Schritt für Schritt zur Emotion
Mit solchen lebendig anmutenden Motiven schuf Raffael, neben Leonardo da Vinci, Michelangelo und Dürer einer der großen Künstler der Neuzeit - eine neue Art der Darstellung, die die Kunst des Abendlandes entscheidend prägte. Seine Werke zeigen dynamische Schilderungen von Menschen und Handlungen und lösen damit die Aneinanderreihung statischer Situationen ab.
Positionen, Gesten Ausdrucksweisen
Einen tiefen und vielfältigen Einblick in die Arbeitsweise des 1483 in Urbino in Italien geborenen Künstlers ermöglicht nun die Graphische Sammlung des Frankfurter Städel Museums. Unter dem Titel "Raffael. Zeichnungen" zeigt die Ausstellung die Zeichenkunst Raffaels - erstmals in Deutschland. Die Schau präsentiert 48 Zeichnungen, darunter elf Blätter aus dem Bestand des Städel sowie Leihgaben von Sammlungen aus dem Ausland, so dem Musée du Louvre in Paris oder den Uffizien in Florenz. "Das Städel hat durch seine Sammlungsgeschichte den bedeutendsten Bestand an Raffael-Zeichnungen in Deutschland", sagt Martin Sonnabend, Leiter der Graphischen Sammlung. Gemeinsam mit Joachim Jacoby kuratierte er die Schau. Sie zeigt Kunstwerke, die der Öffentlichkeit bislang wenig bekannt sind. Denn die Zeichnungen müssten aus konservatorischen Gründen lichtgeschützt aufbewahrt werden, erläutert Sonnabend.
In vier thematische Ausstellungsblöcke übersichtlich aufgeteilt kann der Besucher anhand der Zeichnungen nachvollziehen, wie Raffael Ideen entwickelte, einzelne Details zu großen Kompositionen zusammenstellte und seine Vorstellungen an Werkstattmitarbeiter weitergab. So zeigen im ersten Teil der Ausstellung Studien für Maria mit dem Kind (1505/06) eindrucksvoll die Entwicklung von Bildgedanken. Mit Feder und Pinsel fein gezeichnet, verfolgt der Betrachter verschiedene Positionen, Gesten und Ausdrucksweisen der Figuren, mit denen sie sich körperlich und mimisch einander zuwenden. Spätere Zeichnungen lassen immer mehr Details erkennen, so die Kleidung der Figuren und einzelne Lichtstimmungen. "Bei den Studien zu den Madonnen mit dem Kind ist Raffaels Fähigkeit zur Empathie deutlich erkennbar", meint Sonnabend, "hierin liegt womöglich eine spezifisch christliche Besonderheit seiner Kunst." Diese sei katholisch, aber auch historisch-politisch, so der Kurator. "Raffael arbeitete für christliche, katholische Auftraggeber und hierbei an erster Stelle für den Papst. Und das genau in der Zeit, in der sich die Reformation ankündigte", erklärt Sonnabend.
Beeindruckende Dynamik
Widmet sich der erste Teil der Schau dem Maria-und-Kind-Motiv, zeigt der zweite Teil, wie Raffael abstrakte Ideen in Figurenfolgen veranschaulichte. So erlebt der Besucher das langsame "Heranwachsen" der Disputa (1508/09), das bekannte Fresko in der Stanza della Segnatura im Vatikanischen Palast. Figurengruppen und Bilddetails werden in den Zeichnungen nach und nach ausgearbeitet und bereichern so das Fresko. Raffaels Historienbilder sind Thema des dritten Ausstellungsbereiches, so der Bethlehemitische Kindermord (um 1510) oder Nackte Krieger im Kampf um eine Standarte (1505/06). Die Kampfszene spiegelt eine beeindruckende Dynamik wider. Ineinander verschlungen ringen, zerren und schlagen die Kämpfer aufeinander ein. Dabei zeichnet sich die Anstrengung in ihren angespannten Muskeln und starken Sehnen ab.
Schließlich bietet die Schau im letzten Teil einen Einblick in die systematische Planung und Gestaltung der Cappella Chigi in der römischen Kirche Santa Maria della Pace, deren Gesamtdekoration niemals vollendet wurde. Raffaels Zeichnungen zeigen, wie der Künstler räumliche Gegebenheiten sowie den Lichteinfall in der Kapelle bei seinen Entwürfen berücksichtigte. Informationen gibt darüber hinaus ein kurzer Film, der das komplexe Projekt verständlich erklärt. Ebenso hilfreich ist ein weiterer Film, der sich mit Raffaels Zeichentechnik befasst.
Wer Ruhe und Zeit für „Raffael. Zeichnungen“ mitbringt, lernt den Künstler, bekannt als Maler in Rom und Florenz sowie als Architekt des Petersdoms, unter einem neuen Blickwinkel kennen. Mehr: Die Schau weckt ein tiefes Verständnis für die Zeichenkunst.
Von Vanessa Renner