Seelsorger aus dem Ahrtal berichten über die Flutnacht – und die Zeit danach

Ein Jahr nach der Flut: "Die Katastrophe hat uns alle gezeichnet"

Veröffentlicht am 14.07.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Bonn  ‐ In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli jährt sich die Flutkatastrophe im Ahrtal und in den benachbarten Regionen. Notfallseelsorger aus dem Ahrtal berichten, wie sie die Geschehnisse erlebt haben und wie die Situation heute für die Betroffenen ist – und sprechen auch über ihr Hadern mit Gott.

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"Herr hilf!" Diesen Schrei nach Gott hat jemand an die Außenwand der St. Laurentiuskirche in Ahrweiler geschrieben mit dem Schlamm, den die Flut vor einem Jahr ins Ahrtal gespült hat. Das Entsetzen darüber ist spürbar, wenn man hier steht. Mit welcher Verzweiflung und aus welcher Not mag da ein Mensch sich seinen Schmerz aus dem Herzen geschrieben haben. 

In der Gebetsnische stehen brennende Kerzen und ein Kreuz, schlammverschmiert. Irgendjemand hat auch ein Bild von einem bunten Regenbogen dazugestellt. "Herzlich willkommen", steht da. Genau hier im Schutz der Mauer des katholischen Gotteshauses haben sich die Menschen nach der Flutnacht immer wieder getroffen. Sich gegenseitig ermutigt, umarmt und geweint, erinnert sich Arno-Lutz Henkel, Kooperator in der Pfarreiengemeinschaft Bad-Neuenahr-Ahrweiler. Hier wurde so viel gebetet, wie nie zuvor, meint er. Inmitten des Chaos und der Zerstörung wurde dieser Ort an der Kirchenmauer zu einem Ort des Trostes. Auch er habe hier immer wieder Kraft geschöpft, so Henkel. "Hoffentlich reicht meine Kraft für diesen Tag und für den nächsten", erinnert sich der Priester an seine Sorgen damals.

Bild: ©katholisch.de/Madeleine Spendier

Die Gebetsecke an der St. Laurentiuskirche in Ahrweiler wurde nach der Flutnacht zu einem wichtigen Ort für Betroffene und Helfer.

Die Flutnacht selbst hat Henkel nicht miterlebt, er wohnt außerhalb des Gemeindegebiets in Bonn. Erst am frühen Morgen danach wurde er von seinem Mobiltelefon geweckt. Er sei sofort ins Ahrtal gefahren, um zu helfen und da zu sein. Jeden Tag von da an, berichtet er. "Wir haben als Pastoralteam vor Ort koordiniert, Strukturen aufgebaut, damit die Hilfe auch bei den Menschen ankam", erzählt der Priester im Rückblick. Von überallher seien Menschen geeilt, um zu helfen. Diese enorme Hilfsbereitschaft habe ihn sehr beeindruckt. Das sei ein starkes Zeichen von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe gewesen.

Bis zum Ende des Jahres soll die Kirche wieder trocken sein

Die St. Laurentiuskirche ist seit der Flutnacht geschlossen. Der Innenraum ist noch immer Baustelle, sagt Henkel und schließt die Kirchentür auf. Der Boden im Chorraum ist komplett herausgenommen, der Putz an den Wänden wurde abgeschlagen, weil alles durchfeuchtet war, erklärt der Priester, der auch promovierter Kunsthistoriker ist. Im Kirchenschiff stehen Geräte, die beim Trocknen helfen. Noch ist vieles nass. Bis zum Ende des Jahres soll die Kirche wieder trocken sein, damit endlich renoviert werden kann, meint Henkel. Geplant ist auch eine Neugestaltung der liturgischen Orte der ältesten Hallenkirche des Rheinlandes. Doch das werde alles noch viel Zeit beanspruchen.

Das spätgotische Sakramentshäuschen ist abgedeckt, das ewige Licht brennt nicht. Im Chorraum steht ein Holztisch. Er dient provisorisch als Altar für den Gedenkgottesdienst am Sonntag, der auch im Fernsehen übertragen wird. Der Altar selbst wurde längst ausgelagert, genauso wie die liturgischen Geräte. Sie sind momentan nicht in Gebrauch.

Bild: ©katholisch.de/Madeleine Spendier

Ein Holztisch steht in der katholischen St. Laurentiuskirche in Ahrweiler. Die Kirche ist seit der Flutkatastrophe 2021 geschlossen. Der Tisch dient provisorisch als Altar für den Gedenkgottesdienst am 17.7.2022.

Unbeschädigt blieb im Altarraum das Gabelkreuz, das von der Kirchendecke hängt. Jesus, der Gekreuzigte, blickt jeden Tag auf seine kaputte Kirche, meint der Geistliche. Auf dem Kruzifix sei die offene Wunde gut erkennbar. Diese Wunde, die Jesu bei seiner Kreuzigung zugefügt wurde, behält er auch, wenn er als Auferstandener seinen Jüngern erscheint, bemerkt er. Das bewege ihn. Die Wundmale verkünden, dass der Auferstandene nie ohne den Gekreuzigten geglaubt werden kann, so Henkel. Das Trauma seines Leidens bleibt in das Gedächtnis Gottes eingewoben, fasst er zusammen. Genauso wie den Menschen hier im Ahrtal die Wunde der Flutnacht tief in der Seele und in den Herzen eingeschrieben bleiben wird, meint Henkel, der auch in der Notfallseelsorge ausgebildet wurde.

Viele Betroffene berichten ihm, wie das Erlebte sie noch immer quälen würde. Die Bilder dieser furchtbaren Flut verfolgen sie im Traum genauso wie die Hilfeschreie der ertrunkenen Freunde und Bekannten. Wie soll man so etwas Furchtbares verkraften? Wie soll man damit weiterleben? "Ich weiß auch keine Antwort", sagt der Priester. "Ich kann nie so fühlen, wie die Menschen, die diese Nacht erlebt haben". Aber er ist sich sicher, dass es eine Sprache jenseits von Worten gibt. Wenn Menschen sich ihr Leid von der Seele reden, dann höre er zu und schweige. Es gehe jetzt vor allem darum, das Erlebte als Teil unseres Lebens anzunehmen. "Diese Wunde gehört nun zu uns, sie bleibt", sagt Henkel.

Vielen Menschen sei durch die Flut bewusst geworden, dass wir Quellen brauchen, aus denen wir schöpfen und leben können, so der Pfarrer. Daher wünscht er sich, dass die Kirchen in der Pfarrei, die von der Flut beschädigt wurden und renoviert würden, auch bald wieder geöffnet werden, damit sie erneut zu Orten der Begegnung und des Gebets werden können. Dann zündet er draußen an der Gedenkstätte eine Kerze an. Er wünscht sich, dass die Menschen mit Zuversicht in die Zukunft schauen, auch wenn die eine oder andere Kirche nicht mehr erhalten bleiben kann, weil sie von der Flut unbrauchbar gemacht wurde. "Wir lassen Altes los, damit Neues entstehen kann", ist sich Henkel sicher.

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Die Sonne scheint auf das Altarkreuz im Chorraum der Kirche St. Laurentius in Ahrweiler. Das Gabelkreuz zeigt Christus mit seinem von der Kreuzigung geschundenen Leib.

Einen neuen Kirchort hat eine andere Pfarrei, weiter oben an der Ahr längst gefunden. Seit Anfang des Jahres gibt es einen Container für Seelsorge und Gespräche, berichtet Gemeindereferentin Manuela Kremer-Breuer. Auch weil die Andreaskirche in Ahrbrück und der Begegnungsraum in der dazugehörenden Unterkirche seit der Flut unbrauchbar sind. Diese Idee ist aus der Not geboren, sagt Kremer-Breuer, die seit 21 Jahren Gemeindereferentin in der Pfarreiengemeinschaft Altenahr ist. Der Container steht auf einem Parkplatz vor einem Einkaufszentrum. "Wir müssen da sein, wo die Menschen sind", sagt sie. Täglich zwei Stunden ist jemand aus dem Seelsorgeteam hier. Es sei wichtig, dass die Betroffenen – und das sind 40.000 Menschen in der Region – Hilfe finden, wenn sie sie brauchen. "Dazu sind wir da und helfen weiter", so Kremer-Breuer. "Wir gehen hin und warten nicht, bis einer zu uns kommt", betont sie. "Hier können die Menschen ihre Wut, ihre Trauer und ihr Unverständnis loslassen", sagt die ausgebildete Notfallseelsorgerin und Trauerbegleiterin. "Wir sind anfangs auch auf den Friedhof gegangen, weil wir gemerkt haben, dass auch dort jemand sein muss, um die Trauernden aufzufangen."

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Manuela Kremer-Breuer ist Gemeindereferentin in der Pfarreiengemeinschaft Altenahr. Sie koordiniert die Hilfe für Flutbetroffene.

Eine Frau habe ihr nach der Flutnacht erzählt, dass aus ihrem Haus alles weggeschwommen sei, nur eine Muttergottesstatue sei übriggeblieben. "Das war für sie ein Zeichen, dass Gott trotzdem da war", erzählt Kremer-Breuer. "Ich glaube nicht an einen strafenden Gott, der uns mit der Flut gestraft hat. Das ist nicht mein Gottesbild", so die Seelsorgerin. "Ja, ich hadere mit Gott aufgrund dieser schlimmen Erfahrung. Meine Wut, meine Fassungslosigkeit, meinen Schmerz, all das werfe ich vor ihn hin. Das hält er aus", ist sie sich sicher. Die starke Vernetzung untereinander, auch unter den Hilfseinrichtungen habe ihr immer wieder viel Kraft gegeben, weiterzumachen. "Aber ich habe mit einem liebenden Blick auf die Menschen geschaut, dann ging es wieder", sagt sie im Rückblick auf die Ereignisse nach der Flutkatastrophe. Jetzt freut sie sich über jeden Lichtblick, den sie in ihrem Wohnort wahrnimmt, etwa wenn jemand seinen Garten neu bepflanzt oder beschließt, doch nicht wegzuziehen. "In den Herzen ist noch viel Traurigkeit und auch der Aufbau von Gebäuden und Infrastruktur ist noch lange nicht abgeschlossen", ergänzt sie. Aber die Menschen wollen  wieder aufbauen, sagt Kremer-Breuer, sie wollen ihre Heimat zurück, trotz der Ängste, die da sind. 

Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Die bei der Flut beschädigte Kirche Sankt Andreas und daneben das Pfarrhaus in Ahrbrück. Beide Gebäude sind zur Zeit geschlossen.

Bis heute kann Kremer-Breuer nicht fassen, was damals in dieser Nacht geschehen ist. Als die Flutwellen kamen, war sie gerade in Bonn, um einen Krankenbesuch zu machen. Erst am Morgen danach konnte sie zurück zu ihrer Familie nach Altenahr. An ihre Ängste und Sorgen in dieser dunklen Nacht kann sie sich noch gut erinnern. "Die Katastrophe hat uns alle gezeichnet", ergänzt sie. Die Menschen hätten sich gegenseitig geholfen, indem sie miteinander über das Erlebte und ihre Schicksale gesprochen haben. Das hat Hoffnung gegeben, weiterzumachen.

Am Jahrestag der Flut soll vor allem das Erinnern und Gedenken an die Menschen, die in den Fluten gestorben sind, ermöglicht werden. Dazu werden einige Kirchen und Kapellen entlang des Ahrtals geöffnet für eine lange Nacht des Gebets. "Ich wünsche mir, dass die Menschen spüren, dass wir für sie da sind, dass wir mitaushalten, dass wir Wegbegleiter bleiben wollen", betont Kremer-Breuer. 

Gemeindereferentin: Habe mitgeweint, wenn jemand Angehörigen verloren hat

"Ich werde nie vergessen wie es war, als die ersten Menschen dort im Notfallzentrum ankamen", erzählt die Gemeindereferentin aus Bad Neuenahr, Mildred Ruppert. Sie hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Erst im Notfallzentrum habe sie erfahren, in welchem Ausmaß die Wasserwelle über das Ahrtal hinweg gerollt ist. Ruppert half bei der Erstversorgung, verteilte Kleidung und hörte vor allem viel zu. Viele der Geretteten waren in diesen ersten Momenten noch unter Schock, sagt sie. Denn es haben sich in den Fluten dramatische Szenen abgespielt. "Es gab Momente, da  habe ich mitgeweint, wenn ich erfahren habe, wie grausam einzelne Schicksale waren", sagt sie offen. "Ich dachte immer, ich bin stark im Glauben, aber da habe ich auch gehadert mit meinem Gott", so Ruppert. Das plötzliche Loslassen von Hab und Gut, das Verlieren von den Liebsten, all das höre sie oft als Notfallseelsorgerin. "Solche Abschiede sind schrecklich und bleiben schrecklich", so Ruppert. 

Als Notfallseelsorgerin habe sie eigentlich gelernt, diese Fassungslosigkeit mitauszuhalten, aber damals in dieser Nacht war sie selbst sprachlos. "Ich konnte nichts mehr sagen. Ich war einfach da, hab die Menschen umarmt und wer wollte, mit dem habe ich auch gebetet. Ich habe aber auch viel im Stillen für die Menschen im Katastrophengebiet gebetet. "Ich weiß, Gott hat uns da hindurch getragen, auch wenn es mir zeitweilig schwer fiel es so zu sehen." Ihr war es auch als Seelsorgerin wichtig, dass Menschen schnell Kontakt zu ihren Angehörigen aufnehmen konnten. Sie habe dafür sogar ihr eigenes Mobiltelefon weitergegeben, weil manche ja gar nichts mehr bei sich trugen, erzählt sie weiter.

Bild: ©katholisch.de/Madeleine Spendier

Am Kerzenstand der katholischen St. Laurentiuskirche hat jemand ein Schild angebracht. Die Worte sind handgeschrieben und drücken eine große Dankbarkeit aus über die Hilfsbereitschaft nach der Flutkatastrophe.

Das Gedenken zum Jahrestag der Flutnacht wühlt all diese Erinnerungen in ihr wieder auf. Manche dafür geplanten Aktionen und Veranstaltungen seien ihr zu viel. Sie frage sich, ob es auch im Sinne der Betroffenen und Angehörigen ist, wenn die Namen der Verstorbenen überall zu lesen sind oder verlesen werden. "Wir müssen hier sensibel sein", warnt Ruppert, damit die Opfer nicht instrumentalisiert werden. Sie finde es besser, viele verschiedene und auch ganz stille Möglichkeiten des Gedenkens anzubieten, dass manches auch zur Ruhe kommen kann und so aufgearbeitet werden könne. Trotzdem habe sie - ein Jahr danach - noch immer den Eindruck, dass man diese schreckliche Katastrophe hätte verhindern können und müssen. "Die Flut konnte man nicht aufhalten. Aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass diese vielen Todesopfer nicht hätten sein müssen", sagt sie.  

Ältere Menschen sterben an gebrochenem Herzen

Ruppert ist auch für den Beerdigungsdienst in ihrer Pfarrei zuständig. Angehörige erzählen ihr oft, dass gerade ältere Menschen an einem gebrochenen Herzen sterben, weil sie durch die Flut heimatlos geworden sind. Das schmerze sie auch als Seelsorgerin. Manches werde eben nicht mehr gut, erklärt sie nachdenklich. Betroffene zu vertrösten, helfe da auch nicht weiter. "Mich prägt mein Glaube an die Gewissheit, dass das hier auf Erden nicht alles ist, dass es nach dem Tod weitergeht", betont sie. "Ich glaube an die Auferstehung, an ein neues Leben in Gemeinschaft mit Gott, so wie es uns durch Christus zugesagt ist", so Ruppert. "Ohne den Glauben, dass Gott da ist, bei allen und in jedem Menschen, bräuchte ich nicht zu den Menschen gehen als Seelsorgerin und für sie da sein. Auch wenn sonst nichts mehr trägt, bin ich überzeugt, dass ich nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand." Letztlich glaube sie fest daran, dass bei Gott alles gut wird, so die Seelsorgerin. "Da wird es kein Leid, keine Tränen und keinen Tod mehr geben." Diese Hoffnung präge sie und ihr Leben. Das sei keine Vertröstung aufs Jenseits, sondern ein echter Trost, zu wissen, dass alles Leid, alles Dunkel einmal aufhört. "Ich glaube daran, dass wir uns alle einmal wiedersehen." 

Immer wieder, wenn sie in diesen Tagen durch das Ahrtal fährt, spürt sie den Schrecken dieser dunklen Nacht wieder wie vor einem Jahr. "Es ist ein unendlicher Schmerz, wenn man an die Menschen denkt, die jetzt nicht mehr bei uns sind. Aber jeder einzelne Mensch ist bei Gott geborgen, in seiner Liebe und in seinem Licht", ist sich Ruppert sicher.   

Von Madeleine Spendier