Misereor-Chef Spiegel: Bleibt Putin Präsident, haben wir ein Problem
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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer und Vorstandsvorsitzender des katholischen Hilfswerks für Entwicklungszusammenarbeit Misereor. Als Experte für humanitäre Vernetzung stellt er sich den Fragen: Welche Katastrophen folgen aus dem Krieg auf ukrainischem Boden? Was gibt in Ratlosigkeit und Ohnmacht Hoffnung? Ein Gespräch über Menschen, die aus Nächstenliebe helfen, die Fastenaktion des Hilfswerks und Spiegels Lebenszeit in Lateinamerika.
Frage: Sie sind ganz genau zehn Jahre Hauptgeschäftsführer von Misereor, seit 2012. Wie geht es Ihnen aktuell damit, dass Sie jetzt zehn Jahre da sind – und in der Situation, die wir im Moment in der Welt haben?
Spiegel: Es ist in der Tat so: Ende März, Anfang April vor zehn Jahren habe ich den Dienst, die Arbeit hier bei Misereor begonnen. Ich kannte natürlich Misereor schon vorher durch Projektarbeit und durch die Gemeindearbeit in Deutschland in der Diözese Speyer. Die letzten zehn Jahre waren für mich vor allen Dingen Erweiterung von Horizonten, andere Kontinente kennenlernen, andere Kontinente verstehen und den Pulsschlag der Menschen begreifen lernen. Ich habe in den zehn Jahren gelernt, dass wir eine globale Verantwortungsgemeinschaft weltweit bilden. Ich habe ganz fantastische und tolle Begegnungen mit Menschen, mit Partnerorganisationen in verschiedensten Ländern der Erde, die mich sehr bestärken in dem Dienst, den ich hier tue.
Und momentan durch den Krieg in der Ukraine versuchen wir eine neue Perspektive kennenzulernen. In den letzten zehn oder 15 Jahren, eigentlich seit dem 11. September 2001, ist ja immer alle drei bis vier Jahre eine neue Krise auf die Tagesordnung gekommen: Terror, Finanzen, Flucht, Klima, Corona – jetzt der Krieg. Und der Krieg in der Ukraine betrifft uns in besonderer Weise. Wir sind dabei, zu verstehen, warum uns dieser Krieg näher geht und mehr zu berühren scheint als andere Kriege, die zeitgleich in dieser Welt geschehen.
Frage: Sie haben schon gesagt, wir sind in einer globalen Verantwortungsgesellschaft. Unser Leben hat sich immer weiter globalisiert in den letzten Jahren. Sie haben da einen besonderen Blick drauf, weil Sie für mehrere Jahre in Brasilien missioniert haben. Nimmt Sie diese Zeit auch mit in das, was Sie heute machen?
Spiegel: Ich habe 15 Jahre in Brasilien und in Lateinamerika gearbeitet und gelebt in der Großregion Amazoniens. Das hat mich sehr geprägt. Ich war einer der Menschen, die Ende 2019 an der Amazonas-Synode teilnehmen konnten. Da lernte ich, neu zuzuhören, besonders den Vertretern und Vertreterinnen der indigenen Völker. Amazonien ist für mich ein Spiegel der Menschheit im Gesamten. Wir haben während der Amazonas-Konferenz den Begriff polyforme (vielgestaltige) Harmonie kennengelernt. Wie geht Vielfalt und dennoch einheitlich unterwegs zu sein? Von daher hat mich die Arbeit in Brasilien, die Begegnung mit den Menschen gelehrt, anders auf diese Welt zu sehen. Lassen Sie mich ein ganz kleines Beispiel sagen: Schon der Unterschied, wenn die Möglichkeit bestand, im Nordosten Brasiliens, wo ich lebte, Nachrichten zu schauen: Da war Europa auf der Weltkarte rechts oben irgendwo, während Lateinamerika im Zentrum stand. Und mit dieser anderen Perspektive auf die Welt zu schauen, hat mich geprägt, je länger ich in Südamerika gelebt habe.
Ukraine und Klimawandel – Misereor-Spendenaktion eröffnet
Nicht nur, aber auch in der Ukraine brauchen Menschen Hilfe – für sie sammelt das Hilfswerk Misereor ab heute wieder Spenden im Rahmen seiner Fastenaktion. Dabei stehen in diesem Jahr zwei besondere Länder im Mittelpunkt.
Frage: Bei Misereor geht es um Entwicklungszusammenarbeit von der katholischen Kirche, aber ja nicht nur für katholische, gläubige Menschen, oder?
Spiegel: Misereor wurde 1958 gegründet von Laienorganisationen, vom Zentralkomitee, von der Bischofskonferenz und war eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg. Die Inspiration noch vier, fünf Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil war die, dass Leute gesagt haben: So wie uns ein Beitrag geleistet wurde zum Aufbauen, zum Respekt, zum Wiedererlangen von Würde nach dem Zweiten Weltkrieg, so wollen wir einen Beitrag leisten für Menschen in anderen Kontinenten. Die Überschrift, die gesetzt wurde, war gegen Hunger und Krankheit und deren Ursachen, unabhängig von Religionszugehörigkeit, unabhängig von der Ethnie, unabhängig von Hautfarbe, unabhängig vom Geschlecht. Der Mensch steht im Mittelpunkt.
Und diese Arbeit von Misereor hat sich noch weiterentwickelt. Der Mensch und die Schöpfung stehen im Mittelpunkt: Den Schrei der Erde und den Schrei der Menschen hören. In Lateinamerika erinnerte mich das an den wunderbaren Satz "Arm in Arm mit den Armen gegen die Armut unterwegs zu sein". Eine sinnstiftende Option auf diesem Weg in unserer Welt – sich zu verbünden und sich einzumischen.
Frage: An vielen Orten auf der Welt gibt es Leid und schreckliche Situationen, in denen Menschen leben. Es kann nicht das Anliegen eines Hilfswerks sein, Schicksale von Menschen gegeneinander auszuspielen. Trotzdem beklagen Sie einen Rückgang der Spenden für Ihre Anliegen von Misereor, während die Hilfsbereitschaft für Ukrainerinnen und Ukrainer aktuell groß ist. Wie kann man damit umgehen?
Spiegel: Wir beklagen bei Misereor nicht direkt die Situation des Spendeneingangs. An erster Stelle sind wir sehr dankbar für die erlebte Solidarität, dafür, dass wir erleben, dass das Herz berührt und gehandelt wird in der Kriegssituation mit der Ukraine.
Zwei Punkte hierzu: Einmal verurteilen wir diesen Krieg, diese Invasion. Er widerspricht und ignoriert völkerrechtliche Abkommen, die Charta der Vereinten Nationen, europäische Abkommen. Wir spüren ein neues imperiales Denken in Europa. Misereor hat aufgrund der geschichtlichen Entwicklung nicht eigene Projektpartner in der Ukraine, sondern Renovabis und Caritas International sind die beiden Partnerorganisationen in unserer Kirche. Die Spendeneingänge, auch die Spendeneingänge, zu denen über die ARD medial aufgerufen wird, leiten wir direkt weiter an Renovabis und Caritas International. Für uns ist das selbstverständlich, weil wie Sie sagen, das Leid nicht gegeneinander ausgespielt werden soll.
Frage: Das heißt aber auch, man gönnt sich als Hilfsorganisation gegenseitig schon was.
Spiegel: Ja, wir sind keine Konkurrenten. Bei uns steht in allen Werken die Vulnerabilität von Menschen, die Vulnerabilität unseres Planeten im Zentrum. Und da wir jetzt, wie gesagt, keine Partner in Osteuropa und in der Ukraine haben, ist es selbstverständlich, dass wir die Spendeneinnahmen an die Partner in Deutschland, Renovabis und Caritas Internationalis, weiterleiten. Wir bekommen auch Direktspenden an Misereor, weil Leute sagen: Solidarität geht – eine unserer Aktionen während der Fastenzeit. Wir gehen in Solidarität für Menschen in der Ukraine. Und auch da leiten wir mit Freude eigentlich diese Spenden direkt weiter an die beiden genannten Werke.
Wo wir momentan dran sind: Verschiedene Ordensgemeinschaften fragen uns, ob wir einen Beitrag leisten können für Flüchtende, die von der Ukraine ankommen. Die Orden sind da sehr engagiert in der Bundesrepublik Deutschland – Don Bosco, Jesuiten. Da ist es durchaus möglich, dass wir in Kürze in Verbindung treten werden und dann Fluchtsituationen hier unterstützen: für Traumabewältigung, für Care-Pakete, für Bildungsmöglichkeiten. Da sind wir uns momentan im Absprechen, wie wir gezielt Menschen, die in Not geraten sind, helfen können und für ihren aufrechten Gang einen Beitrag leisten können.
Frage: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine beschäftigt uns alle in verschiedener Weise. Jetzt kommt sehr viel Weizen aus Russland und der Ukraine unter anderem. Die Länder gehören zu den größten Exporteuren für den arabischen und afrikanischen Raum. Befürchten Sie also gleich die nächste Katastrophe?
Spiegel: Wir befürchten eine Katastrophe, ja. In vielen Ländern im Nahen Osten, in Ländern Afrikas, ist die Situation aufgrund der Corona-Pandemie nach wie vor sehr fragil. Die Hungerzahlen weltweit stiegen von etwa 690 Millionen Hungernden auf 811 Millionen – bedingt durch die Corona-Pandemie. Und der Hunger, der entstanden ist, besonders bei all den Menschen, die im informellen Sektor unterwegs sind, und die Zahlen, die wir bisher haben, ist, dass durchaus fast eine Milliarde Menschen hungern könnten – und das von 7,9 Milliarden, die auf der Erde leben. Das heißt, der Krieg in der Ukraine, die völkerrechtswidrige Invasion Russlands und Putins hat Folgen weit über den geografischen Ort der Ukraine hinaus, aufgrund der Weizenkammer, der Kornkammer, die die Ukraine darstellt. Wir sind mit Partnern im Kontakt, die sich bereits melden.
Besonders in Ägypten gehört das Brot, was übersetzt auf Deutsch "Leben" heißt in Ägypten, auf jeden Tisch. Wir sind in Sorge, dass nicht nur gehungert wird, sondern dass durch Fehlen von Nahrung, durch Fehlen von Brot auch Konfliktivität, neue Vulnerabilität und Unruhen entstehen könnten. Es gibt sehr viele Zusammenhänge, die Ukraine und Russland sind Weizenkammern und Kornkammern Europas und der Welt. Der Libanon zum Beispiel hat 60 Prozent des Getreides von der Ukraine. Wir hören in Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas, wie der Hunger zunimmt, weil die Getreide-Exporte von diesen beiden Ländern nicht mehr weitergeführt werden können, weil in der Ukraine die Aussaat für den Sommer nicht stattfinden kann. Wir sind sehr besorgt, dass der Hunger zunehmen wird. Das ist eine Dimension.
Die andere Dimension: Wir erhalten in Deutschland, in Europa Gaslieferungen und Öllieferungen besonders von Russland – fossile Energien. Und wir wissen, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht so vonstattengegangen ist in den letzten Jahren wie gewünscht. Und auch da die Frage: Wird jetzt ein fossiler Energieeinkauf wachsen und damit das notwendige Angehen gegen die Klimaveränderung, also gegen die Erderhitzung auf die lange Bank geschoben werden? Da sind wir jetzt sehr besorgt und versuchen, diese Zusammenhänge ins Zentrum der Arbeit zu stellen. Ebenso bitten wir darum, die Leidenssituation zum Beispiel in Afghanistan nicht zu vergessen. Millionen von Kindern hungern. Wir haben von unseren Partnerorganisationen die Mitteilungen, dass fast 90 Prozent der Bevölkerung nicht dreimal am Tag essen können. Das sind dramatische Situationen, die von der medialen Tagesordnung verschwunden sind. Wir versuchen, sie präsent zu halten, um zu zeigen, dass das Leid, das – wie Sie sagten, unteilbar ist –, mit gesehen werden muss.
Ähnlich in Venezuela: Weit über eine Million Menschen sind in die Nachbarländer Lateinamerikas geflohen aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Situation in Venezuela. Und so geht es weiter. Wir wollen zeigen, dass da eine Wachsamkeit vonnöten ist, andere Krisenherde, die zum Teil zusammenhängen mit dem Krieg in der Ukraine, nicht aus dem Blick zu verlieren.
Frage: Sie erleben tagtäglich diese ganz unterschiedlichen Konfliktherde auf der ganzen Welt durch Ihre Arbeit, jetzt auch schon seit über zehn Jahren. Wie nahe gehen Ihnen die Schicksale der Menschen, die Sie unterstützen, und Ihrer Partner vor Ort, wenn Sie sich jeden Tag damit auseinandersetzen?
Spiegel: Ich bin ein Mensch, der nicht so leicht abschalten kann. Wenn ich aus der Geschäftsstelle hier an der Mozartstraße in Aachen rausgehe und in meine Wohnung gehe, nehme ich diese Fragen mit. Ich habe die Gesichter vor mir. Jetzt zum Beispiel ganz konkret Bilder aus der Ukraine, die wir auch in den Impulsen während der Fastenzeit zeigen werden, wobei wir die Würde der Menschen und ihren zivilen Widerstand zeigen wollen und ins Zentrum stellen.
In den letzten Tagen war ich mit Paula Fernandez, einer Bauingenieurin von den Philippinen, unterwegs. Was sie mir erzählt hat, was der Meeresspiegelanstieg und die Erderhitzung für Konsequenzen hat für die vulnerablen Menschen, die an den Küsten der Philippinen wohnen, besonders in Cebu City, einer der großen Städte, dann geht mir das hier nach und ich nehme das auch mit in den Schlaf. Das ist für mich auch eine besondere Art, ganzheitlich mit Menschen verbunden zu sein, die Teil der Geschichte Misereors sind und die eigentlich im Zentrum der Aktion stehen, weil wir ihnen Räume ermöglichen wollen zu sprechen, zu erzählen, aber auch positive Geschichten des Gelingens zu erzählen. Dass wir nicht mit gekreuzten Armen dastehen, sondern dass es möglich ist, eine andere Wirklichkeit zu zimmern. Heute, also nicht nur für die Enkel und für die Enkelinnen, sondern dass heute bereits Möglichkeiten bestehen, einzugreifen und sich einzumischen. Deshalb haben wir auch das Thema der diesjährigen Fastenaktion gewählt: "Es geht! Gerecht." Und gerechter. Dazu wollen wir einen Beitrag leisten mit unseren Partnern weltweit.
„Angenommen, der russische Präsident wird nach diesem Krieg an der Macht bleiben. Wie soll mit ihm vertrauensvoll verhandelt werden? Wie sollen Vertrauensbeziehungen neu aufgebaut werden?“
Frage: Jetzt gibt es natürlich viele Geschichten und auch Menschen, an die Sie sich in dieser Zeit, in der Sie für Misereor arbeiten, erinnern. Aber Sie haben auch von positiven Beispielen gesprochen. Das sind sicherlich die, die Sie weitermachen lassen. Können Sie ein solches positives Beispiel nennen und davon erzählen?
Spiegel: Ich erzähle von der Paula Fernandez, von der ich gerade sprach, Bauingenieurin auf den Philippinen in Cebu City. Sie haben festgestellt, dass einmal durch die Aussaat und das Setzen von Mangroven Fluten ihre Macht verlieren. Dass durch das Bauen von Häusern aus Bambus dieser Wasser aufsaugt und die Überschwemmungen nicht in der Dramatik Leid verursachen im Vergleich zur üblichen, traditionellen Bauweise. Und solche Erzählungen, die betroffene Menschen selbst entwickeln durch ihre Kreativität, durch ihre Resilienz, ihre Widerstandskraft und Widerstandsfähigkeit, die sie haben, das ermutigt uns sehr. Oder auch Geschichten des Gelingens hier bei uns in der Bundesrepublik zu entdecken. Und so sind wir unterwegs in diesen Tagen und Wochen, um in Schulen und Universitäten, in Eine-Welt-Läden, in Gemeinden zu erzählen von positiven Geschichten des Gelingens, um zu ermutigen: Es geht anders und es geht gerecht.
Frage: Eine Ihrer großen Aktionen ist jedes Jahr in der Fastenzeit. Die Fastenaktion in diesem Jahr heißt: "Es geht! Gerecht." In diesem Jahr konnte man mit Ihnen gemeinsam live kochen, das war ein Bestandteil. Zusammen mit dem Fernseh- und Sternekoch Björn Freitag. Eine leckere Art und Weise, darauf aufmerksam zu machen. Wie war die Erfahrung für Sie?
Spiegel: Es war wie im letzten Jahr ebenso eine wunderbare Erfahrung, an einem Herd zu stehen, gemeinsam vorzubereiten, gemeinsam zu kochen, über Ernährung zu sprechen, Neues zu lernen, Lebenshaltungen anzudenken und Kompetenzen zu erhalten von den Fragen, die reinkamen über den Chat und von Björn Freitag selbst. Ich freue mich bereits jetzt auf das nächste Jahr, wo wir wieder gemeinsam vereinbart haben, zu kochen. Wir kochen auch immer Gerichte, die was mit dem Land zu tun haben, das wir ins Zentrum stellen – und zeigen damit die Vielfalt an Möglichkeiten und die Vielfalt an Kreativität und an Verbindung von Gemüse, von Salaten, Gerichte herzustellen. Mich hat das erneut sehr bewegt und es war eine sehr schöne, gemeinsame und vertrauensvolle Erfahrung.
Frage: Sie haben davon gesprochen, dass Misereor die Antwort auf den Zweiten Weltkrieg ist. Jetzt stehen wir wieder unmittelbar vor einer Kriegssituation bei uns in Europa und Sie suchen nach der Antwort, wie uns jetzt dieser Krieg beschäftigt und auch weiterhin berühren wird. Haben Sie schon einen Ansatz, eine Antwort?
Spiegel: Wir haben im Verbund mit anderen kirchlichen und zivilen Nichtregierungsorganisationen eine gewisse Ratlosigkeit, weil wir eigentlich nicht wissen, wie es weitergeht. Angenommen, der russische Präsident wird nach diesem Krieg an der Macht bleiben. Wie soll mit ihm vertrauensvoll verhandelt werden? Wie sollen Vertrauensbeziehungen neu aufgebaut werden? Wie viele der Millionen Flüchtlinge, die in der Ukraine unterwegs sind, können wieder in ihre Heimat zurück, weil das ihr Zuhause, ihre Identität, ihre Heimat ist? Wie können wir die großen Ziele, die die Vereinten Nationen geplant haben, dass niemand zurückbleiben möge auf dieser Erde, wie können wir dies erreichen, wenn Dialog nicht mehr zu Ergebnissen führt?
Was wir wissen und was uns vom Evangelium und von der christlichen Lebenshaltung her wichtig ist, ist, dass wir nicht versuchen, Hass mit Hass zu beantworten, dass Hass nicht mit Rachegefühlen eingesetzt werden kann, sondern dass wir im Krieg, der in Europa herrscht, suchen, welche Friedenswege sich anbieten. Wir sind überzeugt, dass der Krieg keine Gewinner, sondern nur Verlierer hat. Verlierer sind die Menschen in der Ukraine. Verlierer sind die Menschen in Russland, Verlierer und Verliererinnen sind Europäer und die gesamte Weltgemeinschaft, weil Hunger zunehmen wird, weil bisherige Dialogformate, in denen es auch sehr ungerecht und hierarchisch zuging, scheinen, noch weiter zurückgeworfen zu werden.
Insofern sind wir mit Partnern im Überlegen und im Suchen: Gibt es zivile Antwortmöglichkeiten, Frauen und Männer, die sich gegen Panzer stellen, die in die Städte der Ukraine eindringen? Großmütter in Russland, die sagen, "Wir wollen unsere Enkel nicht als tote Soldaten zurückerhalten"? Eine Frau, die im russischen Fernsehen gegen den Krieg demonstriert. Ja, wie können wir Sprachrohr sein für diese Erfahrungen zivilen Widerstandes gegen diesen Krieg?
Es ginge auch anders: Nutzen wir die Expertise der Friedensforschung!
Im Verteidigungskampf der Ukraine liefern die westlichen Mächte neben Hilfsgütern auch Waffen – für den Theologen Egon Spiegel keine alternativlose Entscheidung. In seinem Gastbeitrag erinnert er an die Erkenntnisse der Friedensforschung und plädiert für eine entschiedene Wende zur Gewaltlosigkeit.
Frage: Und wenn man diese Bilder sieht und von diesen Berichten hört, wünscht man sich umso mehr den Frieden – und zwar weltweit. Frieden und diese Problematiken wie Überschwemmungen, Dürren und damit natürlich auch Hungersnöte gehen aber einher. Wie können wir da den Frieden erreichen?
Spiegel: Mir helfen da sehr die Worte von Papst Franziskus in seinen Enzykliken und in seinen Verlautbarungen, wenn er sagt: Gott hat sich auf die Seite der Menschen geschlagen. Wenn er sagt: Unsere Kirche soll keine abgeriegelte Festung werden, sondern eher eine Art Feldlazarett, um Verwundete aufzunehmen, unabhängig von Nationalität, von Geschlecht, welcher Religion Menschen zugehören. Wenn er von einer universalen Geschwisterlichkeit redet und sagt, die große Vision ist, dass alle Menschen am Tisch Platz haben und niemand von den Brotkrümeln essen und leben muss, die vom Tisch fallen, dass alle in Würde leben können.
Manchmal denke ich, solche Kriegssituationen, Hungersituationen entfernen uns von dieser Vision, von dieser Utopie, von diesem Traum. Dennoch ermutigen sehr viele positive Erfahrungen, auf dieser Linie weiterzudenken und Bündnispartner, Bündnisse, Organisationen zu suchen, die diesem Traum bereits jetzt ein Gesicht geben wollen. Aber Sie haben recht, die gegenwärtige Wirklichkeit und die Ratlosigkeit, die schmerzt, die ist herzzerreißend, weil nicht planbar zu sein scheint, wie es weitergeht.
Und dennoch spüren wir, dass ein sehr großer Teil der Menschen spendet, Flüchtlinge aufnimmt, auch in die Privatwohnungen aufnimmt. Der Ohnmacht der Ratlosigkeit wird begegnet durch ganz konkretes Handeln – als Christ würde ich sagen, als Zeichen der Nächstenliebe, dass etwas anders möglich ist. Das manifestiert sich und wird deutlich gemacht. Das sind Zeichen der Hoffnung inmitten des Krieges und inmitten des Schmerzes.
Frage: Wir als Christen befinden uns mitten in der Fastenzeit, gehen auf Ostern zu. Herr Spiegel, was ist Ihre persönliche Hoffnung – wenn wir jetzt schon über so viel Leid gesprochen haben?
Spiegel: Hoffnung ist für mich das, was wir tun bei Misereor mit vielen anderen Menschen in den Gemeinden, in unserer Gesellschaft. Ich habe die Gewissheit, dass es sinnstiftend ist, für Frieden, für eine größere Gerechtigkeit, für Respekt und Menschenwürde unterwegs zu sein. Diese Sinnhaftigkeit hat etwas zu tun mit unserem Glauben, dass sich Gott auf die Seite der Menschen geschlagen hat, dass der Tod und das Leiden nicht das letzte Wort auf dieser Welt haben können und haben werden, sondern dass diese andere Wirklichkeit, die wir "Himmel" nennen – und der Podcast hat ja den Namen Himmelklar – uns hilft, diese Vision, diese Suche, diese Sehnsucht nicht aus dem Herzen zu verlieren.
Für mich persönlich ist eine große Bestärkung, dass ich über die Arbeit bei Misereor die Möglichkeiten und auch das Privileg habe, neben den Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle weltweit Menschen kennenzulernen und zu erleben, die für diese Hoffnung brennen, die dieser Hoffnung ein Gesicht geben und sie umsetzen. Das ermutigt mich, weiterzugehen.
Zwei Jahre Podcast "Himmelklar"
Der überdiözesane Podcast "Himmelklar – Fürchtet euch nicht" aus der katholischen Welt feiert zwei Jahre nach Start 79.000 Hörer, 63.000 Abonnenten und 142 Folgen.
Was zu Beginn der Corona-Pandemie im April 2020 innerhalb weniger Tage als Pilot-Projekt entstand, um Trost, Sicherheit und Hoffnung in einer Phase weltweiten Umsturzes zu schenken, ist heute zu einem etablierten Medium der katholischen Kirche geworden. Eine auditive Erfolgsgeschichte, mit der es gelungen ist, auch über kirchliche Grenzen hinaus zu kommunizieren und ein zeitgenössisches und modernes Sprachrohr zur Verkündigung der Frohen Botschaft entstehen zu lassen.
Spitzenpolitiker wie Armin Laschet, Philipp Amthor, Michael Kretschmer oder Katarina Barley und Medienhochkaräter wie Dunya Hayali, Dr. Eckert von Hirschhausen, Erik Flügge oder Sarah Wiener finden sich ebenso unter den bisherigen Podcast-Gästen wie 18 (Erz-)Bischöfe, darunter der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing, Ludwig Schick, Heiner Koch oder Kardinal Rainer Maria Woelki.