Ein unermüdlicher Mahner: Sozialethiker Friedhelm Hengsbach wird 85
Auch im hohen Alter bleibt der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach aktiv. Kurz vor seinem 85. Geburtstag an diesem Freitag hat der Jesuit sein Buch über den Umgang der Menschen mit der Zeit vollständig überarbeitet. Geblieben ist die Kernthese, nach der die Akteure der Finanzmärkte seit der Jahrtausendwende "einen Megaschub der gesellschaftlichen Beschleunigung" angestoßen haben, den sie über Firmen an die Belegschaften weiterleiteten. Neu ist, dass der Wissenschaftler in seine "Kaskade über die Beschleunigung" auch die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen eingearbeitet hat – von der "Fridays for Future"-Bewegung über die Corona-Pandemie bis zum Ukraine-Krieg.
Immer wieder beleuchtet Hengsbach in seinem soziologisch geprägten Werk die Situation von Frauen, die er durch die Ansprüche in Privat- und Arbeitsleben im Vergleich zu Männern für stärker gefährdet hält, unter die Räder zu kommen. Vor allem in der "Rush Hour" des Lebens, die für ihn mit der Geburt des ersten Kindes beginnt und dem Auszug des letzten aus dem "Hotel Mama" endet. Er begreift nicht, wieso die Arbeit als Mutter nicht zum Bruttoinlandsprodukt gezählt wird – obwohl sie ein Drittel von dessen Summe ausmacht. Und am Ende erhalten Frauen wegen gebrochener Erwerbsbiografien eine geringere Rente. In der Summe hält er Frauen für diskriminiert – "obwohl und weil sie alle Drecksarbeit machen".
Hengsbach behandelt konkrete Fragen nach Solidarität und Gerechtigkeit
Zeit versteht Hengsbach in der Tradition des Franzosen Emile Durkheim als "soziale Tatsache", die ans "Bewusstsein der anderen" geknüpft ist. Für plausibel hält er auch die Gedanken des US-amerikanischen Philosophen George Herbert Mead, wonach Zeit durch gemeinsames Handeln entsteht. Aber Hengsbach belässt es nicht bei abstrakten Gedankenspielen, sondern behandelt konkrete Fragen nach Solidarität und Gerechtigkeit, die nach seiner Überzeugung immer wieder neu gesellschaftlich ausgehandelt werden müssen. Und dann schreibt er über individuell flexible Arbeitszeiten, die von den wirtschaftlich Mächtigen nach ihren eigenen Interessen durchgesetzt werden.
Hengsbach persönliches Zeitmanagement ist durch die Pandemie schwer durcheinandergeraten. Die vergangenen zwei Jahre nennt er "eine fast tote Zeit". Der Mann, der früher neben seiner Lehrtätigkeit und seiner Aufgabe als Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik in Frankfurt meist rast- und ruhelos zu Diskussionen, Debatten und Vorträgen durch die Republik reiste, hatte in den ersten 24 Monaten der Pandemie gerade mal zwei Termine. "Erst wurden Veranstaltungen verschoben, dann noch mal neu angesetzt – und am Ende selbst das nicht mehr", erzählt er. Ein paar Buchrezensionen hat er geschrieben. "Aber ganz langsam geht es wieder los. Hoffentlich."
Seit eineinhalb Jahrzehnten lebt er in Ludwigshafen – als "der Oldie in einer Art Männer-WG" mit drei anderen Jesuiten. "Gewöhnungsbedürftig" nennt es der gebürtige Dortmunder scherzhaft, dass die anderen Ordensmitglieder aus Bayern und Franken kommen. "So privilegiert wie hier", erzählt er, "habe ich noch nie gewohnt." Schon der Blick vom Balkon der obersten Etage des Heinrich-Pesch-Hauses, eines Bildungszentrums im Bistum Speyer, bietet viel: Im Osten Ludwigshafen mit den Rheinbrücken nach Mannheim, im Norden die BASF-Anlagen, im Süden und Westen Ausläufer des Pfälzer Walds. Aber Hengsbach wäre nicht Hengsbach, würde er sich mit der Aussicht vom sechsten Stock begnügen.
Viele Mahnungen sind zu Mainstream-Forderungen geworden
Das langjährige Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac befasst sich immer noch mit den Finanzmärkten und deren "spekulativen Attacken" auf Devisen und Nahrungsmittel. Oder er analysiert die deutsche und europäische Sozialpolitik. Seine Positionen vertritt er eloquent, aber gleichzeitig wissenschaftlich-nüchtern. Immer wieder übte er massive Kritik an der Sozialpolitik von der Union bis zu den Grünen – schonender geht er nur mit den Linken um. In seinem Einsatz sieht sich der vielfach ausgezeichnete Theologe "in der Nachfolge von Nell-Breuning, nach dem Engagement im Glauben mit sozialem Engagement einhergeht". Nell-Breuning gilt als Nestor der Katholischen Soziallehre.
Innerkirchlich ist viel von dem, was Hengsbach schon vor Jahrzehnten anmahnte, zu Mainstream-Forderungen geworden: etwa eine bessere Stellung der Frauen in ihrer Kirche, eine andere Sexualmoral und die Abschaffung der verpflichtenden Zölibatsvorschrift für Priester. Früher galt er oft als Außenseiter, weil er Reformen "an Haupt und Gliedern" wollte. Aber Hengsbach war und ist es bis heute egal, wenn er sich nicht beliebt macht; er ist Kritik und Widerspruch gewohnt und nimmt sie gelassen. Seinen, wie er es nennt, "halbrunden Geburtstag" will er nicht groß feiern. Stattdessen plant er eine Fahrradtour von Frankfurt nach Dresden.