Pfarrer zur Flut 2002: Kriegen Verwundung der Seele nicht mehr los
Als 2002 die Jahrhundertflut kam, war Peter Neumann katholischer Pfarrer im sächsischen Bad Schandau. Das Hochwasser verwüstete das ehedem blühende Kurstädtchen. 20 Jahre später lässt er im Interview die Ereignisse Revue passieren, spricht über die Nachwirkungen und auch über den Schock, den die Flut im Ahrtal vergangenes Jahr in ihm ausgelöst hat. Der 81-Jährige lebt inzwischen in einem Seniorenheim in Goppeln, am Rand von Dresden. Am Tag des Interviews ist es brütend heiß. Neumann ist es zu warm. Aber alles besser als Regen. Denn mit jedem Regen kommt für ihn seit 2002 immer auch das Unbehagen.
Frage: Pfarrer Neumann, wie ging das damals im August 2002 los?
Neumann: Es fing an zu regnen, das Wasser sammelte sich im benachbarten Tschechien wie in einer Wanne und es gab nur einen Abfluss dafür: das Elbtal. Über Nacht kamen diese Wassermassen und innerhalb von ein, zwei Tagen stieg das Wasser in Bad Schandau auf acht Meter Höhe. Es sank dann recht bald wieder und zurück blieben Unmengen von Schlamm, giftigem Schlamm. Wir haben ihn mit Schneeschiebern weggeräumt. Das Giftwasser, das die Elbe auch mitführte, entlaubte die Bäume, überall lagen tote Fische. Es stank in der ganzen Stadt bestialisch.
Frage: Wie war es für Sie als Seelsorger?
Neumann: In meinem Pfarrhaus, das zum Glück weitgehend verschont blieb, war das Zentrum für die katholischen und evangelischen Notfallseelsorger. Jeden Morgen zogen wir los, im Overall und Gummistiefeln und sind zu den Menschen gegangen, haben mit ihnen gesprochen, haben geschaut, wo man konkret helfen kann.
Frage: Wie tröstet man Menschen, die alles verloren haben?
Neumann: Indem man bei ihnen ist und keine großen Worte macht. Einfach nur da sein. Die Menschen haben alles verloren und sie haben mir gesagt: Herr Pfarrer, aber wir sind nicht Gottes vergessene Kinder!
Frage: Bad Schandau war zwar stark betroffen, aber medial etwas im Schatten, weil es schwer erreichbar war. Gleichwohl: Die Bilder lösten damals bundesweit eine große Solidaritätswelle aus. Wie gestaltete sich das ganz konkret?
Neumann: In der Zeit damals wurde grad viel in den Medien über die Jugend geschimpft. Aber unzählige Jugendliche aus ganz Deutschland kamen zu uns – um zu helfen, um mit anzupacken. Das war wirklich großartig und beeindruckend.
Frage: Wie erreichten Sie damals Spenden und Hilfsgelder?
Neumann: Ständig kamen Anrufe: 'Wir sind die Klasse 7b von irgendwo und haben 27,30 Euro gesammelt – wohin können wir das überweisen?' Oder: 'Hier ist die Universität in Gießen, wie haben 40.000 Euro für Sie gesammelt – wir schicken die an Sie, weil es dann ohne Abzug bei den Menschen ankommt.' Wir haben jedem eine Spendenquittung geschickt. Das war Büroarbeit hoch drei, die Sekretärin hat nichts anderes mehr gemacht. Und dann haben wir die Gelder verteilt.
Aber die staatlichen Hilfsgelder blieben lange aus. Das habe ich damals auch Bundespräsident Johannes Rau gesagt, als er sechs Wochen nach dem Hochwasser zu uns kam. Na, der hat Augen gemacht – er wollte es erst nicht glauben. Und dann haben die Menschen ihm erzählt, und er hat das ganze Leid und den Jammer gesehen.
Frage: Sie haben meinem Kollegen 2002 im Interview erzählt, wie den Menschen das Erlebte auf der Seele lastet und sie immer wieder weinen – auch die Männer, wie Sie betont haben.
Neumann: Ja, das war damals schon hart. Ich möchte das nicht weiter ausführen.
Frage: Haben Sie sonst in Ihrem Leben Männer weinen sehen?
Neumann: Kaum.
Frage: Können Sie die Verwundung der Menschen – und wie sie nachwirkt – beschreiben.
Neumann: Die Menschen wollen nicht mehr darüber sprechen. Wir hatten nach 2002 mal eine Messe und während der Predigt begann draußen plötzlich ein Sturzregen – alle Köpfe gingen drinnen schlagartig runter, wir mussten abbrechen, es ging nichts mehr. Wir kriegen diese Verwundung der Seele nicht mehr los. Die Angst in der Seele bleibt.
Als das mit der Ahr-Hochwasser vor einem Jahr losging – da hat mich und viele Menschen hier das ganz schlimm getroffen. Da bleibt einem einfach das Herz stehen. Da geht nichts mehr. Man erlebt alles wieder. Da braucht man als Seelsorger auch nicht mit frommen Sprüchen kommen – da muss man wieder einfach nur bei den leidenden Menschen sein. Nur nicht alleine lassen – das ist das Schlimmste, das man machen kann.
Frage: Haben Sie nach der Flut Gedenkgottesdienste zum Jahrestag gefeiert?
Neumann: Nein. Wir haben gesagt: Wir rühren besser nicht daran.