeliums aufzuzählen, mit deren Hilfe sich die an Glaubensverlust leidende Kirche ihren netten Herrn Jesus so lange zurecht biegt, bis er endlich all den Situationen nicht mehr weh tut, die nach dem Zeugnis der Schrift trotzdem hartnäckig Sünde genannt werden. Und ja, Jesus liebt den Sünder, aber er und sein Vater hassen die Sünde! Und es hilft deshalb auch nichts, all die Stellen zu eliminieren oder nicht mehr zu nennen, in denen Jesus uns alle in ein entschiedenes Ja zu sich und zur Treue zu Ihm ruft, oder diejenigen, in denen er uns als Richter vor Augen gestellt wird. Ja, Jesus holt uns dort ab, wo wir stehen, aber er will nicht, dass wir dort stehen bleiben. Er liebt uns, wie wir sind, aber er will nicht, dass wir bleiben wie wir sind.
Etwas vereinfacht gesagt: die Taufe ist das Eingangssakrament der Zugehörigkeit zu Ihm, zu Seiner Kirche, die Eucharistie aber bezeugt, dass wir auch bereit sind, mit Ihm unter dem Kreuz zu stehen und sie stärkt uns immer neu in der Befähigung dazu.
Es ist richtig: Der Weg Jesu zu den Menschen hin entspricht einem neuen Verständnis, gleichsam einer Individualisierung, besser Personalisierung des Gesetzes (und in diesem (!) Sinn einer "Subjektivierung"), aber der Weg der Heiligung ist der Weg eben von dort zurück in die "Objektivität", besser: in die Nähe des Vaters. Und heute mangelt es theologisch aus meiner Sicht nicht so sehr an Positionen, die die Wende zum Subjektiven betonen. Davon haben wir mehr als ausreichend. Und wir haben tatsächlich auch von ihnen gelernt. Heute mangelt es aber vielmehr an denjenigen, die die Notwendigkeit unserer Rückkehr zum Vater als Heiligung (und eben in diesem Sinn als "Objektivierung") deutlich machen.
Wir vergessen einfach zu gern, dass die Offenbarung des barmherzigen Jesus das ungeliebte Gesetz nicht einfach abgeschafft hat, sondern dass er uns vielmehr gezeigt hat, dass es dahinter einen Gesetzgeber gibt, der uns abgrundtief liebt. Und der uns manche Strenge des Gesetzes genau deshalb zumutet, damit wir lernen, diese Liebe angemessen zu beantworten; wie ein guter Vater, der eben aus Liebe bisweilen streng sein muss mit seinen Kindern. Immer wieder gilt: Gott will uns erlösen, alle! Aber Erlösung ist kein Selbstläufer und sie findet nach dem überwältigenden Zeugnis der Schrift nicht ohne unsere Bekehrung statt. Und soweit ich sehe, ist von Bekehrung in dem intensiven Text von Bischof Bonny an gar keiner Stelle mehr die Rede.
Von Stefan Oster