Scharia - na und?!
In der Nacht zu Donnerstag wurde in Kairo die neue Verfassung beschlossen. Sie erklärt die Ägypten zu einem islamischen Staat und macht die Scharia zur Quelle des Rechts. Damit deutet die verfassungsgebende Versammlung zwar an, in welche Richtung es geht, ob dadurch die Religionsfreiheit der Christen in Ägypten wirklich signifikant eingeschränkt wird, ist jedoch auch nicht sicher. Der koptisch-katholische Bischof Kyrillos William Samaan kritisierte zwar, dass die neue Verfassung nicht alle Ägypter und nicht die Ideen des arabischen Frühlings vertrete, im gleichen Atemzug verwies er jedoch darauf, dass sich Mursi bereits viermal mit Vertretern der christlichen Kirchen getroffen habe – Gespräche, die es während der Präsidentschaft Mubaraks nicht gegeben hat.
Die zwei Probleme ägyptischer Christen
Diese These vertritt auch Otmar Oehring, Leiter der Fachstelle für Menschenrechte des katholischen Hilfswerks Missio. In der Arbeitshilfe "Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen in unserer Zeit – Ägypten", die am Mittwochmittag von Bischof Kyrillos und dem Erzbischof Ludwig schick im Namen der Deutschen Bischofskonferenz in Berlin vorgestellt wurde, beschreibt Oehring, dass die Christen in Ägypten vor zwei zentrale Herausforderungen gestellt sind: 1. Welche Rolle wird der Islam im neuen Staatsgebilde spielen? 2. Wie müssen die Kirchen auf den demografischen Wandel reagieren – denn auch in Ägypten laufen den Gemeinden die Mitglieder weg.
Der aktuelle Machtkampf in Ägypten zeigt, dass noch niemand so genau weiß, wohin die die Reise geht. Mursi hat in der Nacht erneut betont, dass er seine Macht wieder abgibt, wenn die Verfassung in Kraft ist. Doch das ist für viele Christen erst einmal zweitranging.
Scharia die Quelle ägyptischen Rechts
Dass die Scharia zur Quelle des Ägyptischen Rechts gemacht wurde, sei zunächst nichts ungewöhnliches, betonte Bischof Kyrillos: "Wenn die Prinzipien der Scharia als Basis des Rechts in Ägypten dienen, haben wir damit kein Problem. Denn diese Prinzipien sind nicht so weit von unseren Rechtsprinzipien entfernt." Und trotzdem enthält der Entwurf einige schwammige Passagen, die es der Regierung je nach Interpretation ermöglichen, fundamentale Grundrechte einzuschränken. Doch auch wenn die Grundrechte zugelassen werden, hat diese Entscheidung Folgen, die weit in das Privatleben der Menschen eingreifen – etwa beim Erb- und Familienrecht. Doch wie die Scharia konkret umgesetzt wird, ist noch gar nicht klar.
„Wenn die Prinzipien der Scharia als Basis des Rechts in Ägypten dienen, haben wir damit kein Problem.“
Auch wenn die Rolle des Islam gefunden ist, stellt sich weiterhin die Frage, wer den Islam interpretieren und das Volk auf den "rechten" Weg führen darf. In der Verfassung wird die Al-Azhar-Universität in Kairo genannt, die bereits während der Mubarak-Ära den ägyptischen Staatsislam repräsentierte. Zwar sieht der Text vor, dass die islamischen Rechtsgelehrten allenfalls um Rat gefragt werden müssen, doch wie der Einfluss die Universität letztlich hat, hängt stark vom jeweiligen Parlament ab. Christine Schirrmacher, Islamwissenschaftlerin an der Bonner Universität, gibt jedoch zu bedenken, dass diese Universität bisher für eine eher konservative Auslegung des Islam stand.
Gewichte verschoben
Dass liberale Abgeordnete und Christen die verfassungsgebende Versammlung aus Protest verlassen haben, hat den konservativen Kräften in die Karten gespielt. Dass sie ihren Kampf für ein liberaleres Ägypten auf die Straße verlagert haben, macht die Lage noch unübersichtlicher. Denn ob die neue Verfassung überhaupt in Kraft tritt steht auch noch in den Sternen: 1. Muss das Volk noch darüber abstimmen – dafür bleiben 15 Tage Zeit, nachdem der Präsident das Dokument unterzeichnet hat. 2. Verhandelt das oberste Gericht derzeit darüber, ob die Versammlung überhaupt das Recht hatte, die Verfassung zu beschließen.
Kyrillos bestätigte derweil am Mittwoch in Berlin, dass die Christen im Land verunsichert sind. Die Angst vor einem islamischen Gottesstaat hält Christine Schirrmacher jedoch für überzogen: "Die Muslimbrüder sind sich ja auch untereinander nicht einig, wie die Rolle des Islam genau definiert und im Einzelnen umgesetzt werden soll – auch die sind sich nicht in allen Punkten einig."
Kein Gottesstaat
Kyrillos und Schirrmacher sind sich jedoch in einem Punkt einig: "Die Muslimbrüder sind sicher keine Taliban – ein Gottesstaat nach iranischem Vorbild wird mit den Ägyptern nicht zu machen sein", prognostiziert Schirrmacher, "ein Staat, nach dem Modell der CSU, in dem der christliche – oder in diesem Fall der muslimische – Mensch als Leitbild politischen Handelns gilt, ist bei der derzeitigen Machtkonstellation ebenfalls nicht vermittelbar. Aber die Bandbreite zwischen diesen beiden Polen ist riesig." Den Muslimbrüdern sei nicht daran gelegen, vermeintlichen Ungläubigen die Hände abzuhacken, so Schirrmacher, "das wollen allenfalls die Salafisten." Und Kyrillos ergänzt: "Wenn die neue Regierung der Muslimbrüder alles tut, um die Lebenssituation im Land zu verbessern, wird der Radikalismus keinen Nährboden finden."
„Ein Gottesstaat nach iranischem Vorbild wird mit den Ägyptern nicht zu machen sein“
Das zweite Problem ist betrifft die Kirchen viel direkter: Oehring bemängelt, dass schon die Übergangsregierung des Militärrats darin versagt habe, die Christen als Bürger des Landes zu schützen – viele hätten Ägypten daraufhin verlassen. Die Zahl der Auswanderer wird auf 100.000 geschätzt. Oehring spekuliert in seinem Text, ob sich das Militär vorsätzlich aus den Konflikten zwischen Christen und Muslimen herausgehalten hat, um die Stimmung zu seinen Gunsten zu beeinflussen – frei nach dem Motto: "Seht her, ohne unseren Schutz geht es nicht." Der Bamberger Erzbischof Schick zeigte sich ebenfalls besorgt: "Es scheint, als gehörten die Christen bislang nicht zu den Profiteuren der neuen Freiheit", so der Vorsitzende der bischöflichen Kommission Weltkirche, "noch in den vergangenen Tagen wurde uns am Entschluss der christlichen Kirchen, sich nicht weiter an der Verfassungsversammlung zu beteiligen, deutlich vor Augen geführt, wie groß die Unsicherheit der Christen in Ägypten geworden ist."
Der zweite Teil dieses Problems ist kirchenintern: Immer mehr Christen verlassen das Hinterland und ziehen nach Kairo und andere Städte des Nildeltas. Die Kirche müsse daher ihre Infrastruktur erweitern – also neue Kirchen, Versammlungsstätten und Krankenhäuser bauen. Das ist kostspielig und aufwendig. Oehring plädiert daher dafür, dass sich die Kirchen untereinander verständigen und insbesondere den Dialog mit den koptisch-orthodoxen Christen suchen.
Von Michael Richmann