So hat die Befreiungstheologie Antworten auf Missstände gesucht
Armut und Ungerechtigkeit sind eine Anfrage an Gott. Unter dieser Prämisse setzt sich die Bewegung der Befreiungstheologie in Lateinamerika seit den 1960er Jahren für Arme und Entrechtete ein – auch gegen Widerstände aus Rom. Der Theologe Stefan Silber hat schon an mehreren Universitäten weltweit gelehrt und betreibt die Internetplattform "Theologie der Befreiung". Im Interview spricht er über die Entstehung der Befreiungstheologie, ihre Gegner und ihre Gegenwart.
Frage: Herr Silber, die Befreiungstheologie hat auf die Missstände der 1960er Jahre in Lateinamerika reagiert. Welche waren das?
Silber: Damals wie heute gab es dort gesellschaftliche Ungerechtigkeit, Armut, Hunger und Krankheiten. Dazu kam noch die Gewalt des Staates gegen die Zivilbevölkerung sowie politische Unzufriedenheit durch wenig Mitbestimmung der Bürger. Armut und Ungerechtigkeit gibt es in der Region übrigens bis heute.
Frage: Zentral in der Befreiungstheologie ist die "Option für die Armen". Was bedeutet das?
Silber: Der Begriff stammt aus dem Spanischen und Portugiesischen und die Rede von der "Option" ist dort viel selbsterklärender als im Deutschen. Gemeint ist Folgendes: Wir müssen immer Entscheidungen treffen, diese Entscheidungen nehmen uns in die Pflicht. Und in Situationen von Ungerechtigkeit – das hat damals auch etwa Desmond Tutu in Südafrika gesagt – kann man nicht neutral bleiben. Wer vorgibt, neutral zu sein, gibt sich mit dem Status Quo ab und stellt sich damit auf die Seite der Unterdrücker und gegen die Unterdrückten. Die "Option für die Armen" bedeutet also, sich in einer Situation der Ungerechtigkeit auf die Seite derer zu schlagen, die diese Situation erleiden.
Frage: Was bedeutet vor diesem Hintergrund der Ausdruck "Theologie der Befreiung"?
Silber: Der Begriff ist der Titel eines Buchs des Priesters Gustavo Gutiérrez. Er plädiert dafür, dass sich die Theologie mit solchen Ungerechtigkeitsphänomenen auseinandersetzen muss. Das sei nicht nur eine ethische Frage, sondern bedeute auch etwas für das Glaubensverständnis. Was sagt es über unsere Lehre von Gott, wenn in der von Gott geschaffenen Welt solche Ungerechtigkeiten entstehen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Befreiungstheologie.
Frage: Welche Antworten findet sie?
Silber: Eine davon findet sich schon im Namen: die Befreiung. Gott wird als Befreier gesehen, wie auch im Alten Testament, in dem er das Volk Israel aus Ägypten befreit. Er hat immer wieder Lebensprojekte gefördert, damit das Volk Israel in Frieden, Gerechtigkeit und sozialer Ausgewogenheit leben kann. So müsse auch der Gott Jesu Christi gesehen werden, sagt dann die Befreiungstheologie. Jesus hat einen Gott verkündet, der sich darin offenbart, dass wir unsere Nächsten lieben. Diese Nächstenliebe bedeute auch, sich politisch und wirtschaftlich für die Befreiung von unterdrückten Menschen einzusetzen und mit diesen Menschen gemeinsam daran zu arbeiten, dass sie frei werden.
Frage: Welche Folgen hatte das in der Praxis?
Silber: Es hat eine Hinwendung vieler Geistlicher zu den Armen bewirkt, entweder in ihren Pfarreien oder in benachteiligten Stadtvierteln. Viele sind dann auch aus den Zentren in die Randbereiche der Städte gegangen und haben dort neue Pfarreien gegründet. Man hat stark auf sogenannte Basisgemeinden gesetzt, also Menschen in ihren Nachbarschaften zusammenzuführen und mit ihnen gemeinsam über ihren Glauben und über Alltagsfragen und -nöte zu sprechen. Aus dieser Arbeit haben sich ganz verschiedene praktische Folgen ergeben: Manche haben sich kommunalpolitisch engagiert und sich für Gesundheits- oder Wasserversorgung eingesetzt. Andere haben sich mit den übergeordneten Problemen befasst und zum Beispiel mit großen Gewerkschaften vernetzt, um auf landes- oder kontinentaler Ebene für Gerechtigkeit einzutreten.
Frage: Viele Theologen sahen sich dem Vorwurf des Marxismus ausgesetzt, dazu kam Gegenwind aus dem Vatikan und es kam zu Gewalt in den Ländern gegen Befreiungstheologen, bis hin zu Ermordungen. Der bekannteste Fall ist sicherlich der Mord am Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero. Welches politische Sprengpotenzial hatte diese Bewegung?
Silber: Das politische Klima wurde bis zum Ende der 1980er Jahre vom Kalten Krieg dominiert. In Lateinamerika galt die Doktrin der Vereinigten Staaten: "In unserem 'Hinterhof' darf es keinen Kommunismus geben." Dass es mit Kuba und Nicaragua bereits zwei sozialistisch regierte Staaten gab, war schon schlimm genug. Alle anderen Bewegungen sollten mit großer Gewalt unterbunden werden, das schloss auch staatliche Gewalt gegen Andersdenkende ein. Der Einsatz für Benachteiligte wurde in vielen Ländern nicht immer, aber immer wieder verdächtigt, marxistisch und aus Moskau oder Havanna gelenkt zu sein. Befreiungstheologen wurden gefoltert oder umgebracht oder mussten ihr Land verlassen. In diesem Klima war der Marxismusvorwurf auch eine kirchenpolitische Waffe, die manche Geistliche andersdenkenden Theologen unterstellten, um sie mundtot zu machen.
Frage: Nun gibt es die Befreiungstheologie schon lange. Wie hat sie sich verändert?
Silber: Es gab mehrere große Krisen in der Befreiungstheologie, zum Beispiel in den 1980er und 1990er Jahren: Die Benachteiligungen durch den Vatikan wurden immer stärker, zudem hatten viele Menschen in Lateinamerika nach dem Ende des Kalten Krieges die Zuversicht auf eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft verloren. In dieser Krisenzeit haben andere kirchliche Bewegungen die Fragestellungen der Befreiungstheologie aufgenommen und aus ihren eigenen Perspektiven bearbeitet. Zu diesen Strömungen gehörte die feministische Theologie, die indigene Theologie bis hin zu ersten Ansätzen einer afroamerikanischen Theologie Daraus haben sich unterschiedliche Schwerpunkt der Befreiungstheologie gebildet. Seit etwa 20 Jahren beobachte ich, dass sich die Befreiungstheologie unter einem weiter gewordenen Dach als übergeordnete Bewegung mit feministischen und indigenen Zweigen etablieren möchte. Die Bewegungen wollen also mit- und nicht gegeneinander arbeiten.
In diesem Zusammenhang ist immer mehr von "Lateinamerikanischer Theologie" anstatt von "Befreiungstheologie" die Rede, was dieses größer und differenzierter gewordene Ganze bezeichnet. Damit wird auch klar, dass sich diese Theologie von der in Europa und Nordamerika unterscheidet.
Frage: Lassen sich dennoch Impulse der Lateinamerikanischen Theologie auf Europa übertragen? Denn Benachteiligung und Armut gibt es hier ja auch.
Silber: Impulse für Europa hat es von Anfang an gegeben, sei es in Gestalt von Übersetzungen der entscheidenden Texte in die deutsche Sprache oder Initiativen hierzulande. Sie fragen danach, wie Theologie so betrieben werden kann, dass sie sich den gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen einer Gesellschaft stellt und ob einzelne Konzepte aus Lateinamerika auf europäische Verhältnisse übertragen werden können.
Frage: Ist die Kirche durch die Befreiungstheologie politischer geworden?
Silber: Durchaus, obwohl Kirche immer politisch ist. Auch eine Kirche, die sich ganz stark auf das Jenseits fokussiert und das Diesseits vernachlässigt, ist politisch, weil sie die Menschen von der Politik abhält und den Status Quo zementiert. Das gibt es auch in Lateinamerika, wo politische Kräfte von rechts sehr gut mit kirchlichen Akteuren zusammenarbeiten, für die Fragen nach Gerechtigkeit nicht im Fokus stehen. Insofern wird die Kirche durch die Befreiungstheologie zwar nicht generell politischer, in gewisser Hinsicht aber schon: Weil die Aufmerksamkeit für die Probleme der Gegenwart auch theologisch geschärft wird. Denn wenn Menschen Hunger haben, arm sind und keine politischen Beteiligungsmöglichkeiten haben, dann ist das kein Problem einer vergänglichen Welt, sondern eine Herausforderung Gottes. Dieses Bewusstsein ist durch die Befreiungstheologie in der Kirche stärker geworden.