Referentin: In Kirche soll man angstfrei über Sexualität reden können
Seit 1. Juni ist Ann-Kathrin Kahle Referentin für sexuelle Bildung im Bistum Münster. Außer ihr kümmert sich in Deutschland bislang nur im Bistum Trier eine Mitarbeiterin diözesanweit um dieses Themenfeld. Mit der Errichtung der Stelle reagiert das Bistum Münster auch auf die Erkenntnisse aus den bisherigen Studien zum kirchlichen Umgang mit sexueller Gewalt. Im Interview erläutert die Theologin und Sexualpädagogin, was sexuelle Bildung bedeutet und was sie gerade im katholischen Kontext bewirken soll: im Rahmen der Kirche das selbstbestimmte Leben der eigenen Sexualität sowie das offene Sprechen darüber besser zu ermöglichen.
Frage: Frau Kahle, das Thema sexuelle Bildung als eigenes Arbeitsfeld ist ein ziemliches Novum innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland. Warum ist Ihre Stelle wichtig?
Kahle: Zunächst wegen der Erkenntnisse aus den Untersuchungen zum Thema sexualisierte Gewalt in der Kirche. Nicht nur die MHG-Studie vor einigen Jahren hat es herausgearbeitet – auch die Nachfolgestudien in den Bistümern bestätigen, dass das Fehlen von sexueller Bildung ein systemimmanenter Grund für das Entstehen sexualisierter Gewalt ist, einhergehend mit einer rigiden Sexualmoral, aus der sich ein Klima von Angst, Sprachlosigkeit und Verschweigen entwickelt. Das ist Nährboden für missbräuchliches Tun. Das wurde eindeutig so gekennzeichnet – das ist also der erste und naheliegendste Grund.
Frage: Und der zweite?
Kahle: Ich finde das nicht nur als Präventionsthema relevant. Ich glaube, Sexualität ist ein Lebensthema, ein zentraler Baustein der Identität von Menschen. Dadurch gehört das Thema in die Seelsorge und in die Pädagogik. Und zwar vor allen Dingen deswegen, weil wir als sexuelle Wesen auf die Welt kommen, aber die Art und Weise, wie wir sexuell sind, wie wir das dann leben, etwas ist, was wir im Laufe der Zeit erst erlernen. Da geht es dann auch um eine Sexualkultur, die entwickelt werden sollte.
Frage: Der Begriff sexuelle Bildung löst unter Umständen diffuse Assoziationen aus. Was meint er genau?
Kahle: Ich würde es mal versuchen, in Abgrenzung von Sexualpädagogik zu definieren. Sexualpädagogik ist eine Form von Bildung, die sich vor allem an Kinder und Jugendliche richtet, wo im weitesten Sinne Aufklärungsprozesse stattfinden, allerdings von einem sehr weiten Sexualitätsbegriff ausgehend – also als etwas, was den ganzen Menschen betrifft. Vor einigen Jahren ist dann vorgeschlagen worden, lieber den Begriff sexuelle Bildung zu nutzen. Das ist etwas, was alle Lebensalter betrifft. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass sexuelle Entwicklung nicht aufhört, wenn man volljährig ist, und weitere Bildungsprozesse diese Entwicklung begleiten sollten. Gleichzeitig steckt ein etwas anderes Verständnis von denen, die gebildet werden sollen, dahinter: dass sie sich diese Bildung, die ihnen angeboten wird, selbst aneignen; dass sie also sehr gut selbst entscheiden können, was sie mit diesen Bildungsangeboten machen. Von den Themen her ist das sehr weit aufgestellt. Da gibt es auch Berührungspunkte zu Gender- und Diversitäts-Themen.
Frage: Wie wird dann Ihr Arbeitsfeld aussehen?
Kahle: Für mich geht es zunächst darum, das Feld zu sondieren, also nochmal genauer zu schauen, was es schon gibt oder wer sich schon um Teilaspekte der Thematik kümmert. Ich will auch die Adressatinnen und Adressaten des Angebots mit ins Boot holen, um herauszufinden, was in der Pastoral an Themen gebraucht oder gewünscht wird. Meine vorrangige Zielgruppe sind zunächst diejenigen, die hauptberuflich in der Seelsorge arbeiten. Perspektivisch geht es dann auch um ein Konzept sexueller Bildung. Eine Frage wird grundsätzlich immer wichtiger: Wie kann in kirchlichen Einrichtungen eine Sexualkultur entwickelt werden, die sich an christlichen Werten orientiert, die anti-diskriminierend ist, die genug Schutz bietet und gleichzeitig Kompetenzen fördert? Wenn es uns gelingen würde, eine Art Sexualkultur zu entwickeln oder erste Schritte in dem Bereich zu machen, wäre das sehr gut.
Frage: Sie haben es schon angedeutet: Wie groß ist der Nachholbedarf bei dem Thema in der Kirche?
Kahle: Der Nachholbedarf ist riesengroß. Schon seit vielen Jahren wurde kirchlicherseits nichts veröffentlicht, es ist quasi nichts geschehen in diesem Bereich. Die Kirche schweigt seit langem zu diesem Thema. Es gibt einzelne Stellen, an denen sehr qualifiziert sexualpädagogisch gearbeitet wird, aber nichts Übergreifendes oder Systematisches. Im Bereich der Jugendverbände hat es etwa immer schon sexualpädagogische Angebote oder Projekte gegeben. Aber vieles läuft unterhalb des Radars.
Frage: Ein Grund für den großen Nachholbedarf dürfte sein, dass in dieser Thematik in der Kirche viel Konfliktpotenzial liegt …
Kahle: Das ist sicher so. Ich glaube, man hat sich einfach nicht rangetraut. Die Schere zwischen dem, was im Katechismus zum Thema Sexualität steht, und dem, was die Menschen stattdessen leben, ist riesengroß. Das wissen alle. Es gab einfach keine Idee, wie diese Diskrepanz überwunden werden könnte. Und dennoch muss sie überwunden werden.
Frage: Eines Ihrer Ziele ist es, einen offeneren Diskurs in der Kirche über Sexualität zu ermöglichen. Wie erreicht man das, wenn gerade das Reden über Sexualität in der Kirche noch sehr schambehaftet ist?
Kahle: Scham ist ja zunächst einmal nichts Schlechtes. Schwierig wird es, wenn ich die Scham wählen muss, wenn ich also gar keine Möglichkeit habe, zu reden, weil es ein großes Reglement an Verboten gibt, weil die Sorge, dass etwas passiert, zu groß ist, oder weil ich der Institution überhaupt nicht mehr zutraue, dass es einen für mich gewinnbringenden Raum der Reflexion gibt. Es wird sicher ein langer Weg sein, da wieder Vertrauen zu gewinnen oder sich als kompetente Institution für das Thema darzustellen.
Wenn es privat wird, ist es immer noch für viele Menschen – auch außerhalb von Kirche – kein einfaches Thema. Es ist auch gut, dass es ein besonderes Thema ist, es ist gut, dass Intimität geschützt wird. Es ist aber auch gut, reden zu können, wenn man reden möchte, weil es Räume gibt, wo ich mich im geschützten Rahmen über Sexuelles austauschen kann. Das muss man eben anfangen. Da helfen wirklich nur gute Erfahrungen. Das muss im Kleinen und Konkreten beginnen.
„Die Schere zwischen dem, was im Katechismus zum Thema Sexualität steht, und dem, was die Menschen stattdessen leben, ist riesengroß. Das wissen alle. Es gab einfach keine Idee, wie diese Diskrepanz überwunden werden könnte.“
Frage: Rechnen Sie bei Ihrer Arbeit mit Widerständen? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es manche Gläubige oder Seelsorger gibt, die sagen: Prävention ist schön und gut, aber manches geht zu weit.
Kahle: Ich rechne ganz fest damit, dass das passiert. Es gibt im Moment unterschiedliche Strömungen in unserer Kirche. Da, wo es Gesprächsbereitschaft gibt, möchte ich immer versuchen, den Dialog zu finden und zu verstehen, was die Menschen befürchten. Ich glaube, es gibt noch immer eine große Angst vor der Dynamik, die in der Sexualität steckt. Daraus speist sich dann oft die Haltung, dass es gut und richtig ist, sie zu reglementieren. Aber ich habe durchaus die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, solche Ängste zu nehmen und deutlich zu machen, dass es gar nicht darum geht, alle Tabus zu brechen. Es geht vor allem darum, dass Menschen selbstbestimmt ihre Sexualität leben können – und sie darin zu unterstützen.
Frage: Gibt es bei dem Dialog mit Kritikern auch Grenzen für Sie?
Kahle: Wir müssen uns darauf einigen können, dass die Sprache in jedem Fall nicht diskriminierend sein darf. Wenn mir etwa Menschen sagen, dass Homosexualität Sünde ist, ist auf jeden Fall eine Grenze überschritten. Aber erst einmal bin ich sehr froh über alle kritischen Stimmen, die sich der Auseinandersetzung stellen.
Frage: Sie sagen, dass Sie im Rahmen der Kirche das selbstbestimmte Leben der eigenen Sexualität besser ermöglichen wollen. Es klang schon an, dass Ihnen dabei der Katechismus in seiner aktuellen Fassung – salopp gesagt – im Weg steht. Wie gehen Sie damit um?
Kahle: Dass da der Katechismus im Weg steht, ist richtig. Da sind sich unterdessen aber auch fast alle – auch die, die das auf dem Synodalen Weg diskutieren – einig, dass das in dieser Normierung und dieser Absolutheit nicht funktioniert. Das ist nicht hilfreich für die Menschen. Da braucht es ganz dringend Reformen. Ich bin überzeugt: Das selbstbestimmte Leben der Sexualität geht auch christlich verantwortet.
Frage: Eine neue Sexualkultur in der Kirche zu schaffen, ist sicher kein leichtes Unterfangen. Was glauben Sie: Wie viel können Sie dabei mit Ihrer Arbeit ausrichten?
Kahle: Für mich wäre es ein Erfolg, wenn ich dazu beitragen kann, dass der Sprachraum in der Kirche ein angstfreierer würde. Ich möchte mithelfen, dass sich Menschen wirklich über das Thema Sexualität austauschen können – und das im katholischen Kontext.