SPD-Politiker und Katholik Thierse verlässt den Bundestag

"Kurios und kostbar"

Veröffentlicht am 12.07.2013 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Wolfgang Thierse vor der Basilika Santa Maria in Trastevere in Rom.
Bild: © KNA
Politik

Berlin ‐ Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse scheidet zum Ende der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus. Im Interview der spricht der SPD-Politiker und Katholik über Erfolge und Enttäuschungen in der Politik und darüber, dass ihn noch heute viele Menschen für einen evangelischen Pastor halten.

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Frage: Herr Thierse, Sie haben in der Endphase der DDR in der SPD Ihre politische Heimat gefunden. Dort sind Sie auch zu einem katholischen Aushängeschild geworden. Eine ungewöhnliche Kombination...

Wolfgang Thierse: In der Tat bin ich eine kurios kostbare Mischung: Ostdeutscher, Sozialdemokrat und Katholik. Noch heute, nach 24 Jahren öffentlichen Lebens, gibt es viele Menschen, die mich schlicht für einen evangelischen Pastor halten. Wenn ich dann sage, dass ich kein Pastor bin und auch nicht evangelisch, sondern katholisch, ist mein Gegenüber meist erstaunt oder sogar entsetzt. Ich sage dann immer: Ich bin die Ausnahme von der Regel und widerlege ein allgemeines Vorurteil.

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Horst Köhler, Edmund Stoiber, Wolfgang Thierse, Angela Merkel und der thüringische Ministerpräsident Dieter Althaus erweisen Papst Johannes Paul II. am 7. April 2005 im Petersdom die letzte Ehre.

Frage: War Ihnen das bei Ihrem Eintritt bewusst?

Thierse: Nein. Natürlich wusste ich, dass im Westen Deutschlands über Jahrzehnte hin katholische Kirche und CDU einander viel näher waren als katholische Kirche und SPD. Das hat sich im Laufe der 70er Jahre zwar erheblich verändert, trotzdem wirkt das alte Vorurteil noch nach.

Frage: Inzwischen gibt es viele Abgeordnete, die anderen Religionen als dem Christentum angehören oder keiner Religion zugehörig fühlen. Wie wirkt sich das bei der Gesetzgebung aus?

Thierse: Es gibt zunehmend Debatten, die sich mit den Grundfragen nach der Religionsfreiheit in diesem Land und nach der Stellung der Religionen in der Gesellschaft beschäftigen. Das hat zuletzt die Debatte um die Beschneidung gezeigt. Es ging um ein Thema, das das Judentum und den Islam berührt, aber indirekt natürlich auch die christlichen Konfessionen. Wer soll, wer darf bestimmen, was zum Kern der Identität einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft gehört? Es ist meine Überzeugung, dass der Staat nicht mit den Mitteln des Strafrechts Änderungen innerhalb der Religionsgemeinschaften erzwingen darf - wenngleich sich die Religionsgemeinschaften natürlich der internen wie der öffentlichen Diskussion aussetzen müssen.

Frage: Gerade die Beschneidungsdebatte hat auch gezeigt, wie fremd vielen Religionsfragen geworden sind. Hat Sie das verwundert?

Thierse: Das ist jedenfalls eine etwas unangenehme Überraschung. Die Debatten haben aber auch gezeigt, wie notwendig es ist, dass die Religionsgemeinschaften ihre Identität anderen, die nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören, verständlich machen. Sie können nicht damit rechnen, dass das gewissermaßen wie von selbst passiert. Zugleich wurde auch noch einmal deutlich, dass in Deutschland ein diffuser Alltagslaizismus vorhanden ist. Auch in der SPD gibt es die Laizisten, die einen Gesprächskreis gebildet haben. Dieser Alltagslaizismus ist nicht so kämpferisch, dass man den Religionen ihr Existenzrecht bestreitet. Es wird aber zunehmend nicht mehr als selbstverständlich hingenommen, wenn sich Kirchen oder andere Religionen zu gesellschaftlichen Fragen äußern. Immer öfter höre ich dann etwa Fragen wie, warum wollen die Kirchen mitreden, wenn es darum geht, ob es verkaufsoffene Sonntage geben soll oder ob an Schulen Religionsunterricht erteilt werden soll.

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Bundestagspräsidenz Wolfgang Thierse traf Papst Benedikt XVI. im Rahmen des XX. Weltjugendtags 2005 in Köln.

Frage: Wie wird sich Ihrer Ansicht nach das Verhältnis von Staat und Religionen langfristig verändern?

Thierse: Ich bin kein Prophet. Aber wir erleben ja schon jetzt, dass bestimmte Selbstverständlichkeiten so nicht weiter laufen können. Bisher war das Verhältnis von Staat und Kirche dadurch einfach, weil die Kirchen Körperschaften öffentlichen Rechts sind und darum Vertragspartner sein konnten. Jetzt fordern zu Recht auch Angehörige anderer Religionen wie die Muslime staatliche Anerkennung, verbunden mit Rechten und Pflichten. Das bedeutet, dass wir das derzeitige Regelungswerk erweitern müssen. In einigen Bundesländern erleben wir diese Veränderungen ja schon. Dort werden mit der islamischen Gemeinschaft Verträge geschlossen etwa zur Ausbildung von Theologen oder zum Religionsunterricht. Diese Prozesse können die Integration enorm befördern.

Frage: Noch einmal zurück zu den Kirchen: Hätten Sie sich von diesen in den vergangenen Jahren mehr Einmischung in politische Debatten gewünscht?

Thierse: Ich erwarte von den Kirchen, dass sie auf eine viel leidenschaftlichere Weise der immer brutaleren Durchökonomisierung unseres Lebens widersprechen. Wenn sie nicht widersprechen und sagen, dass der Wert des Menschen sich nicht allein nach seiner Leistungsfähigkeit, seiner Arbeitskraft, seinem Geldbeutel bemisst, dann machen sie sich überflüssig. Ich wünsche mir diese Einsprüche lauter, energischer, treffsicherer - etwa bei der Vorstellung eines Armuts- und Reichtumsberichts.

Wolfgang Thierse.
Bild: ©KNA

Wolfgang Thierse.

Frage: Was war Ihr größter politischer Erfolg?

Thierse: Zu den Erfolgen gehören sicher die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz und die Verwirklichung des Holocaust-Mahnmals für die ermordeten Juden Europas, dessen Bauherr ich war.

Frage: Und Ihre größte Enttäuschung?

Thierse: Die erste große Enttäuschung war der Unwillen einer Mehrheit der Westdeutschen und der damaligen Regierung, nach der Wende bereit zu sein, auch das eigene Land zu verändern. Dadurch haben wir sicher acht bis zehn Jahre an Reformzeit verloren. Zu den Enttäuschungen gehören natürlich Wahlniederlagen.

Frage: Sie scheiden nach dieser Legislaturperiode aus dem Bundestag aus und feiern im Herbst Ihren 70. Geburtstag. Was sind Ihre Pläne?

Thierse: Ich habe mir vorgenommen, mich noch nicht festzulegen, sondern erst Ende des Jahres, wenn ich alles übersehe. Ich bin nur der gelassenen Überzeugung, dass ich mich nicht langweilen werde, weil ich mich auch vor der Politik nicht gelangweilt habe.

Das Interview führte Birgit Wilke (KNA)