Stimmung im Kirchenraum
Majestätisch schweben die Töne der Hauptorgel durch den Kiliansdom. Während unten im Langhaus Handwerker Bänke schleppen, gehämmert, gesägt und geschraubt wird, erklingen satte Einzeltöne, dann harmonische Akkorde – und plötzlich ein empörtes Quieken. Es kommt von einer einzelnen Zungenpfeife, deren Ton Bernhard Althaus, Orgelbaumeister von der Firma Orgelbau Klais aus Bonn, aufgefallen ist und die er aus dem hölzernen Bänkchen gezogen hat.
Vor Althaus liegt ein Meer aus Hunderten von Orgelpfeifen – allein die Hauptorgel besteht aus 6654 Labial- und Zungenpfeifen. Weitere 1398 Pfeifen warten in der Chororgel darauf, gestimmt zu werden. Die Kleinsten passen leicht in eine Hand, während der Resonanzkörper der größten fast zehn Meter hoch ist. Die misstönende Zungenpfeife stammt aus dem "Trompeten"-Register, das dem Klang einer Trompete nachempfunden ist.
Mit raschen Handbewegungen zerlegt Althaus sie in ihre Einzelteile und zieht das Zungenblättchen heraus. Der ohnehin knappe Raum im Inneren der Orgel wird durch den großen Arbeitstisch noch enger, auf dem Althaus das Zungenblättchen nun mit einem Messer bearbeitet. "Johannes", ruft er nach unten in Richtung Spieltisch. "Ich habe jetzt wesentlich mehr Biegung gegeben. Sehen wir mal, was da jetzt rauskommt." Aus der Nähe klingt die Pfeife ohrenbetäubend laut. Althaus lauscht einige Sekunden mit halbgeschlossenen Augen und nickt zufrieden: "Besser, nicht?"
Zeitraubende Fitzelarbeit zum Wohle des Klangs
Mehr oder weniger Biegung im Zungenblatt – das ist nur eine von vielen Möglichkeiten, den Klang zu verändern. Bei manchen Pfeifen genügt es, wenn Althaus mit einem Stimmeisen leicht gegen die Stimmkrücke – einen dünnen, wie eine Krücke gebogenen Stab – schlägt und sie stimmt. An einem Schallbecher entdeckt Althaus ein winziges Loch. "Wer immer das da reingemacht hat, das mag ich nicht", murmelt er und markiert die Stelle mit einem Klebestreifen: "Da wird später gelötet." Manche Pfeifen müssen verlängert werden. "Durch die Löcher und das Kurzschneiden macht man die Töne relativ heller", erklärt Althaus. Das mag beim letzten Stimmen gepasst haben, aber heute fügen sich die Töne nicht mehr harmonisch in den Gesamtklang ein.
Auf der Empore haben die Orgelbauer eine Werkstatt eingerichtet. Grelles Scheinwerferlicht leuchtet die Arbeitsflächen aus. Bei einem guten Dutzend Pfeifen müssen Löcher gestopft oder passende Verlängerungsstücke gelötet werden. Das Verlängern ist eine zeitraubende Fitzelarbeit, die sich mancher Orgelbauer gerne mit Hilfe von kleinen Tricks erspart. "Ich habe mal eine historische Orgel gesehen, bei der war Papier reingesteckt, einfaches Schreibmaschinenpapier", erzählt Althaus.
An der Vorderseite der Chororgel glänzen dagegen nagelneue Prospektpfeifen. Insgesamt mehr als 80 Labialpfeifen werden in dieser Orgel von Orgelbauer Frank Retterath und Georg Stahlmann, Auszubildender im dritten Lehrjahr, ausgetauscht und frisch gestimmt. Jede muss mit der Hand zurechtgeschnitten werden, um den richtigen Ton zu erzielen. "Die alten Pfeifen waren nicht kaputt", erklärt Retterath. "Aber man wollte eine etwas andere Mensur, um ein wenig mehr Grundvolumen zu erreichen." Mit Mensur bezeichnet man das Verhältnis zwischen Länge und Weite einer Orgelpfeife.
Die 32-Fuß-Bombarde der Hauptorgel, deren Schallbecher fast zehn Meter in die Höhe ragt, kann natürlich nicht in die Werkstatt getragen werden. Über Metallleitern klettern die Orgelbauer senkrecht in die Höhe – direkt unter die Kirchenkuppel. "Boah, hier war noch nie jemand!", kommt es gedämpft von oben. Zu dritt wuchten die Männer den geschätzt 80 Kilogramm schweren Schallbecher, um an das Zungenblatt zu kommen und es zu bearbeiten. Beim Test erklingt ein tiefes Wummern. Ein noch tieferer Ton ist kaum vorstellbar. "Diese Orgel hat einen sehr großen Tonumfang. Sie geht bis an die Grenzen des Gehörs", erklärt Althaus. Die höchsten Töne zum Beispiel könnten viele 60-Jährige kaum mehr hören.
8.052 Orgelpfeifen werden neu gestimmt
Anfang Oktober haben Althaus und sein Team – Johannes Jamin, Auszubildender im ersten Lehrjahr, und Orgelbauergeselle Stefan Kovac – mit dem Stimmen der Hauptorgel begonnen. Zehn Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, jede zweite Woche auch am Wochenende. Die Vorarbeiten für das Stimmen begannen jedoch bereits im Juli. "Wir haben die Orgel komplett auseinandergebaut, die Pfeifen gereinigt, und jetzt montieren wir die gereinigten Pfeifen wieder ein", erklärt Althaus. "Das muss wieder aufs Feinste eingestellt werden, genau wie bei einer neuen Orgel." Zudem wartet die Hauptorgel mit einer ungewöhnlichen Vielfalt an Registern auf. "Sie hat Register, die man normalerweise nicht findet, zum Beispiel Oberton oder Aliquotbass." Das sei der Stil der damaligen Zeit gewesen. Die Haupt- und die Chororgel stammen aus dem Jahr 1969, ihre historischen Vorgänger waren in der Folge des Zweiten Weltkriegs zerstört worden.
Immer wieder zerreißt das Geräusch eines Bohrers die Stille, hallen Schritte durch das Langhaus. Es ist natürlich nicht optimal, dass während des Stimmens noch Handwerker im Kiliansdom arbeiten. Doch man hat sich arrangiert. "Die Zusammenarbeit ist gut", betont Althaus. "Jeder weiß, worauf es ankommt und was er zu tun hat." Bislang gehörte der Dom während des Tages den Handwerkern und Restauratoren, die Orgelbauer begannen erst am frühen Nachmittag mit ihrer Arbeit und blieben dafür manchmal bis zwei Uhr morgens. Nun, da die Eröffnung näher rückt, wird mit zwei Teams gearbeitet: "Beide Orgeln, in Tag- und Nachtschicht. Wenn wir fertig sind, hatten wir jede einzelne Pfeife in der Hand."
Althaus packt die gelöteten Pfeifen zurück in die Kiste und trägt sie hinauf in die Hauptorgel. Wenige Minuten später ist er wieder auf der Empore. Er setzt sich an den Spieltisch, schlägt prüfend einzelne Töne an. Dann improvisiert er eine kleine Melodie – es klingt wie jubilierende Fanfaren. Althaus neigt den Kopf, lauscht mit halbgeschlossenen Augen den Tönen hinterher und nickt: "Das ist schön."