"Seine Heimat war die Literatur"
Als Sohn einer Deutschen und eines Polen wuchs Reich-Ranicki zunächst in seiner jüdischen Familie in Polen auf, bevor er mit neun Jahren zu Verwandten nach Berlin ging und 1938 das Abitur machte. Kurz darauf wurde er nach Polen ausgewiesen und 1940 gezwungen, ins Warschauer Ghetto zu ziehen. Seine Eltern und sein Bruder wurden von der Nazis ermordert. Trotz seiner Vergangenheit ist Reich-Ranickis spätere Lebensgeschichte die einer Aussöhnung.
Michaela Pilters, Vorsitzende der Gesellschaft katholischer Publizisten Deutschlands (GKP) , würdigt gerade diese Versöhnung über seine Beschäftigung mit der deutschen Literatur als "großartige persönliche Leistung, von der wir in Deutschland sehr profitiert haben". Reich-Ranicki habe die deutsche Literatur für ein breiteres Publikum interessant gemacht. "Mit seiner Streitlust und seinen pointierten Stellungnahmen schaffte er es, das eine oder andere Buch auch einen Publikum näher zu bringen, das keinen näheren Bezug zur Literatur hatte", so die Leiterin des katholischen Bereichs der ZDF-Redaktion "Kirche und Leben".
„Die meisten Dichter verstehen von Literatur nicht mehr als Vögel von Ornithologie.“
Auch Rolf Pitsch, Vorsitzender des KM. Katholischer Medienverband würdigt die Breite, in der Reich-Ranicki die Öffentlichkeit angesprochen habe: "Das besondere Verdienst Marcel Reich-Ranickis besteht darin, dass er sich als Leser, Literaturkenner und Sachkundiger der Literaturszene auf vielen Medienkanälen zu erkennen gab." Er sei Auseinandersetzungen nicht ausgewichen, sondern habe sie vielmehr gesucht und provoziert. "Sein Wissen, die Kontinuität seiner Arbeit, seine (Aus-) Sprache und seine Neigung zu zuspitzender, auch verletzender Urteilsschärfe definieren eine eigene Marke, die bleiben wird. Seine wichtigen Klassikerzusammenstellungen sind diskussionswürdig und genau darin liegt ihr Wert. "
Auskunft über seine persönliche Geschichte
Aus seinem hohen literarischen Wissen und der Tradition des Judentums heraus habe Reich-Ranicki mit besonderer Autorität den deutschen Kulturbetrieb begleitet, so Pitsch weiter. Sich mit Marcel Reich-Ranickis Urteil ernsthaft auseinanderzusetzen habe einen hohen Preis und Respekt gefordert, spätestens seit er in dem autobiografischen Werk „Mein Leben“ Auskunft über seine persönliche Geschichte gegeben habe. "Durch das Lesen dieses sehr empfehlenswerten Buches begegne ich Marcel Reich-Ranicki zum ersten Mal als Jude, als Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft. Bei allen distanzierenden Äußerungen über Gott, bietet er sich mit diesem Buch den Leserinnen und Lesern als Gesprächspartner an. Gott sei Dank!"
Auch die Geschäftsführerin des Borromäusvereins , Gunda Ostermann, geht auf den Bezug Reich-Ranickis zum Glauben ein. Der Religion gegenüber sei er immer skeptisch gewesen, sagt Ostermann. So habe er in einem Interview mit dem Magazin Focus im vergangenen Jahr gesagt: "Religion ist wie eine Brille, die den Blick auf die Wirklichkeit trübt, die bittere Realitäten hinter einem milden Schleier verschwinden lässt. Deshalb wehren sich die Anhänger der Religion auch so vehement, diese Brille jemals abzusetzen. Aber für mich ist das nichts."
Mut und Konsequenz
Ostermann würdigt vor allem den Mut und die Konsequenz Reich-Ranickis im Jahr 1958 in das Land zurückzukehren, dessen Nazi-Regime ihn zwanzig Jahre zuvor nach Polen deportiert hatte, obwohl er Deutschland nicht als Heimat sehen konnte. "Reich-Ranicki verstand sich nicht als Deutscher, er hielt sich für heimatlos, wie er in seiner Autobiografie schreibt. Seine Heimat war die deutsche Literatur, die er darin als sein "portatives Vaterland" bezeichnet – wegen ihr kehrte er nach Deutschland zurück."
Zum Weiterlesen
Ein Porträt Marcel Reich-Ranickis (Borromäusverein)Von Janina Mogendorf