Die Wahrheit hinter dem biblischen Lasterort

Sodoms sündiges Geheimnis

Veröffentlicht am 25.09.2022 um 12:18 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ "Sodom und Gomorra" – auch im säkularisierten und so gar nicht bibelfesten Europa der Gegenwart löst die Nennung dieses Städtepaars bei vielen Menschen sehr spezielle Assoziationen aus. Ging es da nicht um irgendetwas Verruchtes, Verbotenes, ja Perverses?

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Der von der Sündenstadt abgeleitete Begriff "Sodomie" trägt in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen: Während er im englischsprachigen Raum bis heute als abwertender Begriff für Analverkehr fungiert, bezieht sich der Ausdruck im Deutschen umgangssprachlich auf sexuelle Handlungen an Tieren. Vor allem aber dient die berühmte Bibelgeschichte als (anti-)religiöse Projektionsfläche zum Thema Homosexualität und regt die Fantasie der Menschen an: So übersteigt die Anzahl nicht-wissenschaftlicher Internetseiten zu Sodom und Gomorras die akademischer Arbeiten dazu bei Weitem, wie die Alttestamentlerin Susanne Scholz in einer Untersuchung feststellte. Egal ob Verurteilung, Rechtfertigung oder Kommerzialisierung – für jeden Geschmack scheint die Fülle der themenbezogenen Internetseiten etwas bereitzuhalten. Nur: Hat das alles noch irgendetwas mit dem biblischen Sodom und Gomorra zu tun?

Die vergebliche Lokalisierung der Sünde

Wer sich auf die archäologische Suche nach den zwei Städten begibt, wird gleich doppelt enttäuscht. Gomorra wird immer nur zusammen mit Sodom genannt und entbehrt damit eigener Ortsangaben. Sodom hingegen wird zwar auch einzeln erwähnt, doch auch hier ist eine verlässliche Lokalisierung nicht möglich. Der Grund liegt in einem literarischen Kunstgriff der Hebräischen Bibel: Bereits die alttestamentlichen Texte gehen davon aus, dass die Sündenstadt nicht mehr existiert. Was es nicht (mehr) gibt, bleibt unauffindbar. Aber wozu dann die grobe Verortung an der Süd- bzw. Ostgrenze Kanaans (vgl. Gen 10,19)?

Im ersten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung konnten die Menschen in der unwirklichen Landschaft des lebensfeindlichen Toten Meeres noch Überreste aufgegebener Siedlungen aus der Frühbronzezeit (etwa 3300-2400 v.Chr.) bestaunen. Als Erklärung dafür entwickelte sich wahrscheinlich zunächst eine Überlieferung über den Sonnengott: Als traditioneller Hüter der Gerechtigkeit habe er hier ein exemplarisches Strafgericht an einer Gruppe von sündigen Städten durchgeführt und die Erde umgestülpt. Der beispielhafte Charakter spiegelt sich auch in den Namensbedeutungen von Sodom ("Feld, umzäunte Fläche") und Gomorra ("Überschwemmung") wider. Je tiefer auf dem Grund des Toten Meeres man also die Lage von Sodom annimmt, desto mehr folge man der Intention der alten Tradition, erklärt der Alttestamentler Ernst Axel Knauf.

Bild: ©picture alliance / AA / Ali Balikci

Die unwirkliche Landschaft des Toten Meeres – wie hier in Jordanien – zog die Menschen schon immer in ihren Bann.

Spannender als die sinnlose Suche nach dem historischen Sodom ist daher eine ganz andere Frageperspektive: Wenn die Hebräische Bibel bereits eine Tradition der sündigen Stadt schlechthin vorlag, als was identifiziert sie deren paradigmatische Verfehlung? Auflehnung gegen den König oder gar Glaubensabfall? Das Alte Testament geht hier einen anderen Weg. So heißt es beim Propheten Ezechiel: "Siehe, dies war die Schuld deiner Schwester Sodom: In Hochmut, Überfluss an Brot und in sorgloser Ruhe lebte sie mit ihren Töchtern, ohne die Hand des Elenden und Armen zu stärken." (Ez 16,49) Selbstkritisch wird dieses Sodom in der weiteren prophetischen Tradition gar mit Jerusalem gleichgesetzt (vgl. Jes 3,9 oder Jer 23,14).

Aber Hand aufs Herz: Wer verbindet Sodom schon mit den Propheten? Die meisten Menschen kennen – wenn auch vage – nur die Geschichte der radikalen Vernichtung durch Gott im Buch Genesis. Erst im sechsten vorchristlichen Jahrhundert wird die Erzeltern-Erzählung um Abraham und seine Familie erweitert. Abrahams Neffe (und zunächst potenzieller Erbe) Lot wählt gierig als Siedlungsgebiet die vermeintlich fruchtbarere Jordangegend für sich aus, während der Patriarch in das übriggebliebene Kanaan zieht (vgl. Gen 13). So verbindet sich die jüngere Lot-Erzählung mit der älteren Sodom-Tradition und Abrahams Neffe wird Bewohner der Sündenstadt. Bis heute wird das Tote Meer im Arabischen auch als "Meer(-chen) Lots" bezeichnet.

Eingewoben in ein dichtes Netz tradierter Erinnerungen

Dass ein Strafgericht über Sodom hereinbrechen wird, erfahren die Leser bereits im Kapitel zuvor bei Gottes Besuch bei Abraham und Sara. "Der HERR sprach: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja das ist angeschwollen und ihre Sünde, ja, die ist schwer. Ich will hinabsteigen und sehen, ob ihr verderbliches Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist, oder nicht. Ich will es wissen." (Gen 18,20f) Die Formulierung eines zu Gott aufsteigenden Klagegeschreis erinnert an die ältere Exodustradition: Hier hört Gott die laute Klage der versklavten Israeliten in Ägypten (vgl. Ex 3,7). Eine deutliche Verbindung zur sozialkritischen Sodom-Tradition der Propheten. Wer hier jedoch zu Gott schreit, wird nicht verraten. Vielleicht sind es Lot und seine Familie.

Genau wie sein Onkel erweist sich Lot gegenüber den Gottesboten zunächst als vorbildlicher Gastgeber. Anders als Abraham aber ist Lot kein Land-, sondern Stadtbewohner – und die Einwohner Sodoms umstellen bald das Haus: "Wo sind die Männer, die heute Nacht zu dir gekommen sind? Bring sie zu uns heraus, wir wollen mit ihnen verkehren." (Gen 19,5) Das hier verwendete hebräische Verb kann Geschlechtsverkehr bedeuten und so scheint es Lot auch zu verstehen, denn er bietet seine zwei Töchter als Sexualobjekte an. Damit handelt er ähnlich wie im Buch der Richter ein namenloser Levit, der bei einem Hausbesitzer in Gibea zu Gast ist. Auch hier fordert der Mob: "Bring den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist, damit wir ihn erkennen!" (Ri 19,22) Der bedrängte Levit bringt daraufhin seine Nebenfrau hinaus, die zu Tode vergewaltigt wird – was scharf verurteilt und im folgenden Kapitel bestraft wird.

Symbolbild häusliche Gewalt
Bild: ©Thomas – stock.adobe.com

Manche Gewaltdarstellungen in der Bibel sind nur schwer zu ertragen.

Im Gegensatz zur Meute in Gibea nimmt die Rotte in Sodom das "Angebot" nicht an. Sind die Männer in Sodom etwa "schwuler" als in Gibea, wie es in allzu vielen Predigten heißt? Tatsächlich geht es in keiner der beiden Städte um die Frauen, sondern die größtmögliche Demütigung der fremden Männer. Bis heute werden Vergewaltigungen in gewaltsamen Konflikten als Kriegswaffe eingesetzt. Der Mob von Gibea missbraucht die Nebenfrau des fremden Leviten, um im patriarchalen Verständnis den Leviten selbst zu treffen. Die Töchter Lots in Sodom hingegen haben keine Verbindung zu den fremden Gästen – und sind deshalb für den Mob nicht von Interesse.

Ein wichtiges Schlüsselwort findet sich in der aggressiven Reaktion der Meute auf Lots Vorschlag: "Kommt da so einer daher, ein Fremder, und will sich als Richter aufspielen! Nun wollen wir dir Böseres antun, noch mehr als ihnen." (Gen 19,9) Abraham und Lot leben beide als explizit "Fremde" im Land und kaum ein Gut wird in der Hebräischen Bibel so hochgehalten wie deren Schutz: "[Gott] liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen." (Dtn 10,19) Die Sodomiter aber verachten den zugezogenen Lot – und hassen seine fremden Gäste. Ihr Ziel ist nicht weniger als der Bruch der heiligen Gastfreundschaft. Nur mit himmlischer Hilfe gelingt Lot und seinen Töchtern die Flucht.

Eine neue Lesart macht Karriere

Erst Jahrhunderte später rückte in Auseinandersetzung mit der hellenistisch-römischen Kultur das sexuelle Element stärker in den Mittelpunkt, erklärt der Alttestamentler Thomas Hieke. So zählte der jüdische Religionsgelehrte Philon von Alexandria (gest. 40 n.Chr.) den gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr und die "Verweiblichung" zu den Lastern der Sodomiter. Sein Zeitgenosse, der jüdische Historiker Flavius Josephus (gest. um 100), attestierte den Sodomitern "widernatürlichen" Verkehr und rückt sie klar in die Nähe der hellenistisch-römischen Institution der Päderastie: "Als nun die Sodomiter sahen, dass so schöne Jünglinge bei Lot einkehrten, wollten sie ihnen sogleich Schande und Gewalt antun." In der christlichen Tradition setzt sich diese Lesart erst mit Augustinus (gest. 430) durch. Die dramatischen Folgen dieser Rezeption in der Debatte um Homosexualität aber sind eine andere Geschichte.

Von Valerie Mitwali