Kohlgraf: Habe Eindruck, mich als Bischof in Parallelwelten zu bewegen
Vor etwas mehr als einem Jahr erschütterte die verheerende Flutkatastrophe in mehreren Regionen Deutschlands viele Menschen. In dieser Zeit spendete die Notfallseelsorge vielen Menschen Trost und leistete ihnen Hilfe. Im Interview spricht Bischof Peter Kohlgraf, Vorsitzender der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, über die Konsequenzen, die die Bistümer aus dem Großeinsatz gezogen haben.
Frage: Die Bischofskonferenz hat eine überwiegend positive Bilanz nach dem Einsatz der Notfallseelsorge während der Flutkatastrophe des vergangenen Jahres gezogen. Braucht es also erst Notlagen, damit die Kirche gute Seelsorge leistet?
Kohlgraf: Die Kirche ist in der Flutkatastrophe nah an den Menschen gewesen, das stimmt. Aber dabei ging es ihr nicht darum, ein bestimmtes Ziel für ihre eigenen Interessen zu erreichen. Vielmehr will sie stets den Bedrängten beistehen, das ist ihr ureigener Auftrag. Praktische Nächstenliebe, wie auch die Notfallseelsorge, handelt zweckfrei. Sie will nicht instrumentalisieren – auch nicht religiös. Deshalb wäre es falsch, wenn wir etwas Positives darin sehen, dass es den Menschen schlecht ging. Außerdem ist das kein Garant für einen Zuwachs an Glauben. Man sagt: "Not lehrt beten." Aber Not lehrt auch fluchen.
Frage: Aber warum schafft die Kirche es sonst nicht so gut, nahe an den Menschen zu sein?
Kohlgraf: Das gelingt ihr an manchen Stellen immer noch sehr erfolgreich. Man darf Seelsorge an sich nicht kleinreden. Denn in zahlreichen Bereichen ist sie das kirchliche Kernangebot, das bei vielen Menschen zudem positiv besetzt ist. Aber in den klassischen Feldern der Pastoral, also etwa in den Bereichen, die meist als Gemeindeseelsorge wahrgenommen werden, ist diese Nähe oft nicht mehr erfahrbar.
Frage: Sie haben vor einiger Zeit auf eine Spaltung zwischen Bischöfen und Gläubigen hingewiesen. Ist ein stärkerer Fokus auf die Seelsorge ein Weg, diesen Graben zu überbrücken?
Kohlgraf: Diese Äußerung war auf die Erfahrungen beim Synodalen Weg bezogen, besonders auf die Akzeptanz der kirchlichen Morallehre. Da sehe ich seit Jahrzehnten in der Tat eine große Spaltung zwischen den Gläubigen sowie der kirchlichen Lehre und den Bischöfen – jedenfalls einigen. Manchmal denke ich als Bischof, ich bewege mich in Parallelwelten. Denn ich erlebe in meinem Amt viele Dimensionen von Kirche: Gerade bei meinen Besuchen in den Gemeinden nehme ich wahr, dass auf dem Gebiet der Seelsorge eine große Nähe zwischen Bischof und Gläubigen bestehen kann. Das ist auch Alltag.
Frage: Zurück zur Notfallseelsorge: Welche pastoralen Angebote benötigen Menschen nach einer Krise wie der Flutkatastrophe? Was hat die Kirche aus dem Einsatz im vergangenen Jahr gelernt?
Kohlgraf: Zuhören ist sehr wichtig, aber auch konkrete Hilfen, wie etwa offene Kirchen, die zu Orten wurden, an denen man sich zweckfrei treffen, Schutz suchen, miteinander austauschen konnte. Wichtig war dabei, dass die Menschen einen Ort hatten, an dem sie ein paar Augenblicke verbringen konnten, ohne etwas tun zu müssen, um das Elend zu lindern. Wichtig ist aber auch, dass die Kirche mitanpackt. Ich habe selbst Freunde, die von der Flutkatastrophe betroffen waren. Sie brauchten Menschen, die ihnen unter die Arme greifen und den Keller entrümpeln konnten.
Frage: Haben Sie als Bischof bei Ihren Freunden auch tatkräftig mitgeholfen?
Kohlgraf: Beim Aufräumen im Keller mitzuhelfen war mir damals leider nicht möglich. Aber es gab andere Möglichkeiten und Zeitpunkte zum Anpacken – und das habe ich dann natürlich auch gemacht.
Frage: Zu Beginn einer Katastrophe brauchen die betroffenen Menschen andere Hilfen und pastorale Angebote als nach einigen Wochen oder Monaten. Was muss Seelsorge in den unterschiedlichen Zeiträumen nach einem Notfall leisten?
Kohlgraf: Die Notfallseelsorge schreitet in der konkreten Notsituation ein. Das kann sich manchmal über längere Zeit hinziehen, so war es etwa im Ahrtal. Aber Seelsorgekonzepte müssen auch greifen, wenn eine weitere pastorale Begleitung erforderlich ist. Dafür haben wir Seelsorgerinnen und Seelsorger vor Ort, es gibt Beratungsdienste der Caritas oder Lebensberatung. Diese Angebote bleiben bestehen und es ist wichtig, sie gut miteinander zu vernetzen. Seelsorger vor Ort müssen darüber Bescheid wissen, welche Hilfsmöglichkeiten es für Menschen gibt.
Frage: Wie verändern eine Katastrophe und ein Einsatz der Notfallseelsorge die normale pastorale Begleitung vor Ort in einem Krisengebiet?
Kohlgraf: Wir bekommen mit, dass sich die "normalen" Seelsorger in der Notsituation ein hohes Vertrauen bei den Gläubigen erarbeitet und eine neue Nähe zu den Menschen entwickelt haben. Ich hoffe sehr, dass das Bewusstsein dafür bleibt, dass wir in der Not zusammengefunden haben.
Frage: Was hat die Kirche aus dem massiven Einsatz während der Flutkatastrophe für die Zukunft der Notfallseelsorge gelernt? Wie wird sich diese Art der Pastoral weiterentwickeln?
Kohlgraf: Wir werden stärker Ehrenamtliche qualifizieren, was wir zum Teil jetzt schon machen. Wir müssen sie während des Einsatzes begleiten und Hilfsmöglichkeiten sowie Supervision anbieten – im Grunde eine Art von Seelsorge für die Seelsorger. Ich glaube, dass wir Ehrenamtliche für den Dienst in der Notfallseelsorge begeistern können. Es ist ein sehr anspruchsvoller Dienst, aber viele Menschen suchen heute gerade ein Ehrenamt, in das sie sich ganz einbringen können und in dem sie auch für sich etwas lernen. In der Hilfe gegenüber anderen können sie ein Stück weit Zufriedenheit erfahren.
Frage: Wird der Fokus auf Ehrenamtliche gelegt, weil es einen Mangel an Hauptamtlichen gibt?
Kohlgraf: Wir können die Notfallseelsorge nicht ausschließlich mit hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern abdecken. Wenn man hört, wie viele Stunden Seelsorge allein im Ahrtal geleistet wurden, bei einem Dienst der 24 Stunden pro Tag an sieben Wochentagen angeboten wird – so viel Personal kann eine Diözese gar nicht stellen. Wie auch in der Telefonseelsorge braucht es daher in der Notfallseelsorge viele Ehrenamtliche – je mehr, desto besser, denn dann werden die einzelnen Personen nicht überfordert.
Frage: Wie wichtig sind die Ökumene und die Zusammenarbeit mit nicht-kirchlichen Organisationen in der Notfallseelsorge?
Kohlgraf: Für mein Bistum Mainz kann ich sagen, dass bei uns diese Zusammenarbeit seit Jahren völlig problemlos läuft. Denn die Menschen, die in Not sind, fragen nicht nach der Konfession der Seelsorger oder ob die Träger der Angebote christlich sind. Da geht es um menschliche Zuwendung. Und katholisch zu sein, bedeutet weitherzig und offen zu sein. Das ist unser Markenkern, den wir bei einer engen ökumenischen Zusammenarbeit wie in der Notfallseelsorge nicht verlieren, sondern sogar stärken.
Frage: In den unterschiedlichen Bistümern ist die Notfallseelsorge jeweils ein wenig anders organisiert. Wird es in Zukunft Bemühungen geben, hier eine Vereinheitlichung zu schaffen?
Kohlgraf: Eine Vereinheitlichung ist gar nicht nötig. Es braucht zwar eine Vernetzung der Bistümer und evangelischen Landeskirchen in diesen Fragen, aber da gibt es bereits eine gute Zusammenarbeit. Der Einsatz während der Flutkatastrophe hat gezeigt, wie unkompliziert bistums- und landeskirchenübergreifend zum Wohl der betroffenen Menschen gehandelt wurde.