Ein Denkanstoß zu gelebter Marienverehrung

Maria muss wieder menschlicher werden

Veröffentlicht am 28.05.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Einst konnte man von Maria nicht genug bekommen: Sie wurde immer mehr vergöttlicht und mit himmlischen Attributen versehen. Doch einer zeitgemäßen Marienverehrung tut es gut, die menschliche Seite von Maria wiederzuentdecken. So wird es möglich, sie als Weggefährtin zu betrachten.

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"De Maria numquam satis – Von Maria kann niemals genug sein", so lautete ein Schlagwort, das man häufig mit dem sogenannten "marianischen Zeitalter" in Verbindung brachte. Dieses Zeitalter lässt sich grob durch zwei Dogmen bestimmen: 1854 erfolgte die Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens und 1950 die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Diese knapp hundert Jahre waren vor allem durch eine starke Marienfrömmigkeit geprägt. Nicht nur, dass traditionelle Marienwallfahrten wiederentdeckt wurden, es entstanden zahlreiche Gebete und Lieder, die Maria ehrten, und der Rosenkranz avancierten zum privaten Frömmigkeitsausdruck par excellence. Freilich ist diese starke Marienfrömmigkeit nur im Zusammenhang zu verstehen: Die 1830er und 1840er Jahre waren die Jahre der ausgehenden Aufklärung und damit verbunden auch das Ende einer manchmal übertriebenen Nüchternheit. Vieles, was in den Jahrzehnten zuvor verboten war, blühte nun wieder auf und stärker als jemals zuvor. War die Aufklärung noch ein nüchternes Zeitalter, legte die Epoche der Romantik wieder großen Wert darauf, dass auch das Innere eines Menschen angesprochen, dass nicht nur sein Verstand, sondern auch sein Herz ergriffen wird.

Spuren einer heute vielen fremdgewordenen Marienfrömmigkeit

Die Zeit des "marianischen Zeitalters" ist jedenfalls lange schon Geschichte. Und auch die Epochen haben sich gewandelt: Der mitunter übertriebene Gefühlsausdruck der Romantiker ist manchen Zeitgenossen heute fremd geworden. Was geblieben ist, ist die Verehrung Mariens, die bis heute in unterschiedlichen Formen ihren Ausdruck findet. Im Mai versammeln sich viele Gläubige zu den Maiandachten, der Oktober ist besonders durch das Rosenkranzgebet geprägt. Und im Jahreslauf feiert die Kirche zahlreiche Marienfeste: Die Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August, die Geburt Mariens am 08. September, das Gedächtnis der Sieben Schmerzen Mariens am 15. September und so weiter. In manchen Gegenden ist es auch üblich, am Ende der Eucharistiefeier die Gottesmutter mit einem Lied zu grüßen. Und dreimal am Tag läuten die Kirchenglocken und laden zum Angelus-Gebet ein, um daran zu erinnern, wie Maria zum Plan Gottes Ja gesagt hat und Gott so in unserer Welt Mensch geworden ist.

Ein Pfarrer segnet Kinder in Tracht mit Blumen an Mariä Himmelfahrt in der Kirche in Partenkirchen.
Bild: ©KNA

Bis heute in vielen Pfarreien sommerliche Tradition: die Kräuterweihe an "Mariä Himmelfahrt" im August.

Viele dieser Frömmigkeitsübungen muten heutzutage reichlich seltsam an. So sprechen viele Marienlieder eine Sprache, die uns heute fremd geworden ist: "Maria, dich lieben ist allzeit mein Sinn", heißt es da. Oder: "Sie strahlt im Tugendkleide, kein Engel gleichet ihr; die Reinheit ihr Geschmeide, die Demut ihre Zier." Und im Klassiker aus der Feder der Konvertitin Cordula Wöhler singt man: "Segne du, Maria, segne mich, dein Kind, dass ich hier den Frieden, dort den Himmel find." Auch das Rosenkranzgebet ist eine Andachtsübung, die gar nicht mehr so recht in unsere Zeit zu passen scheint: Der Rosenkranz ist Ausdruck einer "gezählten Frömmigkeit" und damit in einer Epoche verhaftet, die heute längst vergessen ist. In der Zeit, in der das Rosenkranzgebet entstand, war es entschieden wichtig, möglichst viel und möglichst oft ein Gebet zu sprechen. Mit anderen Worten: Nicht die Qualität des Betens war entscheidend, sondern die Quantität. Es war die Zeit, in der die Ablässe blühten und die Gläubigen alles im Blick auf das Ende taten. Und um im Fegfeuer verschont zu werden, war es eben wichtig, möglichst viel getan zu haben. Der Rosenkranz ist ein Beispiel für eine solche "gezählte Frömmigkeit". Nicht nur einmal wird das "Ave Maria" gebetet, sondern dreiundfünfzigmal und das ist schon eine erhebliche Menge an Gebeten, die man beim Rosenkranz zusammensammelt.

Lautet die unvermeidbare Konsequenz daher, dass man von der Marienverehrung heute besser Abstand nehmen sollte, weil sie unserer Zeit und unserem Empfinden fremd geworden ist? Das wäre wohl der falsche Weg, denn noch immer gibt es viele Gläubige, die ihrer persönlichen Frömmigkeit mit den althergebrachten Gebeten und Liedern Ausdruck verleihen. Aber dennoch ist es nötig, die Verehrung der Gottesmutter auch einmal kritisch zu überdenken, von manchen überkommenen Texten Abschied zu nehmen und neue Formen zu entdecken.

Theologisch begründeter Korrekturbedarf?

Ein Motto für eine neue Form der Marienverehrung könnte lauten: "Niemals ohne Christus". Als Christen verehren wir Maria zwar, aber wir beten sie nicht an. Maria ist keine Göttin, sondern ein Mensch, wie alle Menschen. Und dennoch steht die Marienfrömmigkeit auch immer in der Gefahr, in eine solche Anbetung abzurutschen. Es bleibt ein wichtiges Anliegen, hier manchen Unbilden vorzubeugen. Wir beten nicht Maria an, sondern wir beten mit Maria Christus an, wir kommen mit Maria zu Christus. Das muss der Leitgedanke sein, der sich auch im Beten und Singen ausdrückt. Gerade manches beliebte Marienlied leidet aber gerade hier einen großen Mangel: So mag es zwar eine durchaus ergreifende Vorstellung sein, wenn Maria in der Todesstunde "süße Trostesworte" flüstert und dem Verstorbenen "das Aug zudrückt". Aber die christliche Hoffnung besteht darin, dass wir in der Todesstunde Christus, dem Auferstandenen, begegnen, dass er uns durch den Tod hindurch zum österlichen Leben führt. Salopp gesagt: Maria kann hier wenig bewirken, denn es ist Christus, der von den Toten auferstanden zur Rechten des Vaters erhöht ist. Er hat die Macht des Todes gebrochen, auf seinen Tod und seine Auferstehung werden Menschen getauft.

Eine solche Form der Marienfrömmigkeit ist keine Marienverehrung. Vielmehr wird Maria als Weggefährtin wahrgenommen, die den Menschen helfen kann, zu Christus zu finden. Maria ist eine von uns, sie ist Zeit ihres Lebens ein normaler Mensch geblieben. Dennoch wurde sie im Lauf der Jahrhunderte immer mehr "entmenschlicht". Man hat sie immer mehr auf einen hohen Sockel gehoben und wurde so für die normalen Menschen unerreichbar. "Strahlend im Tugendkleide" wird sie besungen. Und dabei wird allzu häufig vergessen, dass Maria so vieles erleben musste, was allzu menschlich ist. Das Fest der sieben Schmerzen Mariens erinnert daran, wie Maria so manches schmerzhafte Erlebnis durchleben musste. Aber sie hat auch Freude erlebt: die Freude über die Geburt ihres Sohnes, die Freude, diesen Sohn aufwachsen und großwerden zu sehen. Keine menschliche Erfahrung ist Maria fremd. Auch wenn im Lauf der vergangenen Zeiten versucht wurde, gerade diese menschliche Seite hinter einem Schleier aus Reinheit und Tugend zu verbergen, ist es wichtig, sie wieder neu zu entdecken.

Das Jesuskind und seine Mutter Maria im Tempel, wo ihn die Propheten Simeon und Hanna preisen.
Bild: ©Fotolia.com/Renáta Sedmáková

Die "Darstellung des Herrn" (Lk 2,21-40) auf einem Kirchenfenster: Die alten Propheten Simeon und Hanna erkennen und preisen den kleinen Jesus als Erlöser. Mit Blick auf die Kreuzigung ihres Sohnes sagt Simeon zu Maria: "Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen".

Das Menschliche an Maria kann helfen, sie als wirkliche Weggefährtin zu erkennen. Sie ist keine, die irgendwo abgehoben über allen sieben Himmel schwebt, ganz frei von allen menschlichen Gefühlen und Empfindungen. Vielmehr ist sie ein Mensch unter Menschen, aber eben ein Mensch, der sich ganz und gar auf Gott eingelassen hat. Der sich ihm und seinem Ratschluss anvertraut im Glauben daran, dass er alles zum Guten führt.

Das marianische Zeitalter ist längst vorbei. Und auch eine romantische Verklärung Mariens ist in weiten Teilen nicht mehr zeitgemäß. Gerade deshalb ist es wichtig, neue Formen der Marienfrömmigkeit zu etablieren. Eine Frömmigkeit, bei der Christus, der auferstandene Herr, die Mitte bildet. Und bei der Maria die Weggefährtin der Menschen ist, an deren Seite wir zu Christus gelangen. Dazu muss Maria nicht über die Maßen vergöttlich werden, ganz im Gegenteil: Viel hilfreicher ist es, sie wieder mehr zu vermenschlichen und das zu betonen, worin sie uns Menschen gleich ist. Dann ist sie wirklich ein Beispiel dafür, wie ein menschliches Leben gelingen kann, das ganz auf Gott setzt. Dann kann sie ein Vorbild sein, an dem man sich orientieren kann, dann ist sie "Schwester im Glauben" und Gefährtin auf diesem Weg durch das Leben.

Von Fabian Brand