Erinnerung und Abgesang
Louis Malle hat sich diesen komplizierten Fragen in "Eine Komödie im Mai" hinsichtlich einer siegessicheren 68er-Generation mit Leichtigkeit und Ironie genähert. Der chinesische Regisseur Haolun Shu entfaltet sie mehr als zwei Jahrzehnte später mit leisen, lakonisch-melancholischen Untertönen anhand der Unbilden des ersten Liebesleids, die sein junger Protagonist vor den Studentenunruhen auf dem Tiananmen-Platz in Peking erfährt.
Der 17-jährige Xiaoli wächst in Shanghai bei seinem Großvater auf. Der wohnt in einem der schmalen Gassengeflechte mit der charakteristischen chinesischen Shikumen-Architektur. Da das Haus des Großvaters während der Kulturrevolution enteignet und für die "Arbeiterklasse" geöffnet wurde, müssen sie sich das Gebäude mit mehreren Familien teilen. Jeder darf deshalb, nicht nur in der Gemeinschaftsküche, buchstäblich seine Nase in alle Töpfe stecken. Indes stellen die kurzen, prägnanten Momentaufnahmen dieser kleinen, gedrängten Welt ein großes soziales Universum dar. Sie übt auch auf den Protagonisten einen besonderen Zauber aus, den er mit seinem Fotoapparat meisterhaft einzufangen versteht. Darin keimt auch der Traum seines Lebens auf: Er möchte der Cartier-Bresson Chinas werden.
Zwei Frauen spielen eine wichtige Rolle - im Film und in Xialois Leben
Zugleich versucht er, durch das optische Medium mit der 22-jährigen Nachbarin Lanmi anzubandeln. Doch Lanmi, infolge der Liberalisierung bereits vom "amerikanischen Klassenfeind" infiltiert, kümmert nur das eigene Aussehen und wie sie unbegrenzt konsumieren kann. In Xiaolis Klasse gibt es aber auch noch die frisch aus Peking zugezogene Lili. Sie lässt sich von der studentischen Erhebung mitreißen; auf ihren Vorschlag hin dokumentieren sie einen örtlichen Studentenprotest mit dem Fotoapparat. Was Konsequenzen hat, als der Aufstand in Peking durch die Armee blutig niedergeschlagen wird. Jetzt entscheidet der Großvater, wie der Enkel handeln muss. Xiaolis schöner Traum ist damit ausgeträumt.
Haolun Shu erzählt die schmerzliche Geschichte vom Erwachsenwerden aus Xiaolis Perspektive. Mit der Exposition etabliert er den jungen Mann als Ich-Erzähler. So streift der Protagonist mit seiner Kamera durch die Gassen, erkundet den Schauplatz und dessen Bewohner und kommentiert dies im Voice-over. Seine schwarz-weißen Fotos sind an markanten Stellen des Films platziert. Mittels virtuoser Lichtkomposition und wohlproportionierter Ausschnitte verleihen sie auch den unschönen Seiten des engen, geschäftigen Miteinanders ästhetischen Glanz. Aber es ist eine Welt, die dem Untergang geweiht ist.
Der Held erzählt aus dem Rückblick; 2008 kehrt er an den Ort seiner Jugend zurück und fängt mit einer bewegten Kamera die Trümmer des Viertels ein. So ist der Film nicht nur als Erinnerung an den tabuisierten Tiananmen-Aufstand, sondern auch als Abgesang auf eine soziale Lebensform zu deuten, die für den jungen Mann im Alltag viel greifbarer war als das kommunistische Regime. Das begegnet dem Protagonisten in immer abstrakteren Formen, je höher dessen Mitglieder in der Hierarchie angesiedelt sind: Sie erscheinen nur als Stimme aus einem Lautsprecher oder als Abbild im Fernsehen.
Wie Medien die die Wahrnehmung der Welt verändern
Damit thematisiert der Film auch, wie Medien die Wahrnehmung der Welt und das eigene Handeln verändern. Der Protagonist schreitet mit der Kamera in der Hand mutig zur Tat, entreißt den Mitmenschen bisweilen regelrecht ihr Konterfei. Bei körperlicher Zuwendung oder Nähe verhält er sich jedoch geradezu scheu; er weiß nicht so recht, wie er sich dem weiblichen Geschlecht annähern soll. Die zumeist sehr agile Filmkamera greift diese Spannung zwischen den Figuren und ihrer inneren Bewegung bestens auf. So nehmen dann jeweils auch die jungen Frauen das Zepter in die Hand, und Xiaoli wird zum Spielball ihrer Interessen.
Gleichwohl stößt die ideologisch etwas stereotype Figurenkonstruktion der drei jungen Leute auf. Denn deren Entwicklung repräsentiert zugleich exemplarisch verschiedene Klassen, zeigt die Haltung der Söhne und Töchter der Oppositionellen (Xiaoli), der Arbeiter (Lanmi) und der liberalen Kader (Lili). Die feinsinnige und präzise Darstellung eines Erwachsenwerdens im China Ende der 1980er-Jahre stört das aber nur am Rande.
Von Heidi Strobel