Ordensfrau arbeitet seit 40 Jahren in Papua-Neuguinea

Schwester Lorenas Kampf gegen Hexenwahn: Uraltes menschliches Phänomen

Veröffentlicht am 10.08.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Seit über 40 Jahren arbeitet die Schweizer Ordensfrau Lorena Jenal in Papua-Neuguinea. Dort widmet sie sich dem Kampf gegen Hexenwahn. Im Interview erzählt die 72-Jährige, wann sie wegen ihres Engagements zuletzt ein Messer am Hals hatte.

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Seit 2015 konnte Schwester Lorena Jenal von der Gemeinschaft der Baldegger Schwestern im Kanton Luzern bereits 193 Frauen retten. Vor zwei Jahren legte das Hilfswerk missio Aachen den UN in Genf dazu einen Menschenrechtsbericht vor. Am vergangenen Mittwoch informierten Jenal und missio im Vatikan den Papst über den Internationalen Tag gegen Hexenwahn am 10. August. Im Interview erzählt die Ordensfrau, wie ein synodaler Weg beim Umgang mit Polygamie half. 

Frage: Schwester Lorena, Sie haben den Papst kurz getroffen. Was haben Sie ihm gesagt?

Schwester Lorena: Ich habe ihm gesagt, dass wir am 10. August zum dritten Mal den Welttag gegen Hexenwahn begehen. Dass es unser Anliegen ist, diesen Wahnsinn zu beenden und den Frauen zu ihren Menschenrechten zu verhelfen.

Frage: Was hat Franziskus gesagt?

Schwester Lorena: Er hat anerkennend den Daumen gehoben, unser Plakat unterschrieben und gesegnet. Das Bild zeigt Christina, eine Frau, die vor zehn Jahren Opfer des Hexenwahns wurde, die wir aber retten konnten.

Frage: Weswegen werden Frauen und andere der Hexerei beschuldigt? Was meinen die Ankläger damit?

Schwester Lorena: Es ist das uralte menschliche Phänomen: Wir brauchen einen Sündenbock.

Frage: Wie kommt man auf die Sündenböcke, wofür sollen die büßen?

Schwester Lorena: Es sind Menschen, die irgendwie aus der Reihe tanzen. Bei den Frauen, die wir retten konnten, handelte es sich ausnahmslos um ganz starke Frauen. Sie wissen, was sie wollen, können noch in schwierigsten Situationen einen Ausweg finden – mit der Familie, dem Mann, den Gärten ... Und weil wir es mit einer sehr patriarchalischen Gesellschaft zu tun haben, werden sie mitunter zu stark – obschon sie Stütze der Familie sind.

Frage: Was wird diesen Frauen vorgeworfen?

Schwester Lorena: Oft sind es plötzliche Todesfälle. Einmal war es eine Frau, die eine Schwangerschaftspsychose entwickelte. Sie hat einen gesunden Jungen entbunden, die Ärztin hat sie behandelt. Trotzdem wurde sie gefoltert. Ich habe mir dann von der Gynäkologin den Bericht geben lassen und das den Menschen im Dorf erklärt. Heute lebt die Familie glücklich im Dorf. Jeder Fall ist anders.

Bei der Generalaudienz am 3. August 2022 segnete Papst Franziskus die Arbeit von Schwester Lorena Jenal
Bild: ©Vatican Media/Simone Risoluti

Bei der Generalaudienz am vergangenen Mittwoch segnete Papst Franziskus die Arbeit von Schwester Lorena Jenal – und unterschrieb das Plakat von missio Aachen. Begleitet wurde die Ordensfrau von missio-Vizepräsident Gregor von Fürstenberg (rechts) und Jörg Nowak (links).

Frage: Wer bringt die Anklage vor? Wer fällt das Urteil?

Schwester Lorena: Die Dorfgemeinschaft. Eine Frau wird angeklagt; es kommen ein paar hundert Leute, mitunter auch Polizisten. Dann wird die Frau angebunden und entkleidet. Um ihr Geständnis als Hexe zu erhalten, wird sie gefoltert; man beginnt immer mit den Brüsten. Starke Frauen sagen Nein. Andere ziehen andere mit hinein. Zum Hintergrund muss man wissen: Die Menschen dort wurden in den gut 40 Jahren, die ich jetzt dort bin, von der Steinzeit in die digitale Welt katapultiert. Innerhalb von zwei Generationen von der Steinaxt zum Smartphone. Plus Alkohol und Waffen, aber zu wenig Investitionen in Bildung.

Frage: Wer spricht das Urteil?

Schwester Lorena: Jene, die quälen – oft unter Alkohol. Das Urteil ist schon gefällt.

Frage: Wie können Sie da noch einschreiten?

Schwester Lorena: Im November konnten wir sieben Frauen retten – die jeweils drei bis fünf Kinder haben und einen Mann. Mit meinen Mitarbeitern ging ich hin und sagte: Ich habe keinen Mann, keine Kinder, ihr könnt mit mir anfangen. Da sagten sie: "Nein, das geht nicht."

Frage: Warum?

Schwester Lorena: Die allermeisten kennen mich; wissen auch, was meine Mitarbeiterinnen und ich für sie schon getan haben. Ich sagte ihnen: Ihr alle seid von einer Frau geboren worden. Ihr alle wärt nicht hier, wenn nicht eure Mutter euch neun Monate in ihrem Schoß getragen und unter Schmerzen geboren hätte. Und jetzt fügt ihr diesen Frauen Schmerzen zu – das ist Wahnsinn. Das war sehr dramatisch – danach habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen. Aber den sieben Frauen und mir ist nichts passiert. So etwas spricht sich herum und kann in den Köpfen etwas verändern.

Frage: In Kanada hat der Papst um Vergebung gebeten, weil frühere Missionare kulturell-religiöse Traditionen von Indigenen nicht achteten. Wie unterscheiden Sie zwischen diesen und Menschenrechtsverletzungen?

Schwester Lorena: Ich vertrete nicht die Meinung, dass Leute besser werden, wenn sie getauft sind. Das ist die freie Entscheidung jedes Menschen. Ich habe ihre Sprache gelernt, versuche, Sitten und Gebräuche, die den Menschen hier wichtig sind, zu verstehen. Ich hatte das große Glück, mit Familien leben zu dürfen, Männer zu treffen, die großartige Häuptlinge ihrer Stämme waren.

Die Weltkarte Hexenwahn 2022 in der Presseversion von missio
Bild: ©missio Aachen

Die "Weltkarte Hexenwahn 2022" des Hilfswerks missio Aachen zeigt Länder, aus denen valide Informationen über Gewalt in Zusammenhang mit dem Vorwurf der Hexerei vorliegen. Derzeit betrifft das 43 Länder – darunter auch Papua-Neuguinea.

Frage: Wie gehen Sie mit Polygamie um?

Schwester Lorena: Ein Häuptling kam auf mich zu, richtete seinen Zeigefinger auf mich und sagte: "Ihr Schwestern müsst doch gehorchen. Also beauftrage ich dich, mich auf die Taufe vorzubereiten."

Frage: Haben Sie gehorcht?

Schwester Lorena: Sieben Jahre lang hat das Katechumenat gedauert – mit diesem Mann, der acht Frauen hatte, 25 bis 30 Söhne, die Töchter hat er nie gezählt. Einmal fragte ich ihn: Warum willst du unbedingt Christ werden? Da nahm er ein Kruzifix von der Wand, setzte sich auf den Boden und hielt es im Arm wie eine Mutter ihr Kind. Dann sagte er: "Lorena, hör mir zu: Der hier, der am Kreuz gestorben ist, hat alle Opfer, was früher geschah, was wir gemacht haben, was heute passiert und noch geschieht, in sein Liebesopfer hineingenommen." Der Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, hat das, was im Hebräerbrief kompliziert formuliert ist, viel einfacher ausgedrückt.

Frage: Und dann?

Schwester Lorena: Ich habe unserem Kapuzinerpater gesagt: Wir taufen Häuptling Sia. "Du bist verrückt", sagte der, "wir können keinen Mann mit acht Frauen taufen." Da habe ich ihm gesagt: Ich darf nur vorbereiten, nicht taufen. Das müsst ihr klären, von Mann zu Mann.

Frage: Und ...?

Schwester Lorena: Das Problem haben wir nicht mit Kirchenvertretern gelöst, sondern mit der Dorfgemeinschaft in einem synodalen Weg, um miteinander und füreinander einen Weg zu finden. Die Frauen haben gemeinsam mit dem Mann entschieden, welche von ihnen sich für den Rest des Lebens verbindet. Für die anderen Frauen hat er weiterhin gesorgt, aber die lebten dann für sich oder mit ihren Söhnen. Geheiratet hat er die jüngste, aber das war deren Entscheidung. Und so hatten wir eine Familientaufe – auch seine Frauen, Kinder und Enkel. Seine jüngste Tochter arbeitet mit in unserem Seelsorgezentrum. Dieser synodale Weg des Miteinander und Füreinander ist auch der ideale Weg zur Bekämpfung des Hexenwahns.

Frage: Ist denn nach dem Vorfall eines Hexenprozesses ein solches Gespräch noch möglich?

Schwester Lorena: Das muss man immer suchen, aber vorsichtig sein. Die Gemüter müssen sich erst beruhigen. So wartet man ein oder zwei Wochen, arbeitet dann sehr intensiv und muss immer wieder zurückkehren und schauen, ob es allen gut geht.

Frage: Sie sind mehrfach bedroht worden. Haben Sie je daran gedacht, in Ihre Schweizer Heimat zurückzukehren, weil es dort sicherer und schöner ist?

Schwester Lorena: Das letzte Mal hatte ich im April ein Messer am Hals. Da war mir klar: Ich muss erst einmal fort, Abstand und innere Balance gewinnen. Zum Auftanken komme ich sicher immer wieder nach Europa – aber nicht, um zu bleiben. Nach den vielen Jahren in eine so organisierte Schweiz zurückzukommen, wo es auf die Minute ankommt, es für alles Regelungen gibt. Da wäre ich überfordert (lacht), und die anderen mit mir.

Von Roland Juchem (KNA)