Alt-katholischer Bischof Ring: Auch bei uns ist nicht alles bestens
Die alt-katholische Kirche entstand Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Ersten Vatikanischen Konzil in Abgrenzung zu den Papstdogmen der Unfehlbarkeit und des Jurisdiktionsprimats. Heute ist die Kirche viel eigenständiger geworden – anders als die römisch-katholische Kirche werden Frauen zu Priesterinnen geweiht, wiederverheiratete Geschiedene nicht von den Sakramenten ausgeschlossen und homosexuelle Paare gesegnet und getraut: Vieles, was reformorientierte römische Katholiken erhoffen, ist dort möglich – und tatsächlich kommt es vermehrt zu Übertritten, zuletzt kündigte der Speyerer Generalvikar Andreas Sturm mit seinem Rücktritt auch seine Konversion an. Doch den Alt-Katholiken geht es nicht darum, ihre römischen Geschwister abzuwerben. Im Interview mit katholisch.de betont der Bischof des alt-katholischen Bistums in Deutschland, Matthias Ring, dass die Krise in der Schwesterkirche auch ihm Sorge bereitet – und plädiert für eine entspanntere Ökumene.
Frage: Bischof Ring, bei der Synode des alt-katholischen Bistums haben Sie im vergangenen Jahr von einer ökumenischen Haftungsgemeinschaft angesichts der römisch-katholischen Kirchenkrise gesprochen. Was meinten Sie damit?
Ring: Wenn die römisch-katholische Kirche an Ansehen in der Gesellschaft verliert, dann verlieren alle Kirchen an Ansehen. Am Ende wird nicht ökumenisch-konfessionell differenziert. Da kommen viele verschiedene Prozesse zusammen: Wir haben eine zunehmende Säkularisierung, daneben der Vertrauensverlust in die Kirche an sich durch die Missbrauchsfälle und die nicht adäquate Aufarbeitung. Das alles wirkt so zusammen, dass auch wir das spüren werden. Ich nehme zum Beispiel wahr, je nach Region unterschiedlich, dass in der Politik, in den Kommunen, das Verständnis für kirchliche Anliegen unterschiedlich stark vorhanden ist und bisweilen zurückgeht.
Frage: Bei der alt-katholischen Kirche steigen die Beitrittszahlen. Ist das kein Grund zur Freude für Sie?
Ring: Zum einen bewegt sich das ganze in Dimensionen, die mit Blick auf die Austrittszahlen der großen Kirchen geradezu lächerlich sind. Wir hatten im letzten Jahr doppelt so viele Beitritte wie im Jahr zuvor, aber das heißt in absoluten Zahlen 380. Das sind für uns relativ viele neue Mitglieder, aber im Vergleich zu den über 200.000 Kirchenaustritten pro großer Konfession ist das sehr wenig. Das bedeutet: Fast alle, die austreten, treten ins kirchliche Niemandsland aus. Zum anderen glaube ich, dass das ein Phase ist, die wieder abebben wird. Mit Blick auf die weitere Entwicklung ist für uns das Thema Kirche in der säkularen Gesellschaft deshalb zunehmend wichtig.
Frage: Inwiefern?
Ring: Bislang und vor allem jetzt gerade ist es so, dass überwiegend Menschen mit einem kirchlichen Hintergrund zu uns kommen, überwiegend einem römisch-katholischen. Aber das wird immer weniger der Fall sein. Das ist ein "Zwischenhoch". Schon jetzt kommen Menschen in unsere Gemeinden ohne kirchliche Sozialisation. Wir stellen uns deshalb die Frage, wie wir vom Glauben sprechen und Menschen für den Glauben begeistern können, die davon noch nichts gehört haben.
Frage: In der römisch-katholischen Kirche scheinen zunehmend auch Menschen enttäuscht zu sein, die jahrelang die Gemeinden mit ihrem Engagement getragen haben, die in Verbänden aktiv waren. Kommen diese Menschen bei Ihnen an?
Ring: Pfarrerinnen und Pfarrer erzählen mir, dass sich das Beitrittsprofil verändert hat. In der Vergangenheit waren das oft Menschen, die über Jahre hin zu ihrer angestammten Konfession keinen Kontakt mehr hatten, die vielleicht in der Mitte des Lebens stehen und sich neu die Frage nach dem Sinn und nach Religion stellen, oder die im Kontext der Kindererziehung sich die Frage stellen, was sie ihrem Kind mitgeben wollen. Jetzt erleben wir es, dass wirklich Menschen aus der Mitte ihrer bisherigen Pfarrgemeinde kommen, die dort Lektoren waren, im Pfarrgemeinderat, aktiv in verschiedenen Vereinen, die dann sagen, es geht nicht mehr, wir können das nicht weiter unterstützen. Das ist eine relativ neue Entwicklung.
Frage: Was macht das mit den Gemeinden? Römisch-katholische und alt-katholische Pfarreien sind ja ganz anders strukturiert.
Ring: Ein Pfarrer sagte mir, er hofft, dass diejenigen, die zu uns kommen, nicht die alt-katholische Gemeindewirklichkeit an ihrer bisherigen römisch-katholischen messen. Wir haben Diaspora-Gemeinden, die sich über große Territorien erstrecken, so dass eine bestimmte Art von Gemeindeleben gar nicht möglich ist, wie es Menschen aus Konfessionen gewöhnt sind, in denen es noch volkskirchlichere Situationen gibt. Corona machte es auch eher schwer, dass sich Menschen in unseren Gemeinden beheimaten konnten. Das geht jetzt wieder besser, weil viel mehr wieder in Präsenz stattfindet, aber im letzten Jahr, als oft außer dem Gottesdienst keine gemeinsamen Veranstaltungen möglich waren, war es schwer, sich über den formalen Akt des Beitritts hinaus in einer alt-katholischen Gemeinde zu beheimaten. Es ist nicht ausgemacht, dass alle, die zu uns kommen, auch bleiben werden – so sehr ich auch hoffe, dass sie bleiben, und so sehr man sich in unseren Gemeinden bemüht, diese Menschen in dem Maße mit hineinzunehmen, wie sie es wollen.
Frage: Menschen, die ihre Konfession wechseln, bringen oft Verletzungen aus ihrer bisherigen Zugehörigkeit mit. Eine von Konvertiten geprägte Kirche kann daher auch eine von durch die Kirche verletzten Menschen geprägte Kirche sein. Wie geht man damit pastoral um?
Ring: Das ist kein neues Phänomen. Wir hatten immer Beitritte von Menschen, die mit einer Verletzungsgeschichte kamen. Aber die Art hat sich geändert: Das waren noch vor 30 Jahren vor allem Menschen, die geschieden und wiederverheiratet waren und dann in der römisch-katholischen Kirche erlebt haben, dass sie von den Sakramenten ausgeschlossen waren, oder Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung zu uns kommen. Heute kommen die Menschen, die aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit Reformen ihre bisherige Kirche verlassen. Beitritte aus einer Verletzungsgeschichte heraus haben schon immer unsere Kirche mitgeprägt. Es ist wichtig, dass man solche Beitritte auch gut begleitet. Wenn Menschen mit einer Verletzungsgeschichte zu uns kommen, dann kann es passieren, dass sie die alt-katholische Kirche idealisieren als die beste aller Kirchen, und dann erleben sie, dass es auch in dieser besten aller Kirchen Konflikte gibt, und dass nicht alles bestens ist. Deshalb sollte es dann wirklich einen Heilungsprozess geben. Ich sehe mit Sorge, wenn sich Menschen auch noch nach Jahren an ihrer römisch-katholischen Herkunftskirche abarbeiten. Für mich ist es auch persönlich wichtig gewesen, diesen Loslösungsprozess von der römisch-katholischen Kirche irgendwann abzuschließen und zu sagen: Ich kann auch das Gute sehen, das ich in dieser Zeit gelebt und erlebt habe.
Frage: Früher hat Ihr Bistum durchaus damit gespielt, sich als "bessere" katholische Kirche darzustellen – noch vor zehn Jahren wurden auf Kirchen- und Katholikentagen Taschen verteilt mit der Aufschrift "Verheiratete katholische Priesterin feiert ökumenisches Abendmahl – Fiktion? Realität!". Solche Spitzen sparen Sie sich jetzt?
Ring: Ja, und diese Taschen gibt es auch nicht mehr. Wir erleben es aber auch heute noch, dass von neu zu uns gekommenen Menschen gesagt wird, dass man gerade das betonen müsste. Schon „werbetechnisch“ – wenn ich es so ausdrücken darf – halte ich das für völlig falsch: Wenn ich ein neues Auto kaufe, will ich vom Autohändler doch nicht hören, dass meine bisherige Automarke Mist war. Das diskreditiert meine vorherige Entscheidung.
Man kann schon sagen, dass es in den letzten zehn, fünfzehn Jahren einen Prozess in unserer Kirche gegeben hat, in dem wir uns bewusst geworden sind, dass wir eine Kirche mit einem eigenen Profil. Vorher war eine gewisse Notkirchenekklesiologie vorherrschend: Wir existieren nur, weil es die Beschlüsse des Ersten Vatikanums gibt; wenn diese nicht mehr eingefordert werden, dann können wir uns wieder auflösen und wieder zurück in die römisch-katholische Kirche kommen. Das stand in ähnlichen Worten auch in unseren Ordnungen und Satzungen.
Frage: Was hat diesen Wandel bewirkt?
Ring: Das hängt zum Teil mit unserer Bischofskirche zusammen, der Namen-Jesu-Kirche in Bonn. Als uns diese Kirche angeboten wurde mit dem Hinweis, dass wir sie als Bischofskirche nutzen können, stellten wir uns Fragen: Brauchen wir so etwas? Was bedeutet das? Sind wir dann kein konfessionelles Provisorium mehr? Kann dieses Gebäude für uns als Kirche geistlicher Mittelpunkt sein? Eine Befürchtung war eine ungute Aufwertung des Bischofsamts. Im Rahmen dieses Prozesses veränderte sich auch unsere Öffentlichkeitsarbeit: weniger konfrontativ, wir verwenden jetzt den Slogan "Für alle. Fürs Leben. Deine Kirche". Dazu kommt, dass unsere Geistlichkeit von ihrem konfessionellen Hintergrund her bunter wird: Es gibt immer weniger ehemalige römisch-katholische Priester, die zu uns kommen. Dafür haben wir mehr Menschen, die römisch-katholische Theologie studiert haben, ohne Priester gewesen zu sein, und einige mit evangelischer Herkunft.
Frage: Wie wirkt sich das auf die Ökumene auf kirchenleitender Ebene aus? Wie sind Ihre Beziehungen zu den römisch-katholischen Bischöfen?
Ring: Auf dieser Ebene hat es sich entspannt. Zur evangelischen Kirche sind die Beziehungen ohnehin seit Jahrzehnten sehr gut, es gibt auch institutionalisierte Beziehungen, etwa eine Gesprächsgruppe mit der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, es gibt einen festen Turnus an gegenseitigen Einladungen. Mit der römisch-katholischen Kirche ist es atmosphärisch in vielen Bereichen besser geworden, aber es gibt immer noch relativ wenige Begegnungsmöglichkeiten. Ein ganz banales Beispiel: Erst seit ein paar Jahren werden wir auch von der Erzdiözese Köln zum Jahresempfang eingeladen. Das gab es zu Kardinal Meisners Zeiten nicht.
Insgesamt ist die Situation von Diözese zu Diözese unterschiedlich. Wir können häufig römisch-katholische Kirchen für Gottesdienste und sogar Priesterweihen nutzen. Insgesamt würde ich sagen: Das Verhältnis hat sich entspannt, aber von einer lebendigen Beziehung würde ich noch nicht sprechen. Es gibt vereinzelt Kooperationen, zum Beispiel mit dem Kindermissionswerk bei der Sternsingeraktion, aber da ist noch viel Luft nach oben.
Frage: Was ist ihre Vision für die Ökumene mit der römisch-katholischen Kirche?
Ring: Dass man zusammenarbeiten kann, ohne Angst zu haben, der eine könnte dem anderen etwas nehmen. Ich habe die Beitrittszahlen schon erwähnt. Es bewegt sich alles auf einem Niveau, das für die römisch-katholische Kirche nicht existenzgefährdend ist, und trotzdem habe ich manchmal den Eindruck, dass man große Angst vor uns hat. Ich wünsche mir auch, dass wir uns von unserer Seite aus angstfrei und vorurteilsfrei der römisch-katholischen Seite zuwenden. Das wäre eine Basis: Dass man nicht das Verhältnis aus den eigenen Verletzungen heraus definiert, sondern sieht: Das ist die große Schwester, eine Schwesterkirche und nicht der Feind.
Zur Person
Matthias Ring ist seit 2010 der zehnte Bischof des Katholischen Bistums der Alt-Katholiken in Deutschland. Der gebürtige Oberfranke studierte zunächst römisch-katholische Theologie und wurde 1989 zum Diakon und Priester in der alt-katholischen Kirche geweiht. Die Alt-Katholische Kirche in Deutschland entstand in den 1870er Jahren in Abgrenzung zu den Beschlüssen des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870) zur Unfehlbarkeit und zum Jurisdiktionsprimat des Papstes. Zum deutschen Bistum gehören gut 15.000 Mitglieder in 60 Pfarrgemeinden. Seit 2009 steht Matthias Ring dem Bistum als 10. Bischof vor. Die Kirchenordnung der alt-katholischen Kirche ist bischöflich-synodal.